Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Let my Children Hear Music" | Jazz | bpb.de

Jazz Editorial "Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm". Ein Gespräch über die Vision und die gesellschaftliche Aufgabe von Jazz, was Kulturpolitik leisten muss und welche Strukturen die Freie Szene braucht "We Insist!". Eine Sozialgeschichte des Jazz in den USA "Schön, aber nicht beruhigend". Jazz im Spannungsfeld deutscher Gesellschaft und Politik 1919–2022 Jazz und Identität (Geschlechter-)Gerechtigkeit im Jazz. Soundtrack der Szene oder Zukunftsmusik? "Let my Children Hear Music". Sprachlosigkeit, Abwertung und Politisierung in deutscher Jazzpublizistik am Beispiel von Charles Mingus

"Let my Children Hear Music" Sprachlosigkeit, Abwertung und Politisierung in deutscher Jazzpublizistik am Beispiel von Charles Mingus

Franziska Buhre

/ 17 Minuten zu lesen

Ein Close Reading der Schriften von Joachim-Ernst Berendt zeigt beispielhaft, welche außermusikalischen Grundannahmen den Blick auf das Schaffen des afroamerikanischen Musikers, Bandleaders und Komponisten Charles Mingus bestimmten.

"[A]lthough he wrote a handful of vocal pieces like 'Don’t Let It Happen Here', 'Fables of Faubus', and 'Oh Lord Don't Let Them Drop That Atomic Bomb on Me', his music itself was not at the service of political beliefs. He was too much of an artist for that. I never saw him compromise a note in his career."

Sue Graham Mingus (1930–2022) war die letzte Ehefrau des Bassisten, Komponisten und Bandleaders Charles Mingus (1922–1979). Sie lernte ihn 1964 kennen und begleitete ihn bis zu seinem Tod. Ihr ist es zu verdanken, dass Mingus' Nachlass, mehr als 300 Kompositionen, gesichert und durch zahlreiche Ensembles aufgeführt werden konnte. In ihrem Buch "Tonight at Noon" schreibt sie über Mingus und ihre Zeit mit ihm. Er habe in den 1960er und frühen 1970er Jahren sämtliche kreativen und politischen Akteure der Lower East Side in New York gekannt, darunter Menschen der Black Panther Party, den Vordenker der Hippie-Bewegung Timothy Leary, den Dichter Allen Ginsberg sowie Friedensaktivist_innen und Publizist_innen von Untergrund-Zeitungen. Aber: Mingus habe sich niemandem angeschlossen, denn seine Musik habe nicht im Dienst seiner politischen Überzeugungen gestanden, er habe nie auch nur eine Note aufs Spiel gesetzt.

Im Gegensatz dazu zieht die Jazzpublizistik in Deutschland seit sieben Jahrzehnten andere Schlüsse über die politischen Überzeugungen, das Selbstbild, die Außenwirkung und die Bedeutung der Werke von Charles Mingus – Anlass für ein Close Reading, auf welchen Grundannahmen die Einordnungen der Jazzkritiker basierten und in welchem Umfang diese eigentlich der Musik gewidmet sind. Die historischen Zitate aus deutschen Quellen werden im Folgenden ins Verhältnis gesetzt zu zeitgenössischen, englischsprachigen Beiträgen und zu Aussagen von Charles Mingus selbst.

Besonders prägend für deutsche Radiohörer_innen, Leser_innen, geneigte Konzertbesucher_innen, Plattensammler und die Jazzkritik waren die Ausführungen des Redakteurs, Produzenten und Kurators Joachim-Ernst Berendt (1922–2000). Sein "Jazzbuch" erscheint seit 1953, die letzte überarbeitete und aktualisierte Ausgabe erschien 2007. Noch immer verweisen Autoren auf das Buch, zum Beispiel Wolf Kampmann in seinem Buch "Jazz. Eine Geschichte von 1900 bis übermorgen" oder Günther Huesmann in einem Gespräch von 2022, er war seit 1981 an Überarbeitungen des Jazzbuchs beteiligt und seit Berendts Tod verantwortlich.

