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Jazz und Identität | Jazz | bpb.de

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Jazz und Identität

Mario Dunkel

/ 16 Minuten zu lesen

Identität ist ein zentrales Thema im Jazzdiskurs. Neben der individuellen oder kollektiven Verortung einzelner Protagonisten und der Musik im Ganzen sind die Kategorien race, Gender und Nationalität prägend für jazzinterne Identitätskämpfe.

"In jazz, identity is everything", schrieb der US-amerikanische Jazzkritiker Barry Ulanov 1979 in der musikwissenschaftlichen Fachzeitschrift "The Musical Quarterly". "As in almost no other art, individual identity shapes the structure of jazz. It obsesses the player or singer and haunts his or her audience."

Tatsächlich ist die Frage nach Identität im Jazzdiskurs – danach, wie Menschen sich verorten und verortet werden, wie sie sich einen Sinn zuschreiben und sich gegenseitig Bedeutung geben – omnipräsent. Dieser Aufsatz soll eine Einführung in Identitätskonstruktionen im Jazz geben. Dabei wird danach gefragt, welche Identitätszuschreibungen im Feld Jazz häufig vorzufinden sind, welche Besonderheiten sie aufweisen und inwiefern sie in Identitätsdiskurse eingebettet sind, die über jazzspezifische Kontexte hinausreichen.

In diesem Beitrag wird argumentiert, dass Darstellungen von Jazz und Jazzgeschichte daran beteiligt waren und sind, weitverbreitete identitätsbezogene Mythen und Narrative zu bekräftigen, zu adaptieren und infrage zu stellen. Drei dieser Mythen lassen sich gleich zu Beginn entkräften: Jazz ist nicht universell, und er ist per se weder demokratisch noch liberal. Auch Jazz ist ein Feld, in dem sämtliche Arten von Diskriminierung vorkommen, wo Menschen ausgegrenzt, erniedrigt und verletzt werden. Gleichzeitig ist Jazz jedoch auch eine musikalische Praxis, die sowohl in populären Kulturen als auch in pluralisierten Gesellschaften verwurzelt ist und deren Entstehung und Entwicklung ohne afrodiasporische Musiken nicht denkbar wäre. Im Laufe seiner Geschichte war Jazz immer wieder Ressource für und Produkt von sozialen Gleichheitsbestrebungen – insbesondere im Rahmen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, aber beispielsweise auch im Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika. Im Folgenden sollen daher Fragen nach Jazz und Identität aufgeworfen werden, ohne dabei Mythen und Narrative zu bekräftigen, die Jazz essenzialisieren.

Individuelle und kollektive Identitäten

Was ist Jazz? Die populäre Kultur hat in den vergangenen Jahren immer wieder filmische Antworten darauf angedeutet: Von "Whiplash" über "La La Land" bis zu Disney's "Soul": Die Figur des (meist männlichen) Jazzmusikers ist auch in der vergangenen Dekade Bestandteil des popkulturellen Mainstreams gewesen. Barry Ulanov gehörte in den 1940er Jahren zu den ersten Autoren, die sich für eine Lesart des Jazz stark machten, nach der Jazz sich dadurch auszeichnet, dass er von einzelnen, außergewöhnlichen Individuen gestaltet wird. Diese Lesart ist nach wie vor weit verbreitet, etwa in "Whiplash" oder "Soul", drückt sich aber auch im Genie-Diskurs aus, der beispielsweise den britischen Multiinstrumentalisten Jacob Collier umgibt. Jazz ist demnach eine oft als heroisch gerahmte künstlerische Praxis, die es individuell außergewöhnlich begabten (meist männlichen) Musikern ermöglicht, ihr herausragendes Talent zu entwickeln und zu entfalten. Diese Vorstellung wird oft mit Ideen des Libertarismus verbunden. Jazzmusiker (auch in diesem Fall meist Männer) sind nach dieser Auffassung weitgehend autonom. Sie sind für ihre Kunst in erster Linie selbst verantwortlich, ihre Musik ist primär Ausdruck ihrer Individualität. Antriebsmotor der Geschichte des Jazz – in der Regel erzählt als Fortschrittsgeschichte – ist demzufolge die musikalisch-schöpferische Genialität einzelner, bemerkenswerter Individuen. Die Namen dieser Musiker variieren, kanonisiert sind aber seit den 1970er Jahren Personen wie Louis Armstrong, Duke Ellington, Charlie Parker, John Coltrane und Miles Davis. Frauen kommen fast ausschließlich als Sängerinnen vor. Hier können Billie Holiday und Ella Fitzgerald als kanonisiert gelten.

