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Wohin führt der "Epochenbruch"? | Internationale Sicherheit | bpb.de

Internationale Sicherheit Editorial "Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, werden zu Waffen". Fragen zum Krieg in der Ukraine, dem Globalen Süden und zur Zukunft der internationalen Ordnung Wohin führt der "Epochenbruch"? Konturen einer neuen Ordnung für Europas Sicherheit Vom Krieg zum Frieden. Vertrauen im Konflikt Ende der Abrüstung. Nukleare Rüstungskontrolle heute Vertrautes Misstrauen. Perspektiven eines nachhaltigen Multilateralismus Zwischen den Blöcken. Neutralität und Bündnisfreiheit Klimawandel und internationale Sicherheit

Wohin führt der "Epochenbruch"? Konturen einer neuen Ordnung für Europas Sicherheit

Jana Puglierin

/ 12 Minuten zu lesen

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist eine Ära zu Ende gegangen. Die Zukunft Europas wird von viel größerer Unsicherheit, neuen Konflikten und globalen Umbrüchen geprägt sein. Die Weichen dafür, wie diese Ordnung aussehen wird, werden heute gestellt.

In einem Essay für den "New Statesman" hat der britische Journalist Jeremy Cliffe jüngst darauf hingewiesen, dass epochale Veränderungen in der Regel ein paar Jahre brauchen, bis sie sich voll entfalten und ihre Folgen sichtbar werden. Die Französische Revolution sei mehr gewesen als der Sturm auf die Bastille, der Beginn des Zweiten Weltkrieges mehr als die ersten deutschen Panzer in Polen, das Ende des Kalten Krieges mehr als der Fall der Mauer. Cliffe hat Recht: Wendepunkte in der Geschichte finden nie isoliert statt. Rückblickend ist es leicht, zu erkennen, wie sehr die jeweils bestehende Ordnung bereits erodiert war, bevor jene Ereignisse eintraten, die die meisten Beobachter zum Zeitpunkt ihres Geschehens völlig überraschten und die Welt eine andere werden ließen. Auch die gravierenden Konsequenzen dieser jeweiligen Ereignisse waren zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch weitgehend unklar.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat den 24. Februar 2022 zum Symbol einer "Zeitenwende" in der Geschichte des europäischen Kontinents erklärt. Der russische Angriff auf die Ukraine mit dem Ziel, das Regime in Kyjiw zu stürzen und die Ukraine als "Anti-Russland-Projekt" auszulöschen, hat eine Ära beendet. Er hat überdeutlich gemacht, dass sich Russland von den Grundprinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, wie der Achtung staatlicher Souveränität, dem Gewaltverbot und der Unverletzbarkeit von Grenzen, endgültig verabschiedet hat. Bis dato hatten viele europäische außenpolitische Entscheidungsträger trotz des Kaukasus-Krieges 2008 und der Krim-Annexion 2014 immer noch an der Hoffnung festgehalten, dass man Russland in die bestehende europäische Sicherheitsordnung einbinden könne. Denn, so die weit verbreitete Überzeugung, dauerhafte Sicherheit in Europa werde es nur mit und nicht gegen Russland geben. Die Bilder russischer Kriegsverbrechen aus Irpin, Mariupol oder Butscha haben nun jedermann vor Augen geführt, dass es nicht das Ziel des Kremls ist, sich in die bestehende Ordnung zu integrieren, sondern stattdessen, sie vollständig zu zerstören.

Damit geht jenes "Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" zu Ende, welches die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 21. November 1990 mit der feierlichen Verabschiedung der Charta von Paris voller Hoffnung ausgerufen hatten. Auch wenn noch offen ist, wann und unter welchen Bedingungen der Krieg in der Ukraine endet, wird es keinen Weg zurück zum Status quo ante mit Russland geben. Im Schatten des Scherbenhaufens der alten europäischen Sicherheitsordnung ist eine neue Ordnung allenfalls in Konturen erkennbar. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Zukunft Europas von viel größerer Unsicherheit, von neuen Konflikten und globalen Umbrüchen geprägt sein wird. Die Weichen dafür, wie diese Ordnung aussehen wird, werden heute gestellt.