Sprachlosigkeit

In der ersten Auflage des Jazzbuchs von 1953 schreibt Berendt: "Unter den Bassisten des Cool- Jazz sind zwei Musiker wichtig: ein schwarzer und ein weißer. Der schwarze ist Charlie Mingus. (…) Mingus spielt den Bass mit einer Vitalität, dass tatsächlich eine ganze rhythm section – Schlagzeug, Klavier, Gitarre und Bass – durch ihn allein ersetzt werden kann. (…) Der weiße Cool-Jazz-Bassist ist Arnold Fishkin." In seinem "Neuen Jazzbuch" von 1959 schreibt Berendt im Kapitel "Der Bass": "Charlie Mingus schließlich ist 'bop-inspiriert'. Er hat Anfang der vierziger Jahre bei Louis Armstrong und Kid Ory traditionellen Jazz gemacht, ging dann zu Lionel Hampton und hat dem besten Orchester, das Hampton besessen hat – 1947 – durch seine Arrangements und seine Persönlichkeit Kontur gegeben. Als Solist wurde er 1950/51 durch sein Spiel im Red Norvo Trio bekannt. Seitdem hat er sich immer mehr der Jazz-Komposition zugewandt. Wahrscheinlich ist er der profilierteste Experimentator in dem neuen, noch unerschlossenen Feld 'atonaler' Jazzmusik – experimentierend aus einem tiefen Verpflichtungsgefühl gegenüber Charlie
Parker."

Mingus 1953 dem Cool Jazz zuzuordnen, ist mindestens gewagt. In zeitgenössischen englischsprachigen Konzert- und Albumrezensionen findet sich diese Verbindung nicht. Der Autor Alex Barris schreibt 1951 über einen Auftritt des Red Norvo Trios in der Spielstätte The Colonial in Toronto: "Red himself is the first to shy away from any attempt to categorize his music. It certainly isn't bop, he dislikes the word 'progressive' and it isn't just swing. Aside from the fact that Red, his guitarist Tal Farlow, and his bassist Charles Mingus are extraordinary musicians, the thing that probably puts this trio so far ahead of its competitors is the closeness of these three men – their ability to think and play with a unity of purpose that few other musicians can approach." Der Autor bemerkt, dass sich die Musiker willentlich und musikalisch einer Kategorisierung entziehen. Herkömmliche Bezeichnungen wie bop, progressive und swing greifen dafür nicht mehr. Die Musiker können "vereint spielen und denken", das heißt improvisieren und die Musik dabei strukturierend vorausdenken, im Sinne des Zusammenspiels. Und so heben sie sich gegenüber anderen Gruppen ab, sie scheinen am Beginn einer neuen Entwicklung zu musizieren.

Der Schlagzeuger Max Roach, der Altsaxofonist Charlie Parker, der Pianist Bud Powell, der Trompeter Dizzy Gillespie und Charles Mingus spielten im Mai 1953 ein Konzert in der Massey Hall in Toronto. Der Musikkritiker A.B. Spellman bezeichnet dies 2001 als "reifen Bebop". Er konstatiert, diese Musiker hätten ihren Sound zehn, fünfzehn Jahre früher erschaffen. Doch war Bebop 1953 keine verbreitete Musikpraxis mehr, und so beförderten ihn die Musiker mit dem Konzert in einer Art halsbrecherischem Schwanengesang bewusst ins Jenseits. Die Aufnahme erschien 1956 auf dem von Mingus und Roach gegründeten Label Debut Records. Den Abgesang auf Bebop hätte Berendt erkennen können, und so mutet seine Formulierung 1959, Mingus sei "bop-inspiriert", aus der Zeit gefallen an. Auch seine Bezeichnungen "experimentierend" und "atonal" beschreiben keine musikalische Praxis, keinen Moment, der eine Ahnung davon vermittelte, wie Mingus eigentlich spielte und klang. Stattdessen wirken die Adjektive seltsam leer, das "Experiment" ist letztlich ein Ausdruck von Sprachlosigkeit.

