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Medien lieben Zahlen. Ein Report zum Verhältnis von Journalismus und Demoskopie

Gemma Pörzgen

/ 15 Minuten zu lesen

Häufige Meinungsumfragen unter der Bevölkerung sind aus der Politikberichterstattung nicht mehr wegzudenken. Wer den Fernseher einschaltet, Zeitung liest oder sich durch Online-Medien klickt, stößt ständig auf eine aktuelle Umfrage, sei es zur Einschätzung von Spitzenpolitikerinnen und -politikern, zum Ukraine-Konflikt, Waffenlieferungen in den Irak oder anderen drängenden (und nicht so drängenden) Fragen. Im Sog des immer schnelleren Nachrichtenstroms gibt es in den Medien eine Gier danach, die Stimmungen im Land auszuloten und in möglichst genauen Zahlen auszudrücken.

Journalistinnen und Journalisten lieben Zahlen, denn sie vermitteln – vermeintlich – Gewissheit. Der alltägliche Umgang mit solchen Erhebungsdaten legt die Illusion nahe, dass die Redaktionen immer am Puls der Zeit wären und verlässlich erführen, was "die Menschen da draußen" eigentlich denken und wünschen. Alles scheint heutzutage abfragbar und messbar. Entsprechend häufig trifft man, wenn man in Redaktionen nachfragt, auf die feste Gewissheit, die zahlreichen Erhebungen erfreuten sich bei den Zuschauern, Leserinnen und Hörern großer Beliebtheit.

Der Kommunikationswissenschaftler Thomas Zerback ist da skeptischer: "Wenn man Leser dazu befragt, zeigen sie nur ein moderates Interesse." Gleichwohl habe sich die Berichterstattung mit Umfragebezug massiv gesteigert. So hätten die Medien vor der Bundestagswahl 2013 ein Fünftel ihrer Berichte in irgendeiner Form auf Umfragen bezogen. Diese dienten dabei durchaus auch als dramaturgisches Element: "Journalisten nutzen Umfragedaten auch, um den Wahlkampf spannender zu machen."

Medien und Meinungsforschungsinstitute profitieren auf diese Weise gegenseitig von der Zusammenarbeit und spiegeln sich ineinander. Ihnen kommt somit auch gleichermaßen eine Verantwortung zu, was den sensiblen Umgang mit den erhobenen Daten angeht. "Die Qualität in Deutschland unterscheidet sich bei den wichtigsten Meinungsforschungsinstituten kaum", betont Zerback. "Sie arbeiten alle sorgfältig mit normalen Fehlermargen." Das Problem sei vielmehr die Qualität der Berichterstattung über die Umfragen.

Gefragt: Demoskopische Kompetenz

Im Umgang mit politischen Meinungsfragen fehlen vielen Journalisten häufig das notwendige Handwerkszeug und ausreichende Kenntnisse in Statistik, um die erhobenen Daten ausreichend analysieren und angemessen aufbereiten zu können. Nur in einigen Redaktionen gibt es Mitarbeiter, die auf diesem Fachgebiet ausreichend kompetent und kundig sind. Während Demoskopen häufig vor einer Überinterpretation der Daten warnen und lieber von Momentaufnahmen sprechen, wird das Material in den Redaktionen oft unkritisch beziehungsweise ohne Einordnung übernommen.

"Das Qualitätsbewusstsein im Umgang mit Daten geht zurück", bedauert auch Renate Köcher, die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach. Nur wenige Journalisten interessierten sich für die wissenschaftlichen Methoden der Meinungsforschung. "Wichtig ist für viele vor allem, dass die Ergebnisse aufregend sind." Sie betont die Bedeutung der Fragestellung, mit der sich Journalisten häufig unzureichend auseinandersetzten. Dabei mache es beispielsweise einen großen Unterschied, ob allein gefragt werde "Soll die Ukraine der Nato beitreten?" oder ob in weiterführenden Fragen dem Befragten deutlich werde, dass dies im Kriegsfall auch eine Beistandspflicht der Bündnispartner (also auch Deutschlands) bedeute. "Weil die Demoskopie so alltäglich genutzt wird, machen sich viele methodisch zu wenig Gedanken", konstatiert Köcher.