Die Lesart des Jazz als primär durch autonome Individuen geprägte Musik läuft Auffassungen zuwider, die kollektive Identitäten betonen. Zurückzuführen sind solche Perspektiven zunächst insbesondere auf die Blueshistoriografie der 1920er Jahre, etwa bei W.C. Handy und Edward Abbe Niles, deren Ansätze sich in der Jazzrezeption der US-amerikanischen Linken während der 1930er und 1940er Jahre, etwa bei Charles Edward Smith, John Hammond oder Rudi Blesh, und in den Schriften fortsetzten, die aus den antirassistischen Protestbewegungen der 1940er, 50er und 60er Jahre hervorgingen, zum Beispiel in jenen von Sterling Brown oder LeRoi Jones aka Amiri
Baraka. Der marxistische Jazzkritiker Charles Edward Smith trennte in den 1930er Jahren zwischen vermeintlich dekadenten und proletarischen Jazztypen. Der "echte" Jazz war demnach der Hot Jazz; seine Echtheit authentisierte sich durch seine Verwurzelung in der US-amerikanischen Arbeiterklasse. Dem setzten Jazzkritiker wie John Hammond und Marshall Stearns ab Mitte der 1930er Jahre einen race-bezogenen Ansatz entgegen. Laut Stearns privilegierte Smiths klassenbezogener Ansatz weiße Musiker als Hauptvertreter des Jazz. Die wahren Pioniere seien aber schwarze Musiker gewesen. Stearns identifizierte daher schon in den 1930er Jahren zwei Schulen der Jazzkritik, eine "White-influence"-Schule, in der weiße Musiker die primären Innovatoren der Musik waren, und eine "Colored-influence"-Schule. Letztere verstand Jazz als eine primär afroamerikanische Musik, die von weißen Musikern imitiert wurde. Auch in diesen das Kollektiv betonenden Ansätzen spielten individuelle Musiker eine wichtige Rolle. Sie waren aber weder autonom noch vollständig losgelöst von kollektiven Identitätskonstruktionen, sondern vielmehr integraler Bestandteil größerer sozialer Prozesse.

Jazz und race

Race ist seit der Entstehung des Diskurses um Jazz Mitte der 1910er Jahre eine zentrale Differenzebene. In dieser Hinsicht lässt sich eine Verbindung ziehen zwischen Jazz und dem, was der US-amerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois – und im Rückgriff auf ihn der Soziologe Paul Gilroy – mit doppeltem Bewusstsein (double consciousness) bezeichnete. Bereits 1903 beschrieb Du Bois die soziale Position von Afroamerikaner*innen als eine, die Selbstrepräsentation verunmögliche und kollektive Fremdrepräsentation zu einer existenziellen Erfahrung werden lasse. Afroamerikaner*innen seien daher kontinuierlich mit einer weißen Perspektive auf sich selbst konfrontiert. Dadurch könnten sie einerseits kein "wahres Selbstbewusstsein" erlangen. Andererseits sei dieses "doppelte Bewusstsein" aber auch eine Gabe: Es beinhalte das Potenzial, die entmenschlichende Wirkung von Herrschaftssystemen zu erkennen und zu hinterfragen.