"Weiß" und "Schwarz"

Umso eindeutiger schreibt Berendt, wenn es um die Hautfarbe von Mingus geht. Im gesamten ersten Jazzbuch werden Musiker in "weiß" und "schwarz" eingeteilt, Grafiken zu Instrumentalisten mit durchgehend schwarzen Linien stehen für die "Hauptlinie der Entwicklung", schraffierte und gepunktet schwarze Linien für "schwarz" und "weiß" – mit Namen von Musikern gekennzeichnet, sollen sie den Texten wohl Anschaulichkeit und einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit verleihen. Jedoch: Bis auf ein Namens- und Sachregister und eine Diskografie hatte das Jazzbuch nie ein Quellenverzeichnis, was auch seinerzeit schon unüblich für vergleichbare Werke über Musik anderer Genres war.

Eine Passage, in der Berendt seine Auffassung über die Fähigkeiten "weißer" und "schwarzer" Musiker zum Ausdruck bringt, ist von der Ausgabe des "Neuen Jazzbuchs" von 1959 bis zur jüngsten von 2007 weitgehend unverändert geblieben: "Bereits in den fünfziger Jahren, also vor der heutigen Avantgarde, war der schwarze Charles Mingus Exponent eines experimentellen Avantgardismus, dessen abstrahierende Bewusstheit man gefühlsmäßig – wenn all diese Verallgemeinerungen, die in die Rassenproblematik hereingetragen werden, einen Sinn hätten – eher einem weißen als einem schwarzen Musiker zutrauen würde."

"Abstrahierende Bewusstheit" ist für Berendt demnach eine aktive Fähigkeit weißer Musiker, schwarze Musiker könnten dieser Logik zufolge höchstens passiv in unmittelbarem Unbewusstsein agieren. Diese Kategorisierung ist essenzialisierend: Sie reduziert schwarze Musiker auf die Hautfarbe und ordnet ihre Fähigkeiten weißen Musikern unter, denn "abstrahierende Bewusstheit" bewertet Berendt eindeutig als höhere Form musikalischen Könnens. Fatal wird diese essenzialisierende, ja rassistische Grundannahme durch die Verknüpfung mit dem "Gefühl" des Autors, das als Instanz zur Einordnung herangezogen wird. Berendt insinuiert, es gäbe "eine Rassenproblematik", in die Verallgemeinerungen von außen hereingetragen würden. Sein Gefühl sei damit durch einen allgemeinen Diskurs legitimiert. Er benennt nicht, was die "Rassenproblematik" in diesem Zusammenhang sein soll, er nennt auch keine Akteure des angeblichen Diskurses. So verschleiert er, dass die Kategorisierung der Musiker allein auf seiner Grundannahme beruht und erhebt das "Zutrauen" in den Rang eines geeigneten Werkzeugs zur Kategorisierung.

Gefühl als Instanz

Im Verlauf des Jazzbuchs überwiegt Berendts Kategorisierung von Mingus "nach Gefühl" gegenüber den tatsächlichen Aussagen über dessen musikalische Praxis: "Er [Mingus] war ein köstlich unangenehmer Bassist – selbst da, wo er 'nur' begleitete, ein Genie der querulantischen Einmischung und des zornigen musikalischen Zwischenrufes –, er spielte temperamentvoll, aggressiv und rhythmisch gesehen mit einem unglaublichen Druck nach vorn. Die freien kollektiven Improvisationen und die elastischen, offenen Formverläufe des Neuen Jazz wurden – stärker als von irgendeinem anderen Musiker – von ihm angebahnt. Bei Charles Mingus wurde der Kontrabass zu einem Unruheherd permanent sich verändernder Gefühle; mal konnte er Zorn, Protest und Wut ausdrücken, dann wieder Zartheit, Poesie und Lyrik."

