Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm" | Jazz | bpb.de

Jazz Editorial "Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm". Ein Gespräch über die Vision und die gesellschaftliche Aufgabe von Jazz, was Kulturpolitik leisten muss und welche Strukturen die Freie Szene braucht "We Insist!". Eine Sozialgeschichte des Jazz in den USA "Schön, aber nicht beruhigend". Jazz im Spannungsfeld deutscher Gesellschaft und Politik 1919–2022 Jazz und Identität (Geschlechter-)Gerechtigkeit im Jazz. Soundtrack der Szene oder Zukunftsmusik? "Let my Children Hear Music". Sprachlosigkeit, Abwertung und Politisierung in deutscher Jazzpublizistik am Beispiel von Charles Mingus

"Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm" Ein Gespräch über die Vision und die gesellschaftliche Aufgabe von Jazz, was Kulturpolitik leisten muss und welche Strukturen die Freie Szene braucht

Angelika Niescier

/ 14 Minuten zu lesen

Ein Gespräch über die Aufgabe von Jazz, über Kulturpolitik und die Zukunft der Szene. Es werden Potenziale, Probleme und Grenzen des Jazz als "politische Kunst" ausgelotet und Leerstellen aufgezeichnet, die innerhalb der Szene zu wenig thematisiert wurden und werden.

Frau Niescier, was ist Ihre Motivation, heute Jazzmusikerin zu sein?

Angelika Niscier: Die hat sich seit dem Beginn nicht verändert: Jazz ist die einzige Musik, die so eine große Diversität zulässt – in Bezug auf Stile, aber auch auf den Umgang mit dem Material. Wir sind da extrem frei. Und diese Freiheit, die die Musik uns Ausübenden erlaubt, war meine eigentliche Motivation. Das war es damals, als ich mit der Musik angefangen habe, und ist heute immer noch Teil meiner Vision von Jazz.

Freiheit ist ein Label, das der Jazz sich gerne selbst verleiht. Aber stimmt das überhaupt? Wo ist man im Jazz wirklich frei und spürt überhaupt keine Grenzen?

Es ist natürlich so, dass sich die musikalische Szene in Mikrokosmen unterteilt, die manchmal überhaupt nicht durchlässig sind. Ohne Frage bleiben einige Leute grundsätzlich auf einer Schiene und drücken sich nur dort aus. Das stimmt schon. Die Durchlässigkeit der Grenzen ist manchmal nicht vorhanden.

Was sind, neben dem Freiheitsklischee, Stereotype, mit denen man Jazz verbindet? Und welche davon treffen heute noch zu?

Es gibt dieses alte Klischee, dass Jazz eigentlich nur "alte weiße Männer" machen. Das stimmt zwar überhaupt nicht mehr, aber es hält sich hartnäckig. Man müsste viel mehr nach außen transportieren, dass das schon lange nicht mehr so ist. Natürlich ist Jazz auch eine Musik, die elitäre Tendenzen hat, und das finde ich extrem problematisch. Es gibt Leute, die diese Musik lieben und mit ihr in den 1950er und 1960er Jahren großgeworden sind. Die sind mit den Musiker*innen, die damals angefangen haben, alt geworden. Daran ist auch nichts auszusetzen, aber es ist problematisch, wenn ausschließlich diese Leute jene Musik hören und sie lebendig halten. So kann das ja nicht funktionieren. Wir brauchen selbstverständlich auch neues, junges Publikum.

Wie wird dieses junge Publikum denn erreicht?

Wie genau das gelingen kann, sind wir uns alle noch nicht ganz einig, wobei dafür seit ein paar Jahren innerhalb der Szene schon mehr Bewusstsein erwacht ist. Auf der ästhetischen Ebene der Werbung hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Was den Inhalt angeht, weigere ich mich zu sagen: "je tanzbarer, desto besser für ein junges Publikum". Das propagieren zwar manche, aber ich glaube das nicht. In Köln veranstalte ich seit 2012 das Festival "Winterjazz". Da sehe ich, dass es funktioniert, wenn man den Leuten sagt: "Da ist eine große Jazz-Party, du kannst kommen, aber auch wieder gehen, wenn du magst." Dann entwickeln die jungen Leute einen Forschungsdrang und hören sich alles Mögliche an.