Ausgehend von Du Bois' Konzept des doppelten Bewusstseins können auch Jazz, Jazzgeschichte und deren Vermittlung als Orte von Aushandlungsprozessen dieser Differenzebene betrachtet werden. Bis in die 1940er Jahre hinein wurde Jazzgeschichte noch primär als eine Musikgeschichte gedacht, deren Hauptvertreter weiße männliche Musiker waren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Narrative durchsetzen, die (ebenfalls meist männliche) schwarze Musiker als Hauptvertreter und Innovatoren ins Zentrum der Entwicklung des Jazz stellten. Aber seit dieser Zeit ist die racial identity des Jazz auch umstritten: Ist er in erster Linie eine am Blues orientierte, afroamerikanische Musiktradition, wie Amiri Baraka in "Blues People" argumentiert – eine Art moderne afroamerikanische Volksmusik, die sich aus sich selbst heraus erneuert? Oder ist er eine Musik, die zwar eine historische Verbindung zu afroamerikanischer Volksmusik hat, sich aber immer wieder mit der populären Musik im Mainstream verband und sich auch dadurch weiterentwickelte, dass sie sich mit diversen Musikstilen kreativ auseinandersetzte und vermischte, wie unter anderem Herbie Hancock wiederholt behauptete?

Die Tatsache, dass Jazzgeschichte heute meist als lineare Geschichte einer primär afroamerikanischen Musiktradition erzählt wird, löst historisch gewachsene und sozial bedingte rassifizierte Ungleichheiten in dem Feld nicht auf. Jazzkritik und Jazzgeschichte werden nach wie vor von Autor*innen verfasst, die in sehr großen Teilen weiß und männlich sind – auch wenn die Jazzforschung inzwischen diverser ist als noch vor 20 Jahren. Die Szenen und Fangemeinschaften des Jazz sind in gleicher Weise vorwiegend weiß und männlich – von den Plattensammlerkreisen seit den 1930er Jahren (auch Plattensammeln ist ein ökonomisches Privileg) bis zum Stammpublikum der Konzertorte. In gewisser Weise besteht damit auch weiterhin ein Ungleichgewicht, das sich nicht loskoppeln lässt von der durch Du Bois beschriebenen Problematik der Perspektivierung: Wer stellt wen durch welche Brille dar? Es ist unter anderem deshalb ein Bestreben aktueller Jazzmusiker*innen wie Robert Glasper, Esperanza Spalding, Shabaka Hutchings, Terri Lyne Carrington und anderen, den Jazz zu öffnen und zugänglicher zu machen, auch, indem man Barrieren zwischen Jazz und aktuell populären afrodiasporischen Genres wie zum Beispiel Hip-Hop aufweicht. Da Jazz seit den 1960er Jahren häufig in einem Kunstmusikdiskurs praktiziert und rezipiert wird, besteht für Musiker*innen, die sich anderen Genres öffnen möchten, nicht selten das Dilemma, dass sie durch das Aufgreifen kommerziell erfolgreicher Musik Distinktionsmerkmale der Kunstmusik aufgeben müssen und dadurch Gefahr laufen, sich als Jazzmusiker*innen zu delegitimieren.

Jazz, Gender und Sexualität

Verschränkt mit der Kategorie race prägt die Ebene Gender den Jazzdiskurs ebenfalls seit seinen Anfängen. Jazz wurde im Laufe seiner Geschichte unter anderem verglichen mit Cinderella (eine im Ursprung rohe Musik des Proletariats, die von weißen Arrangeuren scheinbar veredelt wurde), der Lorelei (Jazz als Verführung der Massen), Casanova im Bett (Jazz als hypermaskuline Potenz), Napoleon im Krieg und Hannibals Armee im Kampf (Jazz als männlich konnotierte Gewalt). Als wirkmächtige Differenzebene wurde Gender im Jazzdiskurs aber erst spät hinterfragt – mit dem Aufkommen der feministischen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre. Das Feld Jazz ist zum einen durch patriarchale Strukturen und Dynamiken geprägt, die auch andere kulturelle Felder charakterisieren, beispielsweise extreme genderbedingte ökonomische und soziale Ungleichheit, sexualisierte Gewalt, Stereotypisierungen sowie patriarchale Narrative und Mythen, um nur einige zu nennen. Zum anderen existieren aber auch jazzspezifische geschlechtsbezogene Ungleichheitsdynamiken, die in anderen Feldern weniger prägend sind.

