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"Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, werden zu Waffen" | Internationale Sicherheit | bpb.de

Internationale Sicherheit Editorial "Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, werden zu Waffen". Fragen zum Krieg in der Ukraine, dem Globalen Süden und zur Zukunft der internationalen Ordnung Wohin führt der "Epochenbruch"? Konturen einer neuen Ordnung für Europas Sicherheit Vom Krieg zum Frieden. Vertrauen im Konflikt Ende der Abrüstung. Nukleare Rüstungskontrolle heute Vertrautes Misstrauen. Perspektiven eines nachhaltigen Multilateralismus Zwischen den Blöcken. Neutralität und Bündnisfreiheit Klimawandel und internationale Sicherheit

"Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, werden zu Waffen" Fragen zum Krieg in der Ukraine, dem Globalen Süden und zur Zukunft der internationalen Ordnung

Amrita Narlikar

/ 9 Minuten zu lesen

Die russische Invasion in die Ukraine gilt in Deutschland als "Zeitenwende" und "Epochenbruch". Amrita Narlikar spricht im Interview über diese Einordnung, die Bedeutung des Krieges in der Ukraine für die Länder des Globalen Südens und die Zukunft der internationalen Ordnung.

Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird hierzulande mit Begriffen wie "Zeitenwende" und "Epochenbruch" belegt und als das Ende der internationalen Ordnung gedeutet, wie wir sie seit dem Ende des Kalten Krieges kennen. Schließen Sie sich dieser Einordnung an?

– Hier muss meine Antwort lauten: Jein. Einerseits nein, weil das natürlich ein eher westlicher Zugang ist. Kriege und Konflikte sind in vielen verschiedenen Teilen der Welt leider nicht nur ferne Erinnerungen, sondern erlebte und lebendige Erfahrungen. Aber andererseits ja, es ist eine Zeitenwende. Europa hat sich selbst lange als Ort des Friedens gesehen. Der Beginn eines Krieges auf dem europäischen Kontinent ist eine nachdrückliche Mahnung daran, wie zerbrechlich Frieden sein kann. Dass die Gefahren für die Demokratie nicht nur von innen kommen, sondern auch von außen. Dass das Risiko, das autoritäre Regime für Demokratien mit sich bringen, kein abseitiges Phänomen aus fernen Ländern ist, sondern viel konkreter, als die Europäer bereit waren anzuerkennen. In diesem Sinne sollte die russische Invasion in die Ukraine als dringlicher Weckruf behandelt werden.

Sie sind in Indien geboren und aufgewachsen. Wie blicken die Menschen dort auf das Geschehen?

– Ich kann nicht für mich beanspruchen, für ein so großes und diverses Land wie Indien zu sprechen. Aber als Deutschland-Insiderin und Outsiderin zugleich kann ich sagen: Was am 24. Februar 2022 passiert ist, kann man nur verurteilen. Russland hat ein demokratisches Land überfallen. Dort herrscht Krieg. Es kann hier keine Rechtfertigungen geben und auch keine Beschönigungen. Das ukrainische Volk schlägt sich tapfer und deckt Schwächen des russischen Militärs auf, viele Ukrainer zeigen bei der Verteidigung ihrer Familie, ihrer Tiere und ihres Landes eine bewundernswerte Heldenhaftigkeit. Doch zwischen der berechtigten Kritik an Russland und der Bewunderung, die viele von uns gegenüber den Ukrainern verspüren, ist möglicherweise zu leicht zu übersehen, welche Rolle der Westen durch Unterlassungen, aber auch durch aktive Fehler gespielt hat.

So wurden wir in den Monaten vor dem Krieg wiederholt öffentlich von der US-Regierung gewarnt, dass Russland einen Angriff vorbereite. War es wirklich ein kluges Vorgehen, das so öffentlich zu machen? Es gibt mindestens ein spieltheoretisches Argument, das dafür spricht, dass der Westen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geschaffen und damit die russische Invasion beschleunigt, wenn nicht sogar verursacht hat. Und wenn das westliche Spitzenpersonal sich der Ernsthaftigkeit dieses Risikos bewusst war, warum hat es im Vorfeld nicht alles getan, um der Ukraine schnell zu helfen? Hätten die USA, die EU und die Nato gegenüber der Ukraine echtes Commitment signalisiert und Waffen und Streitkräfte bereitgestellt für den Fall, dass Russland wirklich seinen unabhängigen Nachbarn angreift, hätten sie die Invasion vielleicht wenigstens verzögern können.

