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Die erste britische Kolonie | Vereinigtes Königreich | bpb.de

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Die erste britische Kolonie Irland und das Vereinigte Königreich

Kevin Kenny

/ 15 Minuten zu lesen

Irland war eine britische Kolonie besonderer Art: Einerseits waren Iren koloniale Untertanen, andererseits beteiligten sie sich an imperialen Eroberungen. Dem Britischen Empire diente die Nachbarinsel als Labor kolonialer Praktiken, die ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen.

Die Geschichte Irlands ist maßgeblich von einem geografischen Zufall geprägt: Zu seinem Unglück, manchmal aber auch zu seinem Vorteil, liegt das Land neben ebenjener Insel, die das umfassendste Imperium hervorbrachte, das die Welt je gesehen hat. Ursprünglich war die Eroberung Irlands weder ökonomisch oder religiös, sondern strategisch begründet: Englands imperialen Hauptrivalen Spanien und Frankreich durfte keine Hintertür für eine Invasion gelassen werden. Wie der Historiker Tom Barlett es formuliert: "Selbst wenn Irland ein bloßer Felsen gewesen wäre, hätte es durch seine Nähe zu Kontinentaleuropa und England in den Augen der Engländer einen allzu komfortablen Stützpunkt für ausländische Feinde und einen wahrscheinlichen Zufluchtsort für einheimische Rebellen und Querulanten dargestellt." Die Unterwerfung Irlands gewährleistete wiederum die Sicherheit, die es dem britischen Staat ermöglichte, im Einklang mit unternehmerischen Interessen zur imperialen Eroberung jenseits des Atlantiks aufzubrechen.

Wenn die Nähe zu England das historische Schicksal Irlands besiegelte, erklärt sie zum Teil auch, weshalb sich Irlands kolonialer Status so oft als kontrovers und schwer erklärbar erwies. In dem Maße, in dem der Begriff "Kolonie" Bilder von weit entfernten ausländischen Besitztümern, rassistischer Unterdrückung oder Sklaverei hervorruft, passt Irland nicht ohne Weiteres in dieses Raster. Im Gegenteil, das Land befand sich im Herzen des Britischen Empire; trotz allem war es ein imperialer Besitz. Das britische Weltreich bestand aus vielen verschiedenen Arten von Kolonien, nicht nur einer: Kronkolonien, Siedlerkolonien, Protektorate, Mandate, Handelshäfen, Marinebasen, Dominions und Dependenzen. Irland war eine Kolonie besonderer Art.

Irlands verfassungsrechtlicher Status trug ebenfalls zur Ambiguität bei. Ab 1541 hatte das Land nominell den Status eines Königreiches, jedoch ohne einen eigenen Monarchen. Über viele Jahrhunderte hatte Irland ein eigenes Parlament, doch dieses tagte nur gelegentlich und verfügte über wenig legislative Autonomie, abgesehen von einer kurzen Zeit in den 1780er und 1790er Jahren. Zwischen dem Act of Union von 1800, durch den die Königreiche Großbritannien und Irland vereint wurden, und dem Anglo-Irischen Vertrag von 1921 hatte Irland kein eigenes Parlament; doch mit 100 Vertretern im britischen Unterhaus war es ein – scheinbar – ebenbürtiger Partner im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland. 1920 wurde Irland in zwei Staaten geteilt, wobei 26 der 32 Countys innerhalb des Britischen Empire einen gewissen Grad an Autonomie erhielten, was den republikanischen Forderungen einer vollständigen Unabhängigkeit jedoch nicht gerecht wurde und einen Bürgerkrieg auslöste. Die anderen sechs Countys in Nordirland verblieben im Vereinigten Königreich. 1937 wurde Irland de facto eine Republik, allerdings noch nicht namentlich; 1948 erklärte sich das Land offiziell zur Republik und verließ das Commonwealth. Nordirland ist auch heute noch Teil der 1800 geschaffenen Union und somit Großbritanniens letzte bedeutende Kolonie – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich ein Großteil seiner Bevölkerung möglicherweise dagegen entscheidet.