Bereits die Anfänge der Jazzrezeption zeugen davon, dass Jazz – insbesondere dem damit verbundenen Rhythmus – männliche Eigenschaften zugeschrieben werden. In Frankreich wird er unter anderem von Jean Cocteau als Erneuerer einer durch den Debussyismus geprägten und als effeminiert-dekadent wahrgenommenen französischen Musikkultur gedeutet. Im deutschsprachigen Raum sieht der Autor Paul Bernhard einen Zusammenhang zwischen Jazzmusik, -tanz und dem, was er als "Vermännlichung der Frau" bezeichnet. In den USA wird Jazz dagegen insbesondere im sinfonischen Jazz der 1920er Jahre noch stark feminisiert und mitunter als "Lady" bezeichnet – eine Strategie von Musiker*innen und Kritiker*innen, um weit verbreiteten Ängsten vor Überfremdung und kulturellem Verfall zu begegnen, die auf die Musik projiziert wurden. Ab den 1930er Jahren setzt sich jedoch auch hier ein Diskurs durch, der Jazz maskulinisiert. Insbesondere die Strategie, zwischen gutem ("real" oder "hot") und schlechtem ("sweet" oder "corny") Jazz zu unterscheiden, um Jazz als kulturell wertvoll zu legitimieren, trägt ab den 1930er Jahren dazu bei, dass männliche Eigenschaften zu einem Distinktionsmerkmal von vermeintlich gehaltvollem Jazz werden. Authentischer Jazz ist demnach männlich codiert, während der scheinbar unechte Jazz feminine Eigenschaften aufweist. Letztere Zuschreibung steht in engem Zusammenhang mit einer generellen Feminisierung von "Massenkultur" und "Massengeschmack" in dieser Zeit.

Genderstereotype begleiten den Jazz ebenfalls seit seinen Anfängen. Der frühe Jazzkomponist und -pianist Jelly Roll Morton, dessen Klavierspiel maßgeblich von der Pianistin und Komponistin Mamie Desdunes geprägt wurde, rechtfertigte sich wiederholt dafür, dass er Pianist war, da das Klavier (nicht nur) in seiner Heimatstadt New Orleans Anfang des 20. Jahrhunderts als ein feminines Instrument galt. Morton trug auch durch seine sexistischen Äußerungen und Liedtexte zu einer Umdeutung des Klaviers im Jazz als Symbol heterosexueller Männlichkeit bei. Um einige der gängigen Genderstereotype im Jazz zu identifizieren, hilft ein Blick in die US-amerikanische Jazzpresse der 1930er und 40er Jahre. Zu den dort genannten Gründen für eine scheinbare Unterlegenheit von Frauen im Jazz zählen hier unter anderem angeblich mangelnde physische Voraussetzungen angesichts einer als physisch besonders herausfordernd empfundenen Musik und ihrer Instrumente, insbesondere des Schlagzeugs und der Blasinstrumente; häufig genannt werden außerdem ästhetische Präferenzen von Frauen für leichte, angeblich feminine Musik.

Zusätzlich zu diesen offen artikulierten Zuschreibungen wurden Frauen, die in der populären Musik berufstätig waren, in der Presse tendenziell sexualisiert und auf visuelle Aspekte, gegebenenfalls auf ihre Stimme, reduziert. Diese Darstellungen kennzeichneten auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts einen Jazzdiskurs, der bezüglich der Differenzebene race gleichzeitig bereits sehr stark durch das Narrativ der kollektiven Befreiung von Knechtschaft geprägt war. Erst mit dem Aufkommen feministischer Perspektiven auf Jazz, unter anderem von Sally Placksin, Linda Dahl, Sherrie Tucker oder Ursel Schlicht, entsteht eine Sensibilität für genderbezogene Ungleichheit und ihre intersektionalen Verschränkungen mit Fragen von race, Klasse, Nation und weiteren Differenzebenen. Aufmerksamkeit für Genderfluidität und die Differenzebene Sexualität gerät dabei erst relativ spät, in den 1990er Jahren, in den Blick, als feministische Perspektiven durch queer-feministische Stimmen ergänzt werden, die auch danach fragen, inwiefern hegemoniale, heteronormative Ästhetiken dazu beigetragen haben und weiterhin beitragen, dass homosexuelle Musiker*innen ausgeschlossen, diskriminiert und misrepräsentiert werden, und auf welche Weise dominante Musizier- und Hörpraktiken heteronormativ geprägt sind und irritiert, aufgebrochen, ergänzt und transformiert werden können.