Kein Weg zurück zum Status quo ante

Bereits vor dem 24. Februar 2022 gab es mehr als genug Anzeichen dafür, dass sich der Kreml durch die etablierten Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, die in der Charta von Paris in Fortschreibung der Schlussakte von Helsinki von 1975 vereinbart und im Budapester Memorandum 1994 und der Nato-Russland-Grundakte 1997 bestätigt worden waren, nicht mehr gebunden fühlte – obwohl die Sowjetunion und die Russische Föderation diese Prinzipien vertraglich anerkannt hatten. Schon im Krieg gegen Georgien 2008 hatte Russland seine Bereitschaft demonstriert, seine Einflusssphäre mit harter Hand zu verteidigen. 2014 ging der Kreml einen Schritt weiter, annektierte die Krim und entfachte einen Krieg im Osten der Ukraine. Dies hatte ein erhebliches Zerwürfnis mit den EU-Staaten und den USA zur Folge, die daraufhin Sanktionen gegen Russland in Kraft setzten und in der Nato eine Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung einleiteten. Dennoch hielt die EU an der Idee des "selektiven Engagements" mit Russland fest. Gerade die Bundesregierung agierte weiterhin nach dem Prinzip "Wandel durch Handel" beziehungsweise "Annäherung durch Verflechtung". Nur ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim beschloss sie den Bau der Pipeline Nord Stream 2.

Sicherlich spielten in diesem Zusammenhang vor allem ökonomische Interessen eine Rolle. Der Wunsch, "Dialog zu erneuern, Vertrauen wiederaufzubauen und Sicherheit wiederherzustellen", lässt sich jedoch nicht allein mit der Gier nach billigen Energieimporten erklären. Er war Ausdruck der in weiten Teilen der EU in Politik und Gesellschaft tief verwurzelten Überzeugung, dass der Kampf um Einflusssphären und militärische Großkonflikte in Europa Relikte der Vergangenheit seien, die man überwunden habe. Man glaubte, durch ein bindendes Vertragswerk, gemeinsame Rüstungskontrollabkommen und Institutionen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und den Europarat eine inklusive und kooperative Sicherheitsordnung geschaffen zu haben, in der Konflikte durch Verhandlungen und nicht durch Kriege gelöst werden und die Macht des Rechts und nicht die Macht des Stärkeren gilt. Auch wenn Russland die Grenzen dieses Systems mit den Jahren zunehmend austestete beziehungsweise offen überschritt, glaubte man an die Möglichkeit des konstruktiven Dialogs und der Kooperation mit Moskau.

Im Rückblick ist erkennbar, dass sich der Kreml spätestens 2014 bereits weitgehend aus der europäischen Sicherheitsordnung verabschiedet hatte. Von russischer Seite wurde dies mit dem Hinweis begründet, der Westen habe durch die Intervention der Nato im Kosovo 1999 und den amerikanischen Einmarsch im Irak 2003 die vereinbarten Regeln zuerst gebrochen. Darüber hinaus sei die europäische Spaltung nach dem Ende des Kalten Krieges nie überwunden worden. Stattdessen sei Russland in der von einer expansiven EU und Nato dominierten europäischen Ordnung mehr und mehr an die Peripherie gedrängt und kleingehalten worden, ohne die Möglichkeit, diese Ordnung entscheidend mitzugestalten. Daher sei das europäische Sicherheitssystem nicht inklusiv, sondern ein Konstrukt des Westens, das Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgezwungen wurde, ohne dessen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.

Wann genau Moskau sein Interesse an der bestehenden Ordnung verlor, welche Rolle der Westen dabei spielte und ob dieser Prozess unausweichlich war, darüber ist nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine viel gestritten worden. Aber heute ist klar, dass es für das Verhältnis zwischen Russland und den Staaten der EU keine Rückkehr zum Status quo ante geben kann, selbst wenn es gelänge, den Krieg in der Ukraine einzufrieren oder gar zu beenden. Schon vor dem 24. Februar 2022 akzeptierte Russland den Status quo nicht mehr und war die Vision eines freien und geeinten Europas von Vancouver bis Wladiwostok, für die der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew Ende der 2000er Jahre geworben hatte, gescheitert.