In welchem Moment springt dann der Funke über zwischen Musiker*innen und Publikum?

Das hat immer damit zu tun, wie die Musiker*innen auf der Bühne wirken. Wie authentisch ist das, was sie auf der Bühne meinen? Wenn zum Beispiel [der Pianist] Joachim Kühn spielt, dann ist es dem Publikum egal, dass das totaler Free Jazz ist. Natürlich überfordert das einige. Aber da ist so eine Intensität und Ehrlichkeit dabei, deswegen kommen die Leute und sind davon total umgehauen. Es geht nicht darum, dass man nach dem Konzert sagt: "Super, ich konnte heute Abend ein bisschen tanzen." Sondern, dass irgendetwas an der Musik so begeistert – ohne dass man das unbedingt verbalisieren muss –, dass man nach genau diesem Gefühl weitersucht.

Das, was der Jazz eigentlich vermitteln möchte, dieses Lebensgefühl, gelingt ihm nicht?

Genau so ist es. Diese unbedingte Lebendigkeit, die wird nicht gut genug weitergetragen. Jazz hat immer noch einen Hauch von Komplexität. Es ist aber total egal, ob die Musik kompliziert ist oder nicht. Das hat nichts mit ihrer Vitalität zu tun.

Da wären wir wieder bei der eben schon erwähnten elitären Rezeptionskultur. Wie äußert sich die?

Es gibt dieses schräge verstaubte Motto von: "je weniger Publikum, desto besser". Das ist totaler Quatsch. Auch beim "Winterjazz" haben viele geschimpft, dass es ihnen zu voll war. Genau das ist elitäre Exklusivität. Denn, wenn wenige Leute mit mir gemeinsam Musik hören, erhöht das ja meinen eigenen Weitblick. Dann habe ich ganz viel Ahnung und die anderen eben nicht. An solchen Haltungen müssen wir noch arbeiten. Sonst wird das Klischee immer weiter unterstützt. Dann glauben die Leute zum Beispiel, dass, um Jazz hören zu können, eine bestimmte Art von Vorbildung nötig ist. Und das ist einfach totaler Bullshit.

Wie wird Jazz vonseiten der Politik rezipiert?

Es gibt ein Bewusstsein für Jazz, aber das ist immer noch mehr eine Feder, mit der man sich gerne schmückt. Die Unterstützung für diese Musik geht mir manchmal nicht weit genug, weil sie nicht ehrlich ist. Bundespräsident Steinmeier veranstaltet zum Beispiel Jazz-Konzerte im Schloss Bellevue, aber da wird eben auch nur wieder eine bestimmte Art von Musik eingeladen. Es wird immer selektiert. Jazz wird nicht als die unglaublich komplexe Kunst rezipiert und gefördert, die sie ist. Von der Politik wahrgenommen zu werden, ist unfassbar wichtig für die Lobbyarbeit. Dass man als Kunstsparte gesehen wird, die wichtig ist und die einen Raum braucht. Und genau da wird eben nicht die komplette Palette des Jazz wahrgenommen. Bei der Förderung spielt Jazz schon eine Rolle, allerdings eine kleine. Im Gegensatz zu den USA, wo Jazz viel mehr Platz in der Politik und auch in der öffentlichen Wahrnehmung einnimmt. Das ist dort aufgrund der Historie mehr gewachsen. Innerhalb Deutschlands müsste man sich jetzt mit anderen Künsten – etwa der klassischen Musik – vergleichen, aber das finde ich nicht gut, denn da wird dann schnell ein Verteilungskampf entfacht.

Ist es nicht ein Problem, dass der Jazz seit jeher nicht institutionalisiert ist?

Das ist immer ein Problem gewesen und das wird auch immer ein Problem bleiben. Letztendlich hat es dann doch mit Verteilungskämpfen zu tun. Man muss sich natürlich fragen, warum so viele Opern und Orchester mit Millionen gefördert werden. Wo bleibt da die Freie Szene? Aber das gilt für jede Kunstsparte.

Und was ist mit der anderen Seite der Medaille – Jazz als politische Kunst?