Jazz und Nationalität

Neben den bereits genannten Kategorien wird auch die Differenzebene Nationalität im Feld Jazz an verschiedenen Stellen wirkmächtig. Seit seinen Anfängen wurde Jazz als ein Phänomen wahrgenommen, das eng verbunden ist mit dem mutmaßlichen "Wesen" der USA. Ignoriert wurde dabei, dass Jazz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine transnationale Musik verstanden werden muss. Zum Beispiel waren die Musikkulturen in New Orleans eng verknüpft mit denen der Karibik sowie Zentral- und Südamerikas. Der genaue Zeitpunkt und Ort, an dem mit dem Jazz eine Musik entstand, die sich als vollkommen neue Traditionslinie fassen lässt, lassen sich auf musikalischer Ebene kaum nachvollziehen. Damit soll nicht gesagt werden, dass im Jazz keine revolutionären Entwicklungen und Brüche deutlich werden. Aber es ist wichtig, zu betonen, dass es den einen Bruch, an dem aus vorherigen Musiken wie Ragtime die neue Musiktradition "Jazz" entstand, nicht gibt, sondern dass sich Musik in den 1910er Jahren in einem sozial, kulturell, aber auch medial bedingten Transformationsprozess befand, der dazu beitrug, dass populäre und improvisierte Musiken insbesondere in ökonomisch privilegierten Ländern vermehrt Aufmerksamkeit erhielten. Darüber hinaus war die US-amerikanische Musikkritik schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer idiomatischen, US-amerikanischen Nationalmusik, die den als "national" ausgelegten "Schulen" der europäischen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts als ebenbürtig gelten konnte. Der als neu und ungewöhnlich empfundene Jazz bot sich an, diese Leerstelle zu füllen – was zunächst am Diskurs zum sinfonischen Jazz der 1920er Jahre um Paul Whiteman, Ferde Grofé, George Gershwin, Vincent Lopez und anderen deutlich wurde.

Die Bedeutung von Nationalität für den Jazzdiskurs gipfelte während des Kalten Krieges, als Jazz unter anderem im Rahmen der US-amerikanischen Kulturpolitik eingesetzt wurde. Von den Pionieren der "Jazzdiplomatie" wird Jazz in dieser Zeit als "gute Propaganda" beschrieben, auch, weil er im Gegensatz zu anderen Musikstilen eine demokratische musikalische Praxis sei, in der etwas zutiefst US-Amerikanisches zum Ausdruck komme: das gleichzeitige Streben nach demokratischer Gleichheit und individueller Selbstverwirklichung. In diesem Zusammenhang wurde Jazz auch gezielt eingesetzt, um Bilder rassistischer Gewalt in den USA, die im Zuge der Bürgerrechtsbewegung ins Bewusstsein traten, zu kontrastieren. Jazz wurde in der Folge nicht nur zum Sinnbild der US-amerikanischen Demokratie und ihrer ethischen Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion erklärt, sondern er galt auch als sonic weapon im Kampf gegen den Kommunismus. Auch wenn die Rhetorik des Kalten Krieges sich seit den 1990er Jahren diesbezüglich abgeschwächt hat, so ist die Rahmung von Jazz als primär US-amerikanische oder westliche Musik nach wie vor weit verbreitet und trägt auch heute noch dazu bei, dass Jazzgeschichte als primär US-amerikanische beziehungsweise westliche Musikgeschichte erzählt wird und Jazz aus nicht-westlichen Ländern tendenziell weniger Aufmerksamkeit erhält.