Zugleich weist sie darauf, dass bisweilen auch Meinungsforscher ihre Unabhängigkeit infrage stellten, wenn sie sich um eines guten Auftrags willen darauf einließen, sich die Fragen von Auftraggebern vorgeben zu lassen: "Als Institut muss man die Hoheit über die Fragebogenformulierungen behalten." Dass Medien die Meinungsforschung heute teilweise nutzten, um Aufregung zu erzeugen, als handele es sich um "Quasi-Plebiszite", betrachtet sie mit Sorge: "Das tut allen nicht gut, nicht der Gesellschaft, nicht der Politik und nicht den Medien – den Instituten sowieso nicht."

Wer etwas genauer hinschaut, findet etliche Beispiele dafür, wie unkritisch Umfragen zum Teil übernommen werden und wie fragwürdig manche Ergebnisse sind. Dem durchschnittlichen Leser bleibt dabei häufig verborgen, dass ihn seine Zeitung gerade in die Irre führt statt die Informationen gründlich aufzubereiten.

So erschien beispielsweise Anfang September 2014 auf der Seite 1 des "Tagesspiegels" die prominent platzierte Meldung: "Berliner wollen ein Berliner Olympia". Sie suggeriert, dass sich eine Mehrheit der Hauptstadtbewohner dieses sportliche Großereignis in der eigenen Stadt wünscht. Die Quelle der Meldung war aber eine nicht repräsentative Online-Umfrage des Berliner Senats, der sich zuvor ausdrücklich für eine Bewerbung ausgesprochen hatte. Obwohl diese Interessenlage eigentlich schon Anlass genug wäre, die Ergebnisse kritisch zu behandeln, übernahm der "Tagesspiegel" die angebliche Nachricht, dass sich 76 Prozent von 10.000 Bürgern für die Ausrichtung der Olympischen Spiele aussprächen – dabei war in erster Linie gefragt worden, wie sich die Berliner die Ausrichtung wünschen, nicht ob. Im Lokalteil wurden die Teilergebnisse sogar noch ausführlicher dargestellt, obwohl die Erhebung erkennbar ohne jede Aussagekraft war, sondern eine geschickte PR-Aktion des Senats. Auch andere Berliner Zeitungen gingen ähnlich nachlässig mit dieser fragwürdigen Information um. Auf solche Weise wird in Medien leicht Stimmung gemacht, statt mit echter Recherche und einem verantwortungsvollem Umgang mit Umfragen die Stimmungen in der Bevölkerung tatsächlich widerzuspiegeln.

Medien als Auftraggeber

Medien sind nicht nur Nutzer des demoskopischen Materials. Seit Jahrzehnten sind sie auch wichtige Auftraggeber und Impulsgeber für politische Umfragen. "Inzwischen beherrschen die Medien die Demoskopie, die Parteien haben dafür kein Geld mehr", beschreibt Matthias Jung, der Geschäftsführer der Forschungsgruppe Wahlen, das Verhältnis zwischen Demoskopie und Medien. Angesichts der gestiegenen medialen Präsenz von Umfragen und auch der gestiegenen Anzahl an Meinungsforschungsinstituten spricht Jung von einer "Inflationierung der Umfragen". Durch die Medienkrise und sinkende Anzeigenerlöse in den klassischen Medien hat sich auch die Auftragslage einiger Institute verschlechtert, der Wettbewerb unter Meinungsforschern hat sich verschärft.

Manfred Güllner, der Gründer und Chef des Forsa-Instituts, spricht für die politische Demoskopie in den Medien von einem "schrumpfenden Markt" und weist darauf hin, dass die unabhängigen Institute heute sehr stark davon abhängig seien, dass Medien sie überhaupt zu einem bestimmten Thema mit einer politischen Umfrage beauftragen. Wichtige Phänomene würden unzureichend untersucht, weil die Aufträge dazu ausblieben. Als ein Beispiel nennt er die Nichtwähler, die etwa bei der Landtagswahl in Sachsen Ende August 2014 mit 51,5 Prozent nicht zu übersehen waren. "Weder Medien noch Politik schenken den Gründen für diese Wahlverweigerung genügend Aufmerksamkeit", sagt der Meinungsforscher.