Das ist ganz schwierig (lacht). Ich glaube, dass sich da die Bedeutung in den vergangenen Jahren verändert hat. Natürlich hängt es immer von den einzelnen Künstler*innen ab, inwieweit sie politisch denken und Musik per se als politische Kunst wahrnehmen. Aber die große Black-Lives-Matter-Bewegung 2020 hat dazu geführt, dass sich unsere Protagonist*innen mehr Gedanken darüber gemacht haben. Das ist schon mal gut. Aber wir sind da immer noch am Anfang der eigentlichen Erleuchtung: Sind wir nun eine "politische Kunst" oder nicht? Definitiv ist es so, dass wir mittlerweile in dem Elfenbeinturm, in dem wir uns befinden, schon mal die Fenster aufgemacht haben, vielleicht auch die eine oder andere Tür, und einige sind auch schon mal rausgegangen. Man kann es uns auch nicht verdenken, dass wir uns bisher einfach darum gekümmert haben, dass wir die Kunst selbst weiterbringen. Aber der definitive Kontext, das Sich-Verhalten zur Gesellschaft, dieser Spiegel – das alles wurde nicht wirklich behandelt. Diese Diskurse gab es im Jazz einfach nicht. Es gab einzelne Musiker*innen, die sich mit bestimmten politischen Themen auseinandergesetzt haben, aber das waren meistens eher ältere, so jemand wie der Vibrafonist Kurt Weil zum Beispiel. Das hat sich definitiv gewandelt. Jetzt machen Leute Projekte, die viel mehr politische Strahlkraft haben. Ob das jetzt gesellschaftspolitisch ist oder politisch per se, das hängt dann vom jeweiligen Projekt ab. Aber so was hat zugenommen. Sowohl das Bewusstsein dafür als auch der Wille, das auch nach außen zu präsentieren. Das kann ja viele Formen annehmen: Es kann ein Projekt sein, ein Stücktitel oder nur eine Ansage.

Um genau dieses Thema – Jazz als politische Kunst – kreisen in Deutschland viele Vorträge und Bücher. Können Sie erläutern, woher diese Fragestellung rührt?

Der Jazz wurde ja von Schwarzen entwickelt, die sich gegen sozioökonomische, rassistische und sonstige Problematiken gewehrt haben – auch mit der Musik. Und die Menschen in den 1950er und 1960er Jahren waren hochpolitisch, so zum Beispiel Thelonious Monk oder Charles Mingus. Für die gab es einfach keine Trennung zwischen dem politischen Bewusstsein und der Musik, das ging Hand in Hand. Das kam aus einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Kontext heraus. Fast würde ich sagen, es musste so sein. Auch da gab es selbstverständlich Leute, die sich dem verweigert haben. Trotzdem ist das unser Ursprung – eigentlich hochpolitische Musik, die natürlich gegen Rassismus und Klassismus, vielleicht nicht in dieser Wortwahl, und gegen Vorteilnahme und Appropriation gekämpft hat. Als Jazz aber nach Europa beziehungsweise nach Deutschland kam, gab es hier das ganz klare Bestreben, diesen Strang abzuschneiden und sich "zu emanzipieren". Totaler Unsinn! Ich meine, das ist Musik von genialen Menschen, und ich bin in der glücklichen Lage, damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Natürlich werde ich mich nicht emanzipieren von meinen Wurzeln! Das war ganz klar rassistisch. Man wollte sich so eine kleine bubble in Europa kreieren. Ich glaube, das ist eine "weiße" Art von: "Wir sind mal wieder ganz dufte, die anderen nicht."

Wie kann eine Anerkennung dieser Wurzeln zeitgemäß gelingen?