Es darf allerdings nicht außer Acht geraten, dass Darstellungen des Jazz auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich wirken konnten. Während sie etwa auf der Ebene race insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu beitrugen, dass afroamerikanische Musik und Musiker*innen im öffentlichen Diskurs vermehrt Wertschätzung erhielten und sichtbarer wurden, war es gleichzeitig möglich, dass dabei Leistungen von FLINTA*-Personen heruntergespielt und Jazz als nationale Errungenschaft der mächtigsten Nation der Welt angeeignet wurde. Aufgrund solch komplexer Verflechtungen empfiehlt sich eine intersektionale Perspektive auf Ungleichheit im Jazz, die das machtvolle Zusammenwirken unterschiedlicher Diversitätsebenen in spezifischen Kontexten in den Blick nimmt.

Identitätspolitiken und Positionalität

Die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen im Jazz ist auch im Hinblick auf aktuelle Debatten über Identitätspolitik aufschlussreich. Im Jazz findet bereits in den 1920er Jahren ein intensiver identitätspolitischer Diskurs darüber statt, wie sich Jazzgeschichte beschreiben lässt. Exemplarisch ist hier eine Korrespondenz zwischen dem weißen Blueskritiker und Anwalt Edward Abbe Niles und dem afroamerikanischen Blueskomponisten und Verleger W.C. Handy. 1926 unterstützte Niles Handy dabei, die erste Blues-Anthologie herauszugeben, die später unter dem Titel "Blues. An Anthology" erscheinen sollte und für die Niles das Vorwort verfasste. Im Vorfeld der Veröffentlichung kommentierte Handy Niles' Entwürfe. In seinen Briefen bat er Niles unter anderem darum, unbewusst verwendete rassistische Begriffe zu streichen und das Wort "Negro" – das in dieser Zeit als positiv konnotierte Kollektivbezeichnung, unter anderem von Intellektuellen der Harlem-Renaissance-Bewegung, verwendet wurde – groß zu schreiben. In dem Briefwechsel wird deutlich, wie der Jazzdiskurs bereits vor einem Jahrhundert Fragen verhandelte, die heute in ähnlicher Weise, wenn auch wesentlich breiter, diskutiert werden. Er zeigt, dass Debatten zu Sprachpolitik im öffentlichen Diskurs, beispielsweise über "politische Korrektheit" oder "Cancel Culture", keineswegs neu sind, sondern als historisch und sozial verankerter Bestandteil von Aushandlungen bezüglich sozialer Ungleichheit, kulturellem Wert und kulturellem Eigentum in einer pluralisierten Gesellschaft verstanden werden müssen.

Neben diesen Unterscheidungen von individuellen und kollektiven Identitäten im Feld Jazz müssen schließlich auch die Identitäten derjenigen in den Blick genommen werden, die den Jazz heute repräsentieren. Dazu zählen insbesondere auch Jazzforschende und die Jazzkritik. Im deutschsprachigen Raum werden Jazz und Jazzgeschichte nach wie vor von mehrheitlich weißen männlichen Autoren beschrieben und dargestellt. Neben dem aktiven Einsatz für Diversität ist es daher wichtig, dass die Jazzforschung und -kritik ihre eigene machtvolle Position – und ihre dadurch bedingten Perspektiven – reflektieren. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass versucht wird, Zusammenhänge zwischen der eigenen Soziobiografie, ihrer Einbettung in Wissensordnungen, den eigenen musikalischen Vorlieben und der damit verbundenen Perspektive auf Jazz und Jazzgeschichte zu verstehen. Eine mögliche Umgangsweise mit der Begrenztheit der eigenen Position wäre zudem das Bestreben, multiperspektivisch zu schreiben und nicht-dominante Sichtweisen einzubinden.