In zwei Vertragsentwürfen für Abkommen mit den USA und der Nato, die im Dezember 2021 vom russischen Außenministerium veröffentlicht wurden, machte der Kreml deutlich, worum es ihm eigentlich geht: um die erneute Teilung Europas in eine russische und eine westliche Einflusszone, um die De-facto-Rückabwicklung der Nato-Osterweiterungen durch den Rückbau der militärischen Infrastruktur auf den Stand von 1997, um die Errichtung einer sicherheitspolitischen Pufferzone auf dem östlichen Nato-Territorium sowie letztlich um die politische und militärische Verdrängung der USA aus Europa und damit die Spaltung des westlichen Bündnisses. All das war und ist weder für die Europäer noch für die USA akzeptabel.

Europa im Wettbewerb der Systeme

Ein neues Abkommen mit Moskau über eine europäische Sicherheitsordnung 2.0 ist deshalb nicht zu erwarten, dafür gibt es keine gemeinsame Grundlage. Sicherheit in Europa wird auf absehbare Zeit nicht kooperativ mit Russland organisiert werden können. Stattdessen geht es darum, Sicherheit vor Russland für die Europäer herzustellen. Wladimir Putin hat bewiesen, dass er militärische Mittel zur Durchsetzung seiner politischen Ziele rücksichtslos einsetzt, wann immer er denkt, damit erfolgreich sein zu können. Das muss nicht bedeuten, dass Russland den Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweiten wird – es ist aber auch nicht ausgeschlossen. Die Zukunft wird deshalb wieder von der Eindämmung und Abschreckung russischer Aggression geprägt sein. Dementsprechend haben die Nato-Staaten bereits begonnen, ihre Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung des Bündnisgebiets substanziell und nachhaltig zu erhöhen. Sie wollen mehr für Verteidigung ausgeben und die Schlagkraft ihrer Armeen verbessern. Schweden und Finnland wollen Mitglieder der Nato werden, Dänemark hat sich zur Teilnahme an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU entschieden. Die europäische "Friedensdividende" ist aufgebraucht. Anders als erhofft, wird die Bedeutung des Militärischen für die zukünftige Organisation von Sicherheit in Europa nicht ab-, sondern zunehmen.

Das gilt besonders für die nukleare Abschreckung, die viele Beobachter nach dem Ende des Kalten Krieges als überholt angesehen hatten. Im Krieg gegen die Ukraine droht der Kreml mit Nuklearwaffen, um seine expansiven politischen Ziele durchzusetzen. Die Politikwissenschaftler Liviu Horovitz und Lydia Wachs schreiben, es scheine Putins Absicht zu sein, "den konventionellen Angriffskrieg nuklear abzuschirmen". Die nukleare Abschreckungsstrategie der Nato und das Konzept der nuklearen Teilhabe werden deshalb für die Zukunft Europas wieder enorm relevant. Umso mehr, weil nicht nur Russland, sondern auch China und die USA in den vergangenen Jahren ihr Nuklearwaffenarsenal modernisiert und aufgerüstet haben, während gleichzeitig bis auf den New-START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) zwischen Russland und den USA die bestehenden konventionellen wie nuklearen rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen nach und nach erodiert sind – und auch bei diesem letzten verbliebenen Abkommen hat Moskau die Kontrollen seiner Atomwaffenarsenale Anfang August 2022 vorerst ausgesetzt. Atomwaffen werden als Instrumente eigener Stärke begriffen. Eine neue Welle der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist nicht in Sicht. Gleichzeitig werden neue Technologien und noch weitgehend unregulierte Räume wie der Cyberspace oder der Weltraum für die moderne Kriegsführung immer stärker an Bedeutung gewinnen.