Der Westen hat zu einem Kontext beigetragen, der offenbar die expansionistische Abenteuerlust autoritärer Kräfte schürt. Chinas Vorgehen vor seinen Küsten oder in Hongkong hat wenig mehr als Zungenschnalzen und erhobene Zeigefinger nach sich gezogen – keine echten Konsequenzen, noch nicht einmal wirtschaftliche. Vielmehr versuchten Emmanuel Macron und Angela Merkel noch im Dezember 2020, das Umfassende Investitionsabkommen zwischen China und der EU abzuschließen – das hätte sogar geklappt, wenn nicht das Europäische Parlament gewesen wäre. Und dann war da noch der schmachvolle Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021. Das waren alles Signale, die ein Verhalten, wie wir es nun von Russland sehen, eher begünstigen als verhindern.

Das transatlantische Bündnis muss mit gleichgesinnten Partnern aus dem Globalen Süden zusammenarbeiten und viel konsequenter dabei werden, die globale Ordnung und die Werte, auf denen sie basiert, aufrechtzuerhalten. Das bedeutet auch, Indien nicht zu seinen Pflichten gegenüber der Ukraine zu belehren, sondern die Grenzen zu verstehen, an die Freunde manchmal stoßen, und durch entsprechende Maßnahmen zu helfen, diese zu überwinden.

Die indische Regierung hat Russlands Angriff auf die Ukraine bislang nicht verurteilt und sich weder den entsprechenden Abstimmungen innerhalb der Vereinten Nationen noch den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Warum positioniert sich Indien als größte Demokratie der Welt und eines der Schwergewichte in der internationalen Politik in dieser Frage nicht eindeutig?

– Dass Indien keine harte Linie gegen Russland gefahren ist, hat viele enttäuscht und überrascht. Ich teile die Enttäuschung, nicht aber die Überraschung. Indiens Abhängigkeit von russischer Militärausrüstung ist gewaltig – Schätzungen gehen von 50 bis 80 Prozent aus. Zuverlässige Waffenlieferungen sind für Indien, das schwierige und teilweise Nuklearmächte als Nachbarn hat, von großer Bedeutung. Daher ist es naheliegend, dass Indien mit Kritik an Russland zurückhaltend ist.

Die übermäßige Abhängigkeit Indiens von Russland birgt im aktuellen Kontext eine tragische Ironie. Denn ein zunehmend isoliertes Russland wird sich wahrscheinlich China annähern, mit dem es im Februar 2022 noch vor dem Angriff auf die Ukraine eine "Partnerschaft ohne Grenzen" ausgerufen hat. Aus indischer Perspektive ist das angesichts des historisch schwierigen Verhältnisses zu China besorgniserregend, aber auch mit Blick auf ein wachsendes Ungleichgewicht in der Region und tatsächlich auch auf globaler Ebene. Indien ist sich dieser Entwicklungen bewusst und hat gegenüber Russland international weder Kritik noch Zustimmung signalisiert.

Statt sich nur über Indiens scheinbar "neutrale" Haltung zu beschweren, könnte die EU sich selbst und der größten Demokratie der Welt helfen und die bilaterale Zusammenarbeit in Schlüsselbereichen wie Handel, Infrastruktur und Sicherheit vertiefen.

Auch China und Südafrika haben sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung enthalten, Brasilien und Saudi-Arabien haben erklärt, eine "neutrale" Haltung einzunehmen. Ist Indien mit seiner Position also repräsentativ für den Globalen Süden? Gibt es einen gemeinsamen Nenner für die Haltungen dieser Länder?