Berendt als Rezipient verleibt sich den unangenehmen, querulantischen und zornigen Musiker ein und findet darin Genuss. Mingus' Temperament sei der Ausgangspunkt seines Spiels, nicht etwa seine Ausbildung, seine Berufspraxis, seine eigens entwickelten Techniken, seine Entscheidungen als komponierender Musiker und Bandleader, für sich selbst und die Mitglieder seiner Ensembles. Berendt betont den Zorn und verdoppelt das Wort mit Wut, wohingegen "Lyrik und Poesie" mehrere Facetten suggerieren sollen aber ebenfalls eine Dopplung darstellen – als solche ein weiteres Kennzeichen für Sprachlosigkeit in der musikalischen Beschreibung. Die Betonung des Temperaments stellt eine fatale Tradition in der Jazzkritik dar, nach der mit dem sensationalistischen Blick, etwa auf Drogenexzesse, Klinikaufenthalte oder Fehlverhalten von Jazzmusiker_innen Aufmerksamkeit generiert werden soll, meist in Verbindung mit ihrer gesellschaftlichen Abwertung.

Kontrabass ohne Bogenspiel

Ähnlich wie bei der Zuschreibung bestimmter Fähigkeiten zu schwarzer und weißer Hautfarbe verfährt Berendt bei der Betrachtung von Cello und Kontrabass. "Die ersten Jazzcellisten – Pettiford, Harry Babasin, Charles Mingus – waren ursprünglich Kontrabassisten; und weil der Bass im modernen Jazz nun mal gezupft wird, improvisierten sie auf dem Cello, wie sie es von ihrem Hauptinstrument gewohnt waren: in der pizzicato-Spielweise." Dass der Bass "nun mal gezupft" würde, ist historisch in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens spielte Mingus in vielen seiner Stücke und Konzerte mit dem Bogen, und zweitens lassen sich Aufnahmen mit Bassisten, die den Bogen nutzen, seit 1926 nachweisen. In den ersten beiden Ausgaben des Jazzbuchs schreibt Berendt noch über den Bassisten Slam Stewart, der bereits in Aufnahmen der späten 1930er Jahre mit dem Bogen spielte. Im Verlauf der weiteren Ausgaben hat Berendt Stewart entfernt, 1953 erschien ihm Stewarts Kombination von Spiel und Stimmeinsatz "kabarettistisch". Mingus selbst lernte zuerst Cello, dann wechselte er auf Anraten des Saxofonisten Buddy Collette zum Kontrabass, um in dessen Swing-Band einzusteigen. Er nahm Unterricht bei dem Jazzbassisten Red Callender und bei Herman Reinshagen, dem ehemaligen ersten Bassisten der New Yorker Philharmoniker.

Einer der Gründe für den Instrumentenwechsel mag die Tatsache gewesen sein, dass afroamerikanischen Musiker_innen, die Instrumente des klassischen Symphonieorchesters lernten, in den Vereinigten Staaten die berufliche Zukunft in der "klassischen" Musikwelt verwehrt wurde. Nina Simone und Ramsey Lewis zum Beispiel hatten zuerst klassische Pianist_innen werden wollen, Eric Dolphy Klarinettist in einem Orchester – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Berendts ahistorische und holzschnittartige Betrachtung lässt den Schluss zu, er habe den Bogen mit "weißen" Musikern assoziiert und seinen Gebrauch im Jazz daher völlig außer Acht gelassen.