Der US-amerikanische Philosoph Olúfẹ́mi O. Táíwò hat ein Konzept geprägt, das in diesem Zusammenhang hilfreich sein kann. In seinem Buch "Elite Capture" arbeitet er mit einem Raumbegriff, der sich auf den Jazz übertragen lässt: Stellt man sich Jazzgeschichte als einen mehr oder weniger geschlossenen Raum vor, wie konstituiert sich dann ein solcher Raum – auch in Abgrenzung zu anderen Räumen? Wer ist aus welchen Gründen in der Position, diesen Raum zu betreten? Und welche Funktionen haben diejenigen, die Teil dieses Raumes sind? Dabei weist Táíwò darauf hin, dass die Bewohner*innen eines Raumes oftmals nicht repräsentativ für kollektive Identitäten sein können oder möchten. So repräsentiert etwa ein afroamerikanischer Musiker im Raum "Jazz" beispielsweise nicht "Afroamerikaner im Jazz", sondern es gibt bestimmte Verflechtungen und Mechanismen, die dazu beigetragen haben, dass dieser Musiker – und nicht etwa andere als afroamerikanisch gelesene Musiker*innen – Teil des Raumes wurde. Laut Táíwò gibt es eine Tendenz, Personen in einem Raum größere, kollektive Identitäten aufgrund einzelner Differenzmerkmale zuzuschreiben. Dabei kann außer Acht geraten, dass Identitäten mehrdimensional sind, und dass die Gründe, weshalb ein Mensch Zutritt zu einem Raum erlangt – und warum ihm bestimmte Funktionen in diesem Raum zuteilwerden –, oft das Resultat komplexer Prozesse sind, die sich im Einzelnen nur mit der entsprechenden Aufmerksamkeit für Nuancen nachvollziehen lassen. Eine solche Differenziertheit ist auch für gegenwärtige Identitätsdiskurse im Jazz erstrebenswert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Barry Ulanov, Jazz. Issues of Identity, in: The Musical Quarterly 2/1979, S. 245–256, hier S. 245.

  2. Vgl. Tony Whyton, Jazz Icons. Heroes, Myths and the Jazz Tradition, Cambridge 2010.

  3. Vgl. Lara Pellegrini, Separated at Birth. Singing and the History of Jazz, in: Nichole T. Rustin/Sherrie Tucker (Hrsg.), Big Ears. Listening for Gender in Jazz Studies, Durham 2008, S. 31–47.

  4. Vgl. John Gennari, Blowin' Hot and Cool. Jazz and Its Critics, Chicago 2006; Mario Dunkel, W.C. Handy, Abbe Niles, and (Auto)Biographical Positioning in the Whiteman Era, in: Popular Music and Society 2/2015, S. 122–139; ders., The Stories of Jazz. Narrating a Musical Tradition, Wien 2021.

  5. Vgl. Bruce Boyd Raeburn, New Orleans Style and the Writing of American Jazz History, Ann Arbor 2009, S. 23–37.

  6. Vgl. Dunkel 2021 (Anm. 4), S. 199–217.

  7. Vgl. W.E.B. Du Bois, The Souls of Black Folk, New York 2007; Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge 2000.

  8. Vgl. Du Bois (Anm. 7).

  9. Vgl. Scott DeVeaux, Constructing the Jazz Tradition. Jazz Historiography, in: Black American Literature Forum 3/1991, S. 525–560; Dunkel 2021 (Anm. 4).

  10. Vgl. Amiri Baraka, Blues People. Negro Music in White America, New York 1999.

  11. Vgl. Wynton Marsalis/Herbie Hancock, Soul, Craft and Cultural Hierarchy, in: Robert Walter (Hrsg.), Keeping Time. Readings in Jazz History, New York 1999, S. 339–350.

  12. Vgl. das Manifest der Fachzeitschrift Jazz Research Journal aus dem Jahr 2022: Externer Link: https://journal.equinoxpub.com/JAZZ/announcement/view/271. Die Zeitschrift versucht seit Kurzem, auch durch die Besetzung ihres Editorial Boards Jazzforschung diverser zu gestalten.