Viele Redaktionen unterliegen Sparzwängen, sodass Aufträge für teure Umfragen vielerorts zur Disposition stehen. "Je kleiner die Zeitung, desto unwahrscheinlicher, dass sie sich eine seriöse Umfrage noch leisten kann", sagt etwa der Redakteur einer Regionalzeitung. Hinzu kommt, dass aufgrund der schrumpfenden Umfänge der Zeitungen immer weniger Platz für die Darstellung demoskopischer Ergebnisse bleibe, klagen Meinungsforscher. Während die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) den Ergebnissen des "Politbarometers" der Forschungsgruppe Wahlen früher noch eine halbe Seite eingeräumt habe, sei dies der SZ heute gerade noch eine Meldung wert. Auch die "Welt" und andere Zeitungen präsentierten die Ergebnisse inzwischen kleiner, so Güllner.

Anhand des Beispiels von "Stuttgart 21" versucht der Forsa-Chef zu verdeutlichen, wohin es führen kann, wenn Meinungsumfragen unbeachtet bleiben: Einzelne Medien wie "Der Spiegel" hätten damals mit der Wortschöpfung des "Wutbürgers" den Eindruck vermittelt, als sei die Bevölkerungsmehrheit gegen den umstrittenen Ausbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs. In dieser Stimmung habe es nicht mehr interessiert, ob dies eigentlich der Wirklichkeit entsprach. "Niemand hat die wahre Meinung der Stuttgarter und Baden-Württemberger untersuchen lassen", berichtet Güllner. Die spätere Volksabstimmung habe dann sehr klar gezeigt, dass die Mehrheit den Ausbau des Bahnhofs befürwortete. Auch Jung von der Forschungsgruppe Wahlen wählt dieses Beispiel, um zu unterstreichen, dass die Demoskopie für die Medien ein wichtiges Korrektiv sein sollte, um mediale Eindrücke zu objektivieren und Proteste einer lautstarken Minderheit nicht überzubewerten. "Die Medienlandschaft braucht Extreme, um Interesse zu wecken", sagt er. "Da verkauft sich Protest häufig besser als die schweigende Mehrheit."

Treue Bündnisse, seriöse Koalitionen?

Das Verhältnis zwischen Demoskopie und Medien ist vor allem durch langjährige Kooperationen bestimmt. Trotz der Schnelllebigkeit des Mediengeschäfts gibt es erstaunlich wenige Veränderungen oder Wechsel der Partner. "Man macht es nicht, weil sich hier jahrelange Arbeitsstrukturen und ein Vertrauensverhältnis gebildet haben", erklärt der Kommunikationswissenschaftler Zerback. Vorreiter in Sachen Medienpartnerschaft war das 1947 eingerichtete Institut für Demoskopie Allensbach, dessen Gründerin Elisabeth Noelle-Neumann schon früh die Zusammenarbeit mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) etablierte.

Der enge Verbund des Zweiten Deutschen Fernsehens mit der Forschungsgruppe Wahlen besteht seit 1974. Die Hauptaufgabe des eingetragenen Vereins ist die wissenschaftliche Beratung und Betreuung der ZDF-Wahlsendungen. Entsprechend tritt das Institut für die Fernsehzuschauer hauptsächlich zu Landtags-, Bundestags- und Europawahlen mit seinen Prognosen und Hochrechnungen in Erscheinung. Seit 1977 erstellt die Forschungsgruppe das "Politbarometer", das in der Branche als eines der demoskopischen Flaggschiffe gilt. Darin werden in repräsentativen Umfragen regelmäßig Einstellungen zu Parteien, zur politischen Tagesordnung und zu Spitzenpolitikern ebenso abgefragt wie Meinungen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. Die Ergebnisse werden in der gleichnamigen ZDF-Sendereihe präsentiert, aber auch anderen Medien in schriftlicher Kurzfassung kostenlos zur Verfügung gestellt. Bei den Zuschauern ist das "Politbarometer" "stabil populär", heißt es aus der zuständigen ZDF-Hauptredaktion "Politik und Zeitgeschehen". Auch wenn man keine Quoten wie bei großen Sportereignissen einfahre, erreiche die Sendung rund zwei Millionen Zuschauer. Die Forschungsgruppe wird vollständig vom ZDF finanziert, wobei der Sender über die Höhe der Aufwendungen aus Gebührengeldern keine Angaben macht. Seit 1994 arbeitet das Institut auch mit anderen festen Kunden zusammen, ist aber mit dem ZDF existentiell verbunden.