"Ursprünglichkeit"

Am deutlichsten wird seine Abwertung "schwarzer" Jazzmusiker_innen gegenüber "weißen" Musikschaffenden in seinen Ausführungen zur Komposition, und am Beispiel Charles Mingus besonders eklatant: Im Kapitel "Das Arrangement" schreibt er 1959, und diese Passage blieb bis 2007 unverändert: "Der Jazz-Komponist gestaltet seine Musik im Sinne der großen europäischen Tradition und lässt trotzdem Raum in ihr für die Jazz-Improvisation, und vor allem: er schreibt das, was er im Sinne der europäischen Tradition gestaltet, jazzmäßig. Es ist ja kein Zweifel [2007: "Es steht schließlich außer Zweifel"], dass der Jazz in Bezug auf formale Gestaltung der europäischen Musik unterlegen ist und dass also nur ein Gewinn darin liegen kann, wenn solche Gestaltung und Meisterschaft der Form auch im Jazz möglich wird, unter der Voraussetzung, dass darüber nicht jene Elemente verloren gehen, in denen die Einzigartigkeit des Jazz liegt: Vitalität, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit der Aussage – kurz: das Jazzmäßige." Folglich sind Komponist_innen des Jazz jenen der europäischen Musik in formaler Hinsicht unterlegen, als ebenbürtig seien sie nur zu betrachten, wenn sie die Kernelemente "Vitalität, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit der Aussage" einbeziehen. Die Begriffe "Vitalität" und "Ursprünglichkeit" nutzt Berendt seit seinem ersten Jazzbuch und auch in anderen Schriften der folgenden Jahrzehnte. Er wendet sie auf "schwarze" Musiker an – ein Stereotyp mit jahrhundertelanger, rassistischer und gewaltvoller Tradition.

"Schwarze Klassik"

Im Kapitel "Free Big Bands" schreibt Berendt: "Das vielleicht meistgelobte große Orchester seiner Karriere war die Band, mit der Mingus 1971 die Platte 'Let My Children Hear Music' aufnahm. Mingus dazu: 'Diese Musik ist schwarze Klassik. Und um Gottes willen – lasst meine Kinder Musik hören, wir haben genug Lärm gehört.'" Nur: Mingus schrieb gar nicht, seine Musik sei "schwarze Klassik" – diesen Satz legt Berendt ihm in den Mund. Auch wenn er hier die Quelle nicht nennt, ist eindeutig nachvollziehbar, dass er sich auf Mingus' essayistischen Text in den Liner Notes des Albums von 1971 bezieht. Der Text ist ein Schlüsseltext von Mingus, in dem er vor dem Hintergrund seines eigenen Werdegangs fragt, was einen Jazzkomponisten ausmacht und was sein Schaffen für Vergangenheit und Zukunft der Musik bedeuten kann.

Berendt fährt mit seinem Mingus-"Zitat" fort: "Ich liebe Musiker, die nicht einfach nur swingen, sondern rhythmische Strukturen und neue melodische Konzepte entwickelt haben. Solche Leute sind Art Tatum, Bud Powell, Max Roach, Sonny Rollins, Lester Young, Dizzy Gillespie und Charlie Parker, der für mich der größte Genius von allen ist, weil er unsere ganze Zeit verändert hat. Trotzdem sollte man Komponisten nicht miteinander vergleichen. Wenn Du Beethoven, Bach oder Brahms magst, ist das o.k.: Das waren Federhalter-Komponisten. Ich wollte immer ein spontaner Komponist sein." In dieser Namensliste tauchen Musiker auf, die Berendt zu den "ganz großen Improvisatoren" zählt und sie – wie an anderer Stelle erwähnt – den Komponisten für überlegen hält. Das von Berendt benutzte Zitat steht im zweiten Drittel des Textes. Er hat nicht nur einen Satz dazu erfunden, er verändert auch die Struktur des Originaltextes. Im Original folgen die Sätze bereits auf Mingus' einleitende Beobachtungen zum Schaffen von Jazzmusikern als Komponisten im Moment der Aufführung und zum Verhältnis zwischen ihnen und dem Publikum. Die Referenzen dienen lediglich als Rückblick und Errungenschaften, die er im Jazz bereits für erreicht hält. "(T)here is no need to compare composers. If you like Beethoven, Bach or Brahms, that's okay. They were all pencil composers. I always wanted to be a spontaneous composer. I thought I was, although no one's mentioned that. I mean critics or musicians. Now, what I'm getting at is that I know I'm a composer."