Wenn ich ein Monk-Konzert mache, dann muss ich über sein Leben erzählen. Aber nicht nur mit dem Blick auf die Vergangenheit, nach dem Motto: "In den USA sind früher alle verrückt gewesen, da gab es Sklaven, und Rassismus war ganz schlimm." Sondern man muss einen Kontext zur heutigen Zeit und hierher nach Deutschland herstellen. Wenn man das in diesem alten Bezugsrahmen lässt – "so waren eben die 50er Jahre" – dann sind wir nämlich wieder auch bei dem Publikumsproblem. Welche Menschen fühlen sich von so einem Abend denn angesprochen? Natürlich kann mich das vielleicht interessieren, aber dann muss ich auch schon etwas über die damalige Zeit Bescheid wissen. So etwas müssen wir uminterpretieren. Auch da hat sich erst in der jüngeren Zeit etwas verändert, ungefähr innerhalb der vergangenen zehn Jahre und vermehrt in den letzten fünf beziehungsweise zwei Jahren. Alles davor – auch politische Reden – bezogen sich eher punktuell auf diese Thematiken. Jetzt ist auch der Diskurs innerhalb der Gesellschaft viel breiter geworden. Es wird zum Beispiel über toxische Männlichkeit diskutiert – und das eben nun auch im Jazz. Die gesellschaftlichen Debatten haben die Leute darin bestärkt, auch auf der Bühne diesen Diskursen Aufmerksamkeit zu schenken.

War es auch umgekehrt? Haben Jazzmusiker*innen durch ihre Kunst gesellschaftspolitische Debatten mit angestoßen?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, das Jazz-Volk war ganz vorn dabei, den Diskurs anzuschieben. Das hätte ich gerne, haben wir aber nicht. Sich zum Beispiel die eigenen Wurzeln klarzumachen – das ist immer noch nicht selbstverständlich. Oder die 1950er und 1960er Jahre mit dem heutigen Zeitraum und Europa zu verbinden – so viel Weitsicht gibt es noch nicht häufig. Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm. Das ist definitiv problematisch, aber es ändert sich.

Ist gerade die Vermittlung dieser wichtigen Historie nicht eigentlich auch Bestandteil des Hochschulstudiums, das in Deutschland die allermeisten Jazzmusiker*innen abgeschlossen haben?

Ja, aber es hängt immer davon ab, welcher Filter darauf liegt. Das eine ist: "Das sind unsere Wurzeln. Punkt." Und das andere: "Was mache ich denn jetzt mit dieser Information?" Und ich glaube, das Letztere steht noch nicht genug im Vordergrund. Aber auch das ändert sich gerade. Auch, weil die Studierenden das möchten.

Wünschen Sie sich von der Jazzszene mehr politische Haltung und Verankerung?

Naja, wer bin ich, mir irgendetwas von den Leuten zu wünschen? Ich freue mich, wenn ich Projekte sehe oder bei Projekten mitmache, wo ich merke, dass Musiker*innen einen gesellschaftspolitischen oder politischen Duktus haben oder bestimmte Projekte dieser Überschrift unterordnen. Ich glaube, dass wir als Jazz-Völkchen mehr Bewusstsein dafür haben müssen. Und ich glaube auch, dass das dann automatisch in die Musik und deren Inhalte überblendet. Man improvisiert und komponiert ja immer auch aus der Sozialisation, aus einem bestimmten Diskurs oder einer Komplexität der Gedanken heraus. Wenn ich den Diskurs mitgestalte und mich dort auch tatsächlich engagiere, wirkt sich das automatisch auch auf mein musikalisches Schaffen aus. Da gibt es überhaupt keine Grenze, ob ich jetzt ein Stück nur mit einem bestimmten Stichwort benenne, oder ob ich da noch viel tiefer reingehe. Das muss jeder und jedem überlassen sein. Ich will halt, dass die Leute auch die Freiheit haben, mal ein Projekt zu machen, das überhaupt nichts damit zu tun hat oder alles damit zu tun hat. Und alles dazwischen natürlich auch. Ich habe das Gefühl, diese Bandbreite ist noch nicht ganz im Jazzmusiker*innen-Alltag präsent. Vielleicht haben alle zu viel zu tun und hetzen nur die ganze Zeit von A nach B, aber das darf eigentlich keine Ausrede sein.

In welchen Themenfeldern braucht es da Ihrer Meinung nach mehr Auseinandersetzung?