Um die sich abzeichnende neue Sicherheitsordnung in Europa zu beschreiben, ist vielfach von einem "neuen Kalten Krieg" gesprochen worden. Ähnlich wie zwischen 1945 und dem Zerfall der Sowjetunion läuft momentan wieder alles auf eine Teilung Europas hinaus. Hier die Staaten der EU und der Nato; dort Russland und Verbündete wie Belarus; dazwischen die Ukraine, Moldau und Georgien – deren Beitrittsperspektive zu EU und Nato in weiter Ferne liegt. Die weitreichenden Sanktionen, die die Europäer und die USA gegen Russland verhängt haben, haben bereits den Prozess einer dauerhaften wirtschafts- und energiepolitischen Entflechtung von Russland in Gang gesetzt.

Jedoch trägt der Vergleich mit dem "Kalten Krieg" nur sehr begrenzt, denn die Situation heute ist völlig anders. Während die Welt im Zeitalter der Bipolarität von zwei Großmächten in Atem gehalten wurde, die die internationalen Beziehungen fast vollständig dominierten, ist die heutige Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen eingebettet in einen alles überwölbenden globalen Konflikt zwischen den USA und China. Unabhängig davon, wer die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnt, wird die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China bleiben und sich voraussichtlich noch weiter verschärfen. Für beide Seiten ist diese Rivalität das Prisma, durch das sie auf ihre Beziehungen zum Rest der Welt schauen. Der Krieg in der Ukraine hat die amerikanische Aufmerksamkeit nun vorläufig zurück nach Europa gebracht, aber die Priorität liegt weiter im indopazifischen Raum. In Zeiten knapper Ressourcen ist jede finanzielle Investition in Europa eine Investition, die nicht in Asien getätigt wird.

Die Bereitschaft der USA, in die europäische Sicherheit zu investieren, wird daher perspektivisch begrenzter sein als in der Vergangenheit. Die Europäer werden in Zukunft eine viel größere Rolle bei der konventionellen Abschreckung Russlands spielen und sich auch um eventuelle sicherheitspolitische Krisen in ihrer Nachbarschaft, etwa auf dem westlichen Balkan, selbst kümmern müssen. Angesichts der massiven Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Regionen wie Nord- oder Westafrika oder den Nahen Osten durch drohende Hungersnöte sowie der immer weiter eskalierenden Klimakrise ist absehbar, dass die Krisen und Konflikte in diesen Regionen eher zu- als abnehmen werden. Ob und wie schnell die Europäer in der Lage sein werden, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen, ob und wie sehr die USA sicherheitspolitisch in Europa engagiert bleiben und ob sie zumindest ihre Nukleargarantie weiter glaubhaft aufrechterhalten – die Antworten auf all diese Fragen werden die zukünftige Sicherheitsordnung in Europa entscheidend bestimmen.

Die "Zeitenwende" ist mehr als nur der Bruch zwischen Russland und dem Westen. Sie besteht in einem grundsätzlichen Wandel des internationalen Systems, weg von der regelbasierten internationalen Ordnung und hin zu einem Wettbewerb der Systeme. Dabei geht es, wie der China-Experte Mikko Huotari 2021 schrieb, nicht in erster Linie "um einfache Dichotomien wie Kapitalismus/Demokratie oder Kommunismus/Diktatur (…), sondern um den Umgang mit einem Einparteienstaat, der sich erfolgreich in den globalen Kapitalismus integriert und ihn umstrukturiert, internationale Regeln gestaltet und die Diktatur unter digitalen Bedingungen neu erfindet". China versteht sich selbst und sein System als kulturelle und ideologische Alternative zu den Vereinigten Staaten beziehungsweise zur Idee der Demokratie. Es kann dabei auf die Unterstützung Russlands setzen, das sich im Zuge der wachsenden Entfremdung von Europa in den vergangenen Jahren immer mehr an Beijing angenähert hat. Als Konsequenz des Krieges in der Ukraine ist Russland noch mehr zum Juniorpartner Chinas geworden. Die Rivalität zwischen den Großmächten bringt auch die völlige Dysfunktionalität des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als oberster Instanz zur Wahrung des Friedens mit sich. Eine zentrale Frage für die zukünftige europäische Sicherheitsordnung ist daher die nach der Legitimationsquelle militärischer Gewalt.