Mingus schreibt, es wäre nicht nötig, Komponisten miteinander zu vergleichen – Berendt wählt nicht die korrekte Übersetzung, sondern macht daraus, siehe oben, einen Imperativ. Niemand habe thematisiert, so Mingus, dass er Komponist sei, Kritiker nicht und Musiker auch nicht. Er aber war und ist sich dessen bewusst, macht es nun explizit und benennt im weiteren Verlauf, warum Menschen wie er nicht als Komponisten wahrgenommen wurden und ihnen der Zugang zu den entsprechenden Institutionen und ihrem Ansehen versperrt war – kurz, er benennt strukturellen Rassismus. Daran knüpft er seine Vorstellung von einer Zukunft, in der nachfolgende Generationen ihren Beruf ausüben können.

Let my Children Hear Music

Schauen wir also auf die Stelle, an der Mingus' Aussage über den Lärm tatsächlich steht. Er schreibt: "[L]et my children hear music – for God's sake – they have had enough noise. But mainly I am saying: Do you really know Mingus, you critics? Here is a piece I wrote in 1939 and I wrote it like this because I thought in 1939 I would probably get it recorded some day. But when you have to wait thirty years to get one piece played – what do you think happens to a composer who is sincere and loves to write and has to wait thirty years to have someone play a piece of his music? That was when I was energetic and wrote all the time. Music was my life. Had I been born in a different country or had I been born white, I am sure I would have expressed my ideas long ago. Maybe they wouldn't have been as good because when people are born free – I can't imagine it, but I've got a feeling that if it's so easy for you, the struggle and the initiative are not as strong as they are for a person who has to struggle and therefore has more to say."

Mingus wendet sich an die (Musik-)Kritiker. Er habe seit Beginn seiner Laufbahn komponiert, aber 30 Jahre lang auf die Aufführung warten müssen. In einem anderen Land oder als Weißer wäre ihm das nicht passiert, er hätte Chancen gehabt, seine Ideen auszudrücken. Seine Ausdruckskraft, seine Überzeugung von seinem Schaffen sei deshalb so entschieden, weil er stets um alles kämpfen musste. Es folgt ein Absatz über seine frühen Kompositionsstudien und Plattenläden für Weiße mit klassischer Musik. Und er beschreibt die Gehörbildung anhand einer Aufnahme klassischer Musik mit seinem Lehrer Lloyd Reese. Dann fährt er fort: "So I'm saying briefly that people don't know what a black man (it's nice to say black man) – people don't know what it took to make a jazz musician. In my young days, we were raised more on classical music than on any other kind. It was the only music we were exposed to, other than the church choir. I wasn't raised in a night club. I wasn't raised in a whore house (there wasn't any music in them, anyway – in the bars)."