Einer dieser festen Partner der Forschungsgruppe ist der Berliner "Tagesspiegel". Für die Tageszeitung bedeutet das, dass sie bereits tagsüber und damit vor allem online auf die Ergebnisse des "Politbarometers" zurückgreifen kann. Der Redakteur Albert Funk berichtet, dass vor allem "die klassische Sonntagsfrage" online auf großes Interesse stoße: "Umso näher die Wahl rückt, desto interessanter ist das." Das damit verbundene Hintergrundmaterial fließe in weitere Artikel ein und werde wie anderes Nachrichtenmaterial verarbeitet. "Das werden manchmal Aufmacher oder man kann Geschichten damit anfüttern." Funk lobt die gute Zusammenarbeit und die gewachsene Verbindung.

Das "Gegenstück" zum Bündnis Forschungsgruppe/ZDF ist die Verbindung zwischen Infratest dimap und ARD. Seit 1997 betreibt Infratest dimap Wahlforschung für die ARD-Sender, die monatlichen Politikumfragen des Instituts münden im "Deutschlandtrend". Anders als beim ZDF ist der Medienpartner Teil eines internationalen Weltkonzerns, sodass die Abhängigkeit vom Sender nicht mit dem Bündnis Forschungsgruppe/ZDF vergleichbar ist. Infratest dimap kooperiert darüber hinaus auch mit einigen Tageszeitungen. Auch die ARD ist mit der langjährigen Bindung zufrieden: "In diesem Zeitraum hat sich die Qualität der Wahltagsbefragungen, die Grundlage unserer Analysen sind, kontinuierlich gesteigert und liegt heute auf einem exzellenten Niveau. Die inhaltliche und logistische Zusammenarbeit mit dem Institut funktioniert sehr gut", teilt die WDR-Pressestelle mit. Der jetzige Vertrag läuft bis Ende 2016. Was die Kosten angeht, hält sich auch die ARD bedeckt.

Die Spannung der Inszenierung der Wahlabende lebt unter anderem auch vom Wettbewerb der Sender und der dazugehörigen Institute um die beste Hochrechnung, die möglichst nah am Wahlergebnis liegen sollte. Kritiker wie der Medienjournalist Stefan Niggemeier sehen darin längst das, was die US-Amerikaner horse race journalism nennen. "Im Stil einer Sportberichterstattung werden Zwischenstände eines politischen Wettrennens vermeldet", schrieb er in einem "Spiegel"-Essay und beklagte diese Alternative zu einer "inhaltlichen Auseinandersetzung mit Themen und Positionen".

Umstritten ist auch die Rolle einzelner Personen, etwa die des bereits zitierten Forsa-Chefs Manfred Güllner. "Er ist der bunte Hund der Branche", heißt es im Kollegenkreis. Sein Meinungsforschungsinstitut arbeitet mit dem Magazin "Stern" und dem Privatsender RTL zusammen und erstellt für diese die Sonntagsfrage. Zugleich agiert Güllner auch als politischer Kommentator. Manche Beobachter wie Niggemeier sehen das kritisch: "Güllners Institut Forsa ist ein zuverlässiger Schlagzeilenlieferant (…) Höhenflüge sind oft steiler, Abstürze rasanter" (als bei der Konkurrenz). Vielleicht ist seine Meinung gerade deshalb häufig gefragt. Viele Journalisten seien an seinen Einschätzungen interessiert, vor der letzten Bundestagswahl habe er "mehr als 40 Anfragen" gehabt, berichtet Güllner, der in der medialen Interpretation der Daten eine der Kernaufgaben für die Demoskopen sieht.