Sowohl China als auch Russland haben sich in den vergangenen Jahren vermehrt nicht-militärischer Mittel der Einflussnahme bedient, um den Westen zu spalten und das europäische Projekt zu torpedieren. In beiden Fällen hat sich die Idee, dass eine enge wirtschaftliche Verflechtung zu einer Annäherung und einer demokratischen Öffnung gen Westen führen würde, als Trugschluss entpuppt. Stattdessen nutzen sowohl Russland als auch China diese gezielt als Waffe aus. Wie gefährlich es ist, sich in einem strategisch wichtigen Bereich von einem Akteur abhängig zu machen, der die Ausnutzung dieser Abhängigkeit als Mittel für hybride Kriegsführung instrumentalisiert, bekommt Deutschland gerade in Form einer massiven Energiekrise zu spüren. Die Schlachtfelder des 21. Jahrhunderts sind auch die Infrastruktur und die Institutionen der Globalisierung.

Europäische Handlungsfähigkeit und Resilienz

Der Politikwissenschaftler Frank Sauer hat einmal bemerkt, dass die Zukunft die schlechte Angewohnheit habe, "sich oftmals ganz anders zu entwickeln, als es das Verlängern von Trendlinien zuvor erwarten ließ". Dennoch ist absehbar, dass Europa zukünftig weniger sicher und die neue Ordnung von dauerhaften Konflikten geprägt sein wird. Aber die Europäer sind keine Spielbälle der Geschichte, sie haben ihr Schicksal selbst in der Hand. Ob es Wladimir Putin gelingen wird, seinen Angriffskrieg in der Ukraine zum Erfolg zu führen, hat einen großen Einfluss darauf, welche Sicherheitsordnung sich in Europa etablieren wird. Die langfristige und nachhaltige Unterstützung der Ukraine ist deshalb eine Investition der Europäer in die eigene Zukunft. Wollen sie die neue Ordnung entscheidend gestalten, ist es wichtig, dass sie sich nicht auseinanderdividieren lassen, dass sie in der Lage sind, viel stärker als bislang ihre eigene Sicherheit zu garantieren und dass sie resilienter gegenüber Versuchen äußerer Einflussnahme werden. Die Bundesrepublik, das bevölkerungsreichste und mächtigste Land in der Mitte Europas, spielt hier eine entscheidende Rolle.

In ihrer Grundsatzrede zur neuen nationalen Sicherheitsstrategie sagte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht im September 2022, Deutschlands Führungsrolle bestehe darin, der europäischen Friedensordnung "die Kraft zu geben, die Freiheit und Demokratie, Wohlstand und Stabilität" garantiere. Dazu muss die Bundeswehr in der Lage sein, führend zum Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv der Nato beizutragen, sodass Deutschland zum Rückgrat konventioneller Verteidigung in Europa werden kann. Sie muss sich für eine stärker integrierte europäische Verteidigungspolitik engagieren, bei der das volle Potenzial der Kooperation zwischen EU und Nato ausgeschöpft wird. Genauso wichtig ist, dass deutsches Handeln darauf zielt, Europa in die Lage zu versetzen, in einem interdependenten System eigene Entscheidungen zu treffen – und diese in einem stärker wettbewerbsorientierten geopolitischen Umfeld notfalls auch gegen Widerstand durchzusetzen. In Bereichen wie Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologien muss es das Ziel deutscher Politik sein, kritische Technologie und Infrastruktur besser zu schützen und Deutschland und Europa weniger abhängig und verwundbar zu machen.

Die Europäer haben ein großes Interesse daran, den Konflikt mit Russland nicht eskalieren zu lassen – gleichzeitig sind sie bereit, ihn bis auf Weiteres auszuhalten. Bislang hat Russlands Angriffskrieg dazu geführt, dass die Mitgliedstaaten der Nato und der EU so geeint wie lange nicht mehr zusammenstehen. Diese Einheit hat sich als sehr wirkungsvoll erwiesen. Die Führung im Kreml hat immer wieder demonstriert, dass sie alles daransetzt, einen Keil zwischen die Mitgliedstaaten der Nato zu treiben. Dies zu verhindern, ist wesentlicher Bestandteil europäischer Daseinsfürsorge.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).
E-Mail Link: jana.puglierin@ecfr.eu