Im Prinzip in allen Themenfeldern der politischen Bildung (lacht). Misogynie und Sexismus sind immer noch ein großes Thema, sowohl der Umgang miteinander, aber auch die strukturellen Probleme. Auch über Klassismus wird im Prinzip fast gar nicht gesprochen, das ist aber ein ganz großes, so unfassbar großes Thema! Ich lehre ja auch, und da ist es schon so, dass vor allem die Kinder die Möglichkeit haben, Musik zu studieren, deren Eltern sich das leisten können. Wenn nicht, dann müssen sie was anderes machen. Es wird viel zu wenig der Fokus darauf gelegt, wie man Menschen unterstützen kann, die möglicherweise nicht die Ressourcen haben, aber trotzdem denken: "Wow, das ist die Musik, die mich interessiert! Und ich werde jetzt alles daransetzen, das beruflich machen zu können." Und ich finde auch, dass die eigenen Schwarzen Wurzeln zu wenig Anerkennung finden und ihnen zu wenig credit gegeben wird: "Monk – ja klar, das weiß doch eh jeder. Und außerdem sind wir hier in Deutschland, und hier gibt es ja keinen Rassismus." Es wird auch kein wirkliches Augenmerk darauf gelegt, diese Problematiken zu verbinden. Mal ganz konkret: Wie viele türkische Jazzmusiker*innen gibt es denn eigentlich hier (streckt ihre leeren Handflächen aus, zuckt leicht mit den Schultern)? Dabei gibt es hier eine riesengroße Community! Es kann doch nicht sein, dass sich darin niemand für Jazz interessiert. Das glaube ich einfach nicht. Das sind die größten Felder, die wir bearbeiten müssen. Und das gilt im Prinzip genauso für den Inhalt: Wie nah sind wir eigentlich tatsächlich an der Gesellschaft dran und spiegeln sie? Das sind natürlich sehr allgemeine Fragen, aber meiner Meinung nach muss Kunst letztendlich die Vorgänge innerhalb einer Gesellschaft reflektieren. Muss das nicht auch der Jazz? Müssen wir hier nicht eigentlich Vorreiter sein?

Man kann behaupten, dass eine Kunst das, was aktuell in einer Gesellschaft oder Zeit passiert, wiedergibt oder spiegelt. Natürlich kann man auch der Zeit voraus sein oder noch auf einem Diskurs herumreiten, den der Rest der Gesellschaft schon wieder fallengelassen hat. In erster Linie geht es doch aber um ein Zurückspielen, oder?

Ja, das denke ich auch. Und natürlich auch um Inspiration. Das ist jetzt ein bisschen verkürzt, aber wenn Jazz-Musik wahrgenommen wird und in ihren unterschiedlichen Aspekten auch rezipiert wird, dann öffnen wir damit das Mindset der Menschen. Es wäre zu hoch gegriffen, zu sagen, dass wir sie so auf etwas Unbekanntes vorbereiten, aber zumindest macht das Neue oder das Unerwartete keine Angst mehr. Denn wenn du diese Musik machst oder rezipierst, dann bist du gewohnt, dass alles immer anders ist. Einen Popsong willst du immer genau so nochmal hören. Die Bassline, die Harmonien, die Lyrics – du kennst das alles und wenn es dann genau so wiederkommt, ist das total geil. Das ist bei uns Jazzmusiker*innen einfach völlig anders. Da hast du alle Wege vor dir, und du kannst alle Wege wählen – und dann macht eigentlich kein Weg mehr Angst. Weil alles möglich ist und alles auf seine Art auch richtig ist, im Sinne von: "Wenn es nicht funktioniert, dann funktioniert was anderes". Ich bilde mir immer noch ein, dass die Jazz-Musik vor dieser Sorge vor Veränderung oder dem Verlassen des eigentlichen Weges hilft und es schafft, da Ängste abzubauen.

Das ist jetzt aber hoch gegriffen.

Ja, auf jeden Fall, aber ich glaube das immer noch. Ich glaube es, bis man mich mit den Füßen hier hinausträgt. Meine Hoffnung ist, dass, wenn Leute sich auf diese Musik einlassen können, diese Wirkung zukünftig oder vielleicht in bestimmten Situationen in deren Leben herunterrieselt.