Einmal in der Woche gibt es in der "Stern"-Redaktion einen Jour fixe, bei dem die Themen der Umfragen diskutiert und festgelegt werden, berichtet der zuständige Redakteur, Lorenz Wolf-Doettinchem. "Bei der Art der Fragestellung berät uns Forsa." Aus Sicht des Blattmachers ermöglichen die Meinungsumfragen, Themen weiter zu drehen. "Damit können wir ein Thema zu uns holen und zum Teil aneignen." So beauftragte der "Stern" beispielsweise im August 2014 für die Titelgeschichte "Die Kriegsministerin" über Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Forsa mit einer Umfrage, bei der es unter anderem um die Frage ging, ob die Deutschen sich die Ministerin als Nachfolgerin von Bundeskanzlerin Angela Merkel wünschten. Das Magazin profitiere auch davon, dass Güllner sich in der Redaktion melde und auf neue Entwicklungen hinweise, die in den täglichen Umfragen frühzeitig sichtbar würden, erzählt Wolf-Doettinchem. "Dadurch sehen wir Trends eher."

Bei der FAZ werden die Forsa-Meldungen dagegen weitgehend ignoriert, sagt der dort zuständige Redakteur Peter Sturm. "Ihre Aussagekraft tendiert gegen Null", findet er. Seine Redaktion setze stattdessen auf das Beobachten langfristiger Entwicklungen mit monatlichen Umfragen. Dabei stelle sich immer die entscheidende Frage: "Hat es einen Sinn, den Lesern diese Zahlen zu präsentieren?" In der FAZ wird im Vergleich zu anderen Zeitungen der ausführlichen Analyse der Daten aus dem Allensbach-Institut viel Platz eingeräumt. Einmal im Monat erscheint eine ganze Seite. Auch Sturm betont den engen wechselseitigen Austausch mit dem Partner Allensbach. "Zweimal im Jahr sitzen wir persönlich zusammen und peilen intensiv die Lage", beschreibt er die Zusammenarbeit. Manchmal ergebe sich auch kurzfristig ein aktuelles Thema, wie kürzlich zum Russlandbild der Deutschen. Nach den Wahlen greife die Zeitung aber so wie viele andere Medien auf das Datenmaterial der Forschungsgruppe Wahlen und von Infratest dimap zurück.

Anders als die FAZ vergibt die SZ praktisch keine Aufträge an Meinungsforschungsinstitute. Der stellvertretende Chefredakteur Wolfgang Krach erinnert sich an ein einziges Mal, dass die SZ selbst eine Umfrage initiiert habe, das sei vor der Landtagswahl in Bayern 2013 gewesen. "Wir nutzen fast ausschließlich das ‚ZDF-Politbarometer‘, und zwar, wenn es um Meinungsumfragen vor Wahlen, Wahlnachfragen oder Hochrechnungen geht", sagt er. Die SZ halte es nicht für ihre vordringliche Aufgabe, "die Meinung der Bevölkerung oder unserer Leser zu bestimmten Fragen mit statistischen Methoden zu erheben."