  13. Vgl. Scott DeVeaux, Jazz in America. Who's Listening? Research Division Report #31, National Endowment for the Arts, Carson 1995. Für den deutschsprachigen Raum stellte das Deutsche Musikinformationszentrum kürzlich fest, dass das Interesse an Jazz mit der Höhe des Bildungsgrades korrespondiert: "Je höher die Schul- und Berufsbildung, desto höher ist der Anteil der Menschen, die Jazzfestivals besuchen wollen." Externer Link: https://miz.org/de/statistiken/interesse-am-besuch-von-jazzfestivals.

  14. Vgl. Mario Dunkel, Sexismus im zeitgenössischen Jazz: Eine intersektionale Diskursanalyse, in: Anke Charton/Björn Dornbusch/Kordula Knaus (Hrsg.), Marginalisierungen – Ermächtigungen. Intersektionalität und Medialität im gegenwärtigen Musikbetrieb, Hildesheim 2020, S. 101–117. Zu Jazz als Kunstmusik vgl. Paul Lopes, The Rise of a Jazz Art World, Cambridge 2002.

  15. Vgl. Jean Cocteau, Carte blanche – Jazz Band [1919], in: Denis-Constant Martin/Olivier Roueff (Hrsg.), La France du jazz. Musique, modernité et identité dans la première moitié du vingtième siècle, Marseille 2002, S. 166–167.

  16. Paul Bernhard, Jazz. Eine musikalische Zeitfrage, München 1927, S. 14.

  17. Vgl. Mario Dunkel, "Lady Jazz". Diskursive Vergeschlechtlichung von amerikanischer Popularmusik in den 1920er Jahren, in: Rosa Reitsamer/Katharina Liebsch (Hrsg.), Musik. Gender. Differenz. Intersektionale Perspektiven auf musikkulturelle Felder und Aktivitäten, Münster 2015, S. 36–51.

  18. Ders. (Anm. 14).

  19. Vgl. Sherrie Tucker, A Feminist Perspective on New Orleans Jazzwomen, New Orleans 2004, S. 67–68; Jeffrey Taylor, With Lovie and Lil. Rediscovering Two Chicago Pianists of the 1920s, in: Nichole T. Rustin/Sherrie Tucker (Hrsg.), Big Ears, Durham 2008, S. 54–57.

  20. Einige Primärquellen hierzu finden sich in Robert Walser (Hrsg.), Keeping Time. Readings in Jazz History, New York 20142.

  21. Vgl. Sherrie Tucker, When Did Jazz Go Straight? A Queer Question for Jazz Studies, in: Critical Studies in Improvisation 2/2008, S. 1–16.

  22. Vgl. Christopher Washburne, Latin Jazz. The Other Jazz, New York 2020.

  23. Vgl. John Howland, Jazz with Strings. Between Jazz and the Great American Songbook, in: David Ake/Charles Hiroshi Garrett/Daniel Ira Goldmark (Hrsg.), Jazz/Not Jazz. The Music and Its Boundaries, Berkeley 2012, S. 111–147.

  24. Marshall Stearns, Is Jazz Good Propaganda? The Dizzy Gillespie Tour, in: Saturday Review, 14.7.1956, S. 28–31.

  25. Vgl. Penny M. von Eschen, Satchmo Blows Up the World. Jazz Ambassadors Play the Cold War, Cambridge 2006; Lisa E. Davenport, Jazz Diplomacy. Promoting America in the Cold War Era, Jackson 2009.

  26. FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und agender Personen. Der Asterisk steht dabei für alle nichtbinären Geschlechtsidentitäten (Anm. d. Red.).

  27. Vgl. Dunkel 2015 (Anm. 4); ders. 2021 (Anm. 4).

  28. Vgl. Chantal Jaquet, Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht, Göttingen 2018.

  29. Vgl. Olúfmi O. Táíwò, Elite Capture. How the Powerful Took Over Identity Politics (And Everything Else), Chicago 2022.

Lizenz

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ist Juniorprofessor für Musikpädagogik am Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Jazzgeschichte, Musik und Politik sowie transkulturelle Musikvermittlung.
E-Mail Link: mario.dunkel@uol.de