Mingus räumt hier entschieden mit dem Klischee auf, Jazzmusiker wären bereits als Kinder in Nachtclubs, Bars oder Bordellen mit Jazz in Berührung gekommen. Die Selbstbezeichnung als "Black Man" ist im zeithistorischen Kontext zu betrachten. Er selbst und ebenso andere Autor_innen aus den 1950er und 60er Jahren, darunter die Jazzkritiker Nat Hentoff und Martin Williams, nennen seine Hautfarbe nicht, sie ist kein Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Jazzgeschichte, zu Mingus' Entwicklung, zu seinen Gedanken über Komposition oder seinen Anmerkungen zu den einzelnen Stücken. Auch in Konzert- und Albumrezensionen in US-amerikanischen und britischen Tageszeitungen jener Zeit wird Mingus' Hautfarbe nicht thematisiert. Nat Hentoff schreibt 1966 über die jüngeren Musiker wie Cecil Taylor, Archie Shepp oder Pharoah Sanders von einer neuen "Black Consciousness", über Mingus berichtet er rückblickend: Mitte der 1950er Jahre habe ein "most black musician" im New Yorker Club Five Spot Mingus verspottet und gesagt, er könne den Blues nicht spielen, weil er nicht schwarz genug sei. Im Ringen um Identität habe sich Mingus mehr ins Zeug gelegt, um zu beweisen, dass er den Blues spielen könne. Die Anekdote verweist auf einen der perfidesten Auswüchse des US-amerikanischen Rassismus: Mingus' Vater vermittelte ihm als Kind mit afroamerikanischen, chinesisch-britischen und indigenen amerikanischen Vorfahren, er sei anderen aufgrund seiner helleren Hautfarbe überlegen. In der Nachbarschaft in Watts, einem Vorort von Los Angeles, bezeichneten sich Mexikaner als Spanier, Chinesen als Weiße, und Afroamerikaner standen am unteren Ende. Der Kampf, den Mingus anspricht, ist auch jener gegen den strukturellen Rassismus, der bewirkt, dass Menschen of Color unter dem Primat "weiß" einander hierarchisieren.

Mingus stand den jüngeren Musikern des "Black Consciousness" kritisch gegenüber. Er war überzeugt, er könne nur aus sich selbst heraus schöpferisch sein, und sein Anliegen war, der Gesellschaft ihre eigene Folk Music zurückzugeben und sie in Nachfolge der Wegbereiter lebendig fortzuführen. In diesem Sinne begreift er Komposition als Selbstermächtigung. Im Text zu "Let My Children Hear Music" schreibt er: "[E]ach jazz musician is supposed to be a composer. Whether he is or not, I' know." Und in einem der letzten Absätze heißt es: "I think it is time our children were raised to think they can play bassoon, oboe, English horn, French horn, full percussion, violin, cello. The results would be – well the Philharmonic would not be the only answer for us then. If we so-called jazz musicians who are the composers, the spontaneous composers, started including these instruments in our music, it would open everything up, it would get rid of prejudice because the musicianship would be so high in caliber that the symphony couldn't refuse us." Wenn Kinder also die Möglichkeit hätten, alle Instrumente des symphonischen Orchesters zu lernen, und sogenannte Jazzmusiker und -komponisten solche Instrumente in ihre Musik einbezögen, könnten Vorurteile abgelegt werden, speziell jene, die aufgrund des strukturellen Rassismus im Jazz festgeschrieben wurden. Ihre Werke könnten dann auch nicht mehr von der klassischen Musikwelt abgelehnt oder ignoriert werden, und nachfolgende Generationen hätten auch genau dort eine Zukunft. Komposition ist in Mingus' Sinne emanzipatorisch, und sie trägt Verantwortung für die musikalische und damit auch die gesellschaftliche Entwicklung.

Heute wie damals

Ich wurde gebeten, meinen Text der Frage zu widmen "Wie politisch kann Jazz sein?". Jazz ist genau dort politisch, wo seine Geschichte geschrieben und Abwertung, Essenzialisierung und die Politisierung von afroamerikanischen Musikschaffenden reproduziert wird.