Neue Herausforderung: Online-Befragungen

Seit April 2011 gibt auch die Deutsche Presseagentur (dpa) eigene Umfragen in Auftrag. "Meldungen zu Meinungsumfragen sind sehr gefragt", begründet der dpa-Sprecher Christian Röwekamp, dass die Agentur jährlich 20 bis 25 repräsentative Erhebungen von dem in Deutschland noch relativ neuen Institut YouGov erstellen lässt. "Als Gemeinschaftsredaktion der deutschen Medien bieten wir unseren Kunden damit einen zusätzlichen Service zu aktuellen Themen, von denen wir annehmen, dass sie viele Leser, Zuhörer und Zuschauer interessieren." Eine Konkurrenzsituation sieht dpa dadurch nicht. "Unsere Umfragen ergänzen die Aktivitäten anderer Medienmarken." Forsa-Chef Güllner sieht das etwas anders und kritisiert, dass dpa damit in Konkurrenz zu eigenen Kunden trete. Er erinnert daran, wie der "Stern" im August 2012 eine Forsa-Umfrage zu Organspenden veröffentlichte, die von dpa nicht wie sonst eigentlich üblich aufgegriffen worden sei. Die Agentur hatte wenige Tage zuvor selbst eine Umfrage zum gleichen Thema in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse verbreitet.

YouGov ist einer der interessantesten neuen Player auf dem deutschen Demoskopiemarkt. Das Kölner Institut arbeitet seit vier Jahren in diesem Bereich und gehört zu einer internationalen Unternehmensgruppe, die in den USA und Großbritannien schon lange arriviert ist. "Wir sind relativ neu in der Politikforschung in Deutschland", sagt YouGov-Vorstand Holger Geißler, der vor allem auf Online-Umfragen setzt. Außer für die dpa arbeitet sein Institut regelmäßig für die "Bild", die "Wirtschaftswoche", "Zeit online" und den Sender Sat.1. Für viele Medien ist YouGov in mehrfacher Hinsicht attraktiv. Durch den Schwerpunkt auf Online-Befragungen ist das Unternehmen zum einen preiswerter als traditionelle Meinungsforschungsinstitute, die in der politischen Demoskopie vor allem mit telefonischen Umfragen arbeiten. Zum anderen sind sie dadurch "schnell, sobald etwas Dramatisches passiert", so Geißler.

Andere Meinungsforscher sehen die netzbasierte Konkurrenz kritisch. "Von der Marktforschung werden viele Online-Umfragen durchgeführt", sagt Güllner, dessen Institut damit ebenfalls experimentiert. "Aber in der Wahl- und Politikforschung können Online-Umfragen keine repräsentativen Ergebnisse liefern." Auch Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen berichtet davon, dass sein Institut Online-Umfragen erprobt habe, aber wegen der nichtrepräsentativen Ergebnisse davon wieder abgekommen sei. "Es fehlen große Teile der Bevölkerung", sagt er, denn viele ältere Menschen bewegten sich nicht im Netz. Es komme bei Geschlecht, Alter und sozialer Schicht zu Verzerrungen. Renate Köcher vom Allensbach-Institut räumt zwar ein, dass Online-Befragungen an Bedeutung gewinnen, betont aber ebenfalls, dass dabei "häufig nicht ausreichend auf Repräsentativität geachtet" werde.

Erwartungsgemäß widerspricht YouGov-Vorstand Geißler solcher Kritik: "Bei jeder Methode haben sie heute Zielgruppen, die sie nicht oder kaum mehr erreichen." Traditionellen Instituten falle die Umstellung nur schwerer, weil sie große Telefonstudios betrieben, die sie auslasten wollten. Schon jetzt sei es so, dass sich immer weniger Menschen an telefonischen Umfragen beteiligen wollten, junge Leute würden übers Festnetz kaum noch erreicht. Aber selbst wenn es gelänge, mehr Mobilnummern zu nutzen, bliebe die Erreichbarkeit ein Problem: "Stellen Sie sich vor, sie stehen im Supermarkt an der Kasse, und da ruft Forsa an und möchte Sie interviewen." Die Meinungsforscher müssten daher auf das neue Medienverhalten angemessen reagieren. Zugleich betont er die Vorteile von Online-Befragungen. So habe sein Institut während des Skandals um sexistische Äußerungen des FDP-Politikers Rainer Brüderle im Frühjahr 2013 eine Online-Befragung gemacht, bei der die Anonymität des Internets vermutlich von Vorteil gewesen sei, um ehrliche Antworten zu diesem heiklen Thema zu erzielen. Auch der von manchen Auftraggebern gewünschte Einsatz von Bildern sei online leichter. Was die weitere Entwicklung angeht, glaubt Geißler an ein Zusammenwachsen der verschiedenen Kanäle. Es werde wohl darauf hinauslaufen, dass jeder Befragte selbst auswählen werde, auf welche Weise er an Umfragen teilnehmen möchte. "Ob nun auf dem Tablet in der U-Bahn oder am Telefon zu Hause, die Institute werden sich auf alles einrichten müssen."