– Es ist sehr wichtig, die Haltung Indiens und anderer Akteure nicht auf eine gemeinsame Position des Globalen Südens zu reduzieren. "Globaler Süden" ist eine häufig genutzte Abkürzung, die nicht so verstanden werden sollte, als würde sie eine Einheit der sehr verschiedenen Länder aus unterschiedlichen Regionen bezeichnen, die diese Gruppe bilden. Mit solchen Vereinfachungen leisten wir den Staaten des Globalen Südens einen Bärendienst, aber auch uns selbst. China und Russland sind beide bereit, den Begriff zu politisieren und zu instrumentalisieren, indem sie behaupten, dass all diese Länder einer entwicklungsorientierten Agenda folgen und insofern de facto ihre Verbündeten sind. Das ist schlicht nicht der Fall. Vielmehr gibt es im Globalen Süden Demokratien, die einige Grundwerte mit Teilen des Westens gemeinsam haben. Das sind Länder, deren Kulturen wir besser verstehen und mit denen wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten sollten, mit denen die EU und die USA engere militärische und wirtschaftliche Verbindungen eingehen und die globalen Lieferketten restrukturieren sollten, um sowohl Nachhaltigkeit als auch Sicherheit herzustellen.

Welche Auswirkungen haben der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland auf die Länder des Globalen Südens?

– Die Auswirkungen sind vielfältig und besorgniserregend. Nehmen wir allein das Beispiel der Nahrungsmittelknappheit und steigenden Preise. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind wichtige Getreideexporteure, sodass die Invasion an sich und die Unterbrechung des Handels durch den Krieg das Problem verschärfen. Gleichzeitig haben die Sanktionen gegen Russland unbeabsichtigte Auswirkungen auf die russischen Nahrungsmittelexporte, was die EU veranlasst, einen Teil ihres Sanktionspaketes zu überdenken. Die russische Blockade von Seehäfen trifft die Ukraine hart und macht einen großen Teil der globalen Nahrungsmittellieferungen zur Geisel. Das multilaterale Handelssystem ist nicht in der Lage, gegenzusteuern, selbst dann nicht, wenn Staaten Nahrungsmittelexporte formell und informell einschränken. Die in der Folge explodierenden Preise betreffen auch Länder mit mittleren Einkommen und reiche Länder, in denen nun der Unmut wächst. Aber die Engpässe bringen ärmere Länder in eine noch prekärere Situation, die sich wiederum weiter auswirkt – auf die Ungleichheit, den Sozialstaat, aber auch auf das Funktionieren von Gemeinwesen und das Potenzial äußerer Einflussnahme und noch vieles mehr. Hier könnte sich eine maximale Katastrophe mit globalen Konsequenzen zusammenbrauen.

Sollten wir uns auf das Ende der Globalisierung einstellen, wie wir sie kennen?

– Das alte Modell der Globalisierung, das auf der Annahme basiert, dass zunehmende wirtschaftliche Integration zu Wohlstand und Frieden führt, hat nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte gut funktioniert. Aber seit einigen Jahren wird immer deutlicher, dass ebendiese Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, zu Waffen gemacht werden können. Aktuell geschieht das ziemlich offensichtlich, wenn Russland Energielieferungen als Verhandlungsmasse nutzt, aber wir haben das auch zu Beginn der Pandemie mit Blick auf lebensrettende Ausrüstung gesehen. Ein neues Globalisierungsmodell ist nötig.

Wie könnte das aussehen?

– Dazu vier Punkte: Erstens sind die Zeiten lange vorbei, in denen wirtschaftliche Integration als Ziel an sich oder auch als Weg zum Frieden verfolgt werden kann. Die transatlantischen Verbündeten müssen zuverlässigere Lieferketten mit vertrauenswürdigen Partnern aufbauen und ihre eigenen inländischen Kapazitäten stärken, vor allem in strategisch wichtigen Bereichen. Gegenseitige Abhängigkeiten können missbraucht werden. Die Abhängigkeit von Russland hat in Deutschland zu erheblicher Zögerlichkeit geführt. Lasst uns ein derart jämmerliches Drama nicht mit China wiederholen. Eine solche Neuausrichtung wird Kosten mit sich bringen und wird sehr vorsichtig umgesetzt werden müssen, aber der wahrscheinliche wirtschaftliche Schmerz kommt auch mit einem Sicherheitsgewinn.

Zweitens bedeutet die Anpassung der Lieferketten mit "vertrauenswürdigen" Partnern, dass es eine ernsthafte Diskussion um Werte geben muss. Die EU führt viele solcher Diskussionen, die aber nicht so wirkungsvoll sind, weil es um Werte in einem sehr engen Sinn wie zum Beispiel Arbeits- und Umweltstandards geht. Die US-Regierung bewegt sich mit ihrem Schwerpunkt auf Demokratie in die richtige Richtung. Aber es muss mehr getan werden. Vor allem gilt es, sich auf Augenhöhe auf Länder des Globalen Südens einzulassen. Dort gibt es potenzielle Verbündete, die nicht nur westliche Vorbehalte gegenüber China teilen, sondern sich auch zu liberalen Werten bekennen.