Ein solches Beispiel ist auch der Text Roland Spiegels anlässlich des 100. Geburtstags von Charles Mingus im April 2022. Aufhänger des Artikels ist nicht Mingus' Musik, sondern seine Persönlichkeit. Begriffe wie "ungebärdiger" oder "ungehobelter Riese", "kreativer Koloss", "XXL-Mann", "Zerrissener", "Besessener", "Schrankenloser", "Zorniger" oder "Drastischer" bestimmen den gesamten Text. Beschreibungen von Mingus' Musik, seinem Spiel und Klang, seiner Kompositionsweise und seinem musikalischen Denken nehmen nur sehr wenig Raum ein. Vielmehr überwiegt die Sensationsgier. Zwar erwähnt Spiegel allerlei Anekdoten aus Sue Graham Mingus' Buch, er unterschlägt aber den historischen Kontext: Wenn Afroamerikaner_innen seinerzeit überhaupt ein Restaurant oder eine Bar betreten durften, wurde nicht angenommen, sie verfügten über die entsprechenden finanziellen Mittel, sie wurden als störend für weiße Gäst_innen angesehen und drangsaliert. Gegen diesen Rassismus wehrte sich Mingus, wenn er vier Hauptgerichte oder 25 Drinks bestellte, um sein Recht auf Präsenz an ebendiesem Ort einzufordern und die Bevormundung zu entblößen. Lediglich zu schreiben, Mingus habe unter seiner hellen Hautfarbe gelitten und sein Leben sei "geprägt gewesen von Identitätskrisen", verkennt ebenjenen strukturellen Rassismus, pathologisiert Mingus' Persönlichkeit und stellt ihn in verkürzender Weise passiv dar. Passivität unterstellt auch die Aussage, Mingus habe seine Musik "in den Dienst der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gestellt", sie habe "auf Gewalt gegen Afroamerikaner" reagiert. Mingus' Bezugnahme auf konkrete politische Ereignisse mit "einer Handvoll lautstarker Stücke", wie Sue Graham Mingus schreibt, ist jedoch kein Beleg für das Mingus unterstellte Anliegen, er habe auf Unrecht und tödliche Gewalt gegen Afroamerikaner aufmerksam machen wollen.

Unter dieser Perspektive wird seinem Schaffen eine außermusikalische Matrix aufgesetzt, die einen unvoreingenommenen Blick in seine – im Wortsinn – Werkstatt verhindert. 1953 begründete Mingus in New York den "Jazz Workshop", eine Werkstatt für Bands mit profilierten Musikern und wechselnden Solisten. Hier förderte er musikalischen Nachwuchs, entwickelte seine kompositorischen Verfahren und die Lehre vom emanzipatorischen Potenzial und der Verantwortlichkeit von Komposition für das Erbe und die Zukunft der Musik. Dieses Schaffen reicht weit über Protest gegen konkrete historische Ereignisse hinaus. Überdies reduziert auch Spiegels Behauptung, Mingus habe "Schwarze Musik" machen wollen, sein Werk als Komponist, Musiker, Bandleader, Vordenker und Förderer allein auf die Hautfarbe.

Es wäre an der Zeit, dass sich die Jazzkritik ihrer tradierten rassistischen Grundannahmen und Perspektiven bewusst wird, diese hinterfragt und ablegt. Bis dahin gilt, was Theodor W. Adorno bereits 1953 feststellte: "Eher möchte ich nach meinen schwachen Kräften die
[Afroamerikaner ] gegen die Entwürdigung verteidigen, die ihnen widerfährt, wo man ihre Ausdrucksfähigkeit für die Leistung von Exzentrikclowns missbraucht. Daß es unter den fans ehrlich protestierende, nach Freiheit begierige Menschen gibt, weiß ich (…). Gern rechne ich Berendt zu denen, die eben darauf ansprechen. Aber ich glaube, daß ihre Sehnsucht, vielleicht infolge des abscheulichen musikalischen Bildungsprivilegs, das in der Welt herrscht, auf eine falsche Urtümlichkeit abgelenkt und autoritär gesteuert wird. (…) Ist es nicht eine Beleidigung der Afroamerikaner, die Vergangenheit ihres Sklavendaseins seelisch in ihnen zu mobilisieren, um sie zu solchen Diensten tauglich zu machen?"

ist freie Journalistin. Sie produziert Sendungen und Beiträge unter anderem für den SWR und den Deutschlandfunk und schreibt für die "taz".
E-Mail Link: contact@franziska-buhre.de