Natürlich ist da auch die Frage, ob das Aufgabe der Kunst ist. Und hat Kunst überhaupt eine Aufgabe? Ich finde, in der Pandemie haben wir uns auf diese Diskussion der Relevanz eingelassen, und das war nicht richtig. Natürlich, wir waren alle erschrocken, und es war eben ein Präzedenzfall. Aber überhaupt diese Diskussion, warum wir wichtig sind, die war nicht richtig. Ich habe da auch mitgemacht, und ich verzeihe mir das. Aber wir hätten besser sagen sollen: "Entschuldigung, das ist gar keine Frage, ob wir relevant sind! Wir sind Kunst!" Und uns wurde ja auch wirklich geholfen. Wir sind nicht diejenigen, die jetzt meckern können. Andere hatten es sehr viel schwerer, und manchen wurde nicht geholfen. Nichtsdestotrotz war diese Frage, auf die wir dann so ein bisschen panisch versucht haben, zu antworten, fehl am Platz. Nochmal: Da geht es um Kunst. Und die Menschheit braucht Kunst!

Sie machen auch viel kulturpolitische Arbeit – reicht es nicht, einfach Musikerin zu sein und Kunst zu machen?

Das wäre schön. Da ist wieder die Frage der Relevanz. Wichtig scheint mir, dass wir das Bewusstsein über die Musik und ihre Vision in der Politik weiter verankern. Es ist immer noch nicht selbstverständlich, dass diese Musik immer mitgedacht wird. Das Gleiche gilt auch für die Freie Szene, und damit meine ich tatsächlich mehr als nur den Jazz. Es ist immer noch wichtig, dass wir Präsenz zeigen und uns als Künstler*innen zusammenschließen und einreihen. Ich glaube, wenn wir circa 15 Jahre weiter wären, dann würde es möglicherweise reichen, nur Musik zu spielen. Das ist jetzt aber einfach noch nicht so. Leider hängt die Kunst grundsätzlich noch etwas am Gürtel der Politik. Es sei denn, sie trägt sich von allein. Es gibt sicher ein Missverhältnis zwischen der institutionalisierten Kunst und der Freien Szene. Die eine wird vielleicht im Ernstfall ein bisschen gekürzt, aber die andere wird immer infrage gestellt, und das darf eigentlich nicht sein.

Innerhalb der Szene wird gerade viel über neue Strukturen nachgedacht. Was meinen Sie, welche Strukturen braucht der Jazz der Zukunft?

Natürlich brauchen wir solche Häuser wie den Stadtgarten in Köln als Europäisches Zentrum für Jazz und aktuelle Musik oder das House of Jazz, das gerade in Berlin entsteht. Die sind feste Größen und haben auch einfach Kapazitäten, bestimmte Arten von Musik zu fördern, unabhängig davon, ob sich das finanziell trägt oder nicht. Abgesehen davon bin ich für ein Grundgehalt für alle. Bis wir das aber schaffen, ist es natürlich so, dass wir Räume brauchen – wir müssen ja spielen. Natürlich sind individuelle Förderung und Projektförderung total super, und das soll es auch weiterhin geben, keine Frage – aber wir brauchen eigentlich auch die Verstetigung der Clubs und Festivals. Die meisten Jazzclubs werden ehrenamtlich betrieben – im ganzen Land! Deshalb haben die ja auch oft Nachwuchsprobleme. Wir brauchen eine langfristige, strukturelle Förderung der Orte, an denen wir spielen. Denn das, was wir Jazzmusiker*innen wollen, ist spielen. Diese Musik ist eine, die letztendlich auf der Bühne erforscht und ausgeforscht wird. Natürlich schreibe ich Stücke, stelle die Band zusammen und probe. Aber eigentlich passiert die Magie erst auf der Bühne. Jazz ist eine Live-Musik, und wir brauchen Live-Orte, an denen wir diese Musik spielen können, damit die Forschung weitergeht, damit wir Grenzen aufweichen und weiter nach vorne preschen können. Wie gesagt, man kann mit Jazz alles machen.

Das Interview führte die Musikjournalistin Sophie Emilie Beha am 7. November 2022.

ist eine Kölner Jazz-Saxofonistin, Bandleaderin und Komponistin. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem 2017 mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet.
E-Mail Link: kontakt@angelika-niescier.de