Prognosen

Immer mehr Medien geben gar keine Umfragen mehr in Auftrag, sondern befragen ihre Leser, Hörer und Zuschauer online selbst – oder suggerieren dies durch den Einsatz von Social-Media-Kanälen. Aus Sicht der Meinungsforscher ist das bedenklich, nicht nur weil es sie Kunden kostet. "Soziale Medien haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun", kritisiert Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. In den Foren meldeten sich überwiegend nichtrepräsentative Gruppen zu Wort. "Da wird in Medien mit großer Reichweite, wie zum Beispiel im Fernsehen, wiedergegeben, was drei Leute auf Twitter gesagt haben. Das halte ich für fehl am Platz." Die Manipulation von Meinungen werde so erleichtert, warnt er.

Auch der Kommunikationswissenschaftler Zerback zeigt sich skeptisch, denn solche Laien-Umfragen beförderten extremere Resultate. Skeptische Stimmen gibt es auch in den Redaktionen. "Das, was die sozialen Medien bewegt, bewegt nicht immer alle Bürger, geschweige denn den Käufer am Kiosk", sagt "Stern"-Redakteur Wolf-Doettinchem und verweist ebenfalls auf den Skandal um die Sexismusvorwürfe gegen Politiker Brüderle 2013, den ein Artikel im "Stern" ausgelöst hatte. Während unter dem Hashtag #aufschrei innerhalb von sechs Tagen fast 60.000 Twitter-Meldungen abgesetzt wurden, sei das entsprechende Titelthema einer folgenden "Stern"-Ausgabe nicht so gut verkauft worden wie angesichts der Online-Resonanz erhofft.

Wer mit Meinungsforschern und Journalisten über die Zukunft ihrer Zusammenarbeit spricht, trifft vielfach auf pessimistische Prognosen. Güllner befürchtet einen weiteren Rückgang der Aufträge und einen Niedergang der wissenschaftlichen Standards. Schon jetzt gebe es eine Monopolisierung der Meinungsforschungsinstitute, bei der 60 Prozent des Marktanteils in Deutschland auf TNS Infratest entfalle, der deutschen Tochtergesellschaft des zweitgrößten Meinungsforschungsunternehmens der Welt, der zur WPP Group gehörenden Kantar Group mit Sitz in London. Es werde nicht ausreichend sichtbar, dass unter diesem Dach die Institute Emnid (zu 100 Prozent TNS-Tochter) und Infratest dimap (zu 51 Prozent TNS-Tochter) durch ihre Verträge mit der ARD, dem "Spiegel" und der "Bild am Sonntag" in den Medien besonders stark vertreten seien. Güllner sorgt sich deshalb um die Vielfalt der privaten, unabhängigen Meinungsinstitute. Eine weitere Gefahr sieht der Forsa-Chef in der "weiteren Scharlatanisierung" der Zunft. Es gebe Institute, die ihre Umfragen schlicht fälschten und Medien, die leicht darauf reinfielen. Er beklagt, dass es in Deutschland im Vergleich zu den USA an einem unabhängigen Dachverband fehle, der solche Probleme öffentlich thematisiere.

Renate Köcher vom Allensbach-Institut dagegen versucht, weiterhin positiv zu denken ("Ich bin eine geborene Optimistin."). Sie hofft, dass die Medien nur in einer schwierigen Übergangsphase stecken, bis sie wieder mehr Spielraum für Qualitätsjournalismus bekommen. Davon würde auch die politische Meinungsforschung profitieren.

Geb. 1962; freie Journalistin in Berlin. E-Mail Link: gemma.poerzgen@gmx.net