Drittens wird ein gegenseitiger Einsatz von soft power allein nicht ausreichen. Indiens Abhängigkeit von russischer Militärausrüstung hat dazu beigetragen, dass sich das Land nicht an die Seite der Ukraine stellt; hätte der Westen Indien dabei unterstützt, seinen Bezug von Waffensystemen und Dual-use-Technologien von Russland weg zu diversifizieren, sähe das nun vielleicht anders aus. Wir müssen zeigen, dass die Zusammenarbeit von Demokratien nicht nur geistige, sondern auch materielle Vorteile schafft. Autoritäre Staaten wie China bieten alternative Wege, die für ärmere Länder mitunter vorteilhafter zu sein scheinen. Chinesische Investitionsprojekte und die "Neue Seidenstraße" mögen etwas von ihrem Glanz verloren haben, aber sie sind nach wie vor wichtige – und kurzfristig auch einfache – Alternativen, denen sich kleinere Staaten zuwenden können.

Mein vierter Punkt bezieht sich auf die Forderung aus der Wissenschaft und aus Denkfabriken, dass mehr Gelder in die Forschung zu China fließen müssen – so steht es auch im Koalitionsvertrag. Und ja, das stimmt. Aber mehr Mühe und Mittel sollten auch in die Förderung eines besseren Verständnisses potenzieller Verbündeter, gleichgesinnter Partner in Asien und im Globalen Süden, investiert werden. Chinas Konfuzius-Institute haben eine wichtige Rolle für die chinesische Diplomatie gespielt, und Gelder aus Russland fallen für manche der prestigeträchtigsten Lernorte des Westens noch immer prominent ins Gewicht, etwa für die Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Es ist höchste Zeit, dass die größten Demokratien der Welt – die USA, die EU und andere wie Indien und Japan – ihrerseits beginnen, systematischer und sichtbarer in die Denkfabriken, Forschungsinstitute und Universitäten der jeweils anderen zu investieren.

Wie kann der Multilateralismus grundsätzlich neu gedacht werden, wenn die Welt aktuell wieder in Blöcke zu zerfallen scheint?

– In technokratischen Kreisen scheint es eine verzweifelte Hoffnung zu geben, dass wir nach einigen kleineren Reformen wieder zurückkehren können zu einem business as usual. Aber was wir uns wirklich fragen müssen, ist, ob der Multilateralismus, wie wir ihn heute kennen, wirklich zweckdienlich ist. Das herkömmliche multilaterale Instrument wurde nicht für eine Welt gemacht, in der wirtschaftliche Integration zur Waffe werden kann. Ich argumentiere bereits seit einiger Zeit für einen grundsätzlichen Neustart des Multilateralismus. Und um einen solchen effektiv umzusetzen, brauchen wir mindestens zwei Dinge, die sich scheinbar widersprechen.

Zuerst müssen wir inklusiv sein: Ein reformierter Multilateralismus, beispielsweise aufgesetzt von den G7, würde keine Zugkraft im Globalen Süden entwickeln und eine Wiederholung der Reaktionsmuster nach sich ziehen, die wir nach der russischen Invasion der Ukraine gesehen haben. Zugleich heißt "inklusiv" aber nicht "universal": Ein neuaufgelegter Multilateralismus würde variable Konstellationen erlauben, engere wirtschaftliche und sicherheitsbezogene Verbindungen unter gleichgesinnten Partnern eingeschlossen. Zugleich muss ein neustrukturierter Multilateralismus keine geschlossene Gesellschaft sein: Länder, die bereit sind, sich seinen strengeren Regeln zu unterwerfen, wären willkommen.

Die Fragen wurden Mitte September 2022 schriftlich beantwortet. Aus dem Englischen von Anne-Sophie Friedel.

ist Präsidentin des German Institute for Global and Area Studies (GIGA)/Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien, Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und Honorary Fellow des Darwin College der University of Cambridge.
E-Mail Link: amrita.narlikar@giga-hamburg.de