Ursprünge

Wenn Irland die erste britische Kolonie war – wann begann dann die Kolonisierung? Gemäß dem Mythos von "800 Jahren britischer Tyrannei", lässt sich die koloniale Unterwerfung bis zur normannischen Eroberung im 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Doch viele der normannischen Kolonisten wurden gälisierte "Altengländer" und widersetzten sich der britischen Expansion nach Irland im 16. und 17. Jahrhundert. Auch war Großbritannien im Mittelalter noch nicht der zentralisierte Staat, zu dem er in der Frühen Neuzeit werden sollte. Vor dem 17. Jahrhundert gab es noch kein Britisches Empire – weder als Konzept noch als Prozess. Der Begriff "britisch" verbreitete sich erst mit der Vereinigung der Kronen von Schottland und England im Jahr 1603, als König James VI. von Schottland zu James I., König von England, Schottland und Irland wurde; die Bezeichnung "British Empire" entwickelte sich erst im Laufe des darauffolgenden Jahrhunderts. Wie der Historiker David Armitage anmerkt, wurden "vor 1603 keine dauerhaften Kolonien gegründet (tatsächlich ließ sich bis in die späten 1620er Jahre keine als permanent bezeichnen), Freibeuterei war lediglich ein Euphemismus für Piraterie, und der Horizont der meisten Elisabethaner lag fest auf den drei Königreichen und deren Problemen, statt auf der weiten Welt".

Das Britische Empire entstand somit eher aus einem Kampf um die Vorherrschaft auf den Britischen Inseln als durch die unmittelbare Aneignung ferner Überseegebiete. Dieser Kampf begann mit dynastischen Konflikten in England und der Eroberung der keltischen Peripherie. Die Kolonisierung Irlands war daher nicht bloß Nebenschauplatz auf dem Weg zum Empire: Sie war zentraler Bestandteil und wesentliche Voraussetzung für die imperiale Expansion des frühneuzeitlichen Großbritanniens. Die kolonialen britischen Siedlungen waren auf beiden Seiten des Atlantiks von den gleichen Arten von Unternehmen und Handelsgesellschaften geprägt – und oftmals auch von den gleichen imperialen Abenteurern, allen voran Sir Humphrey Gilbert und Sir Walter Raleigh.

Die Plantation of Ulster, die großflächige Landenteignung der einheimischen Bevölkerung und koloniale Besiedlung der nordirischen Provinz Ulster im Laufe des 17. Jahrhunderts, markiert den Beginn dauerhafter britischer Herrschaft über Irland – zusammen mit der Eroberung durch Oliver Cromwell in den 1650er Jahren, die der 1641 begonnenen Irischen Rebellion ein endgültiges Ende bereitete. Die Kolonisierung nahm eine große Bandbreite überlappender Formen an – militärisch, ökonomisch, politisch, administrativ, rechtlich, religiös und kulturell –, getragen von einer Ideologie, die auf einer Distinktion zwischen vermeintlicher Barbarei und Zivilisiertheit beruhte und intensiviert wurde durch die reformationsbedingte strikte Trennung von Katholiken und Protestanten. Entscheidend war die Einführung des englischen Rechts, denn es erlaubte die Beschlagnahmung und Umverteilung von Land, die Verdrängung der irisch-katholischen Bevölkerung sowie die Ansiedlung von Protestanten aus England und Schottland. Die alte gälische Ordnung wurde zerstört und durch eine dreiteilige religiös-politische Struktur ersetzt, in der eine neue anglikanische Klasse englischen Ursprungs über die einheimische katholische Bevölkerung herrschte (Protestant Ascendancy, protestantische Vorherrschaft), unterstützt von Presbyterianern schottischen Ursprungs, besonders in Ulster.

Als Abweichler von der etablierten anglikanischen Kirche sahen sich die Presbyterianer jedoch selbst religiösen Benachteiligungen ausgesetzt und zettelten 1798, inspiriert von Grundsätzen der Amerikanischen und Französischen Revolutionen, Irlands bis dahin größten Aufstand an. Als Reaktion wurde das Dubliner Parlament abgeschafft und Irland durch den Act of Union von 1800 formal in die britische Verfassungsstruktur eingegliedert. Unterstützer dieser Regelung argumentierten, dass nicht nur Großbritannien und das Empire von einer konstitutionellen Einheit mit einer einzigen imperialen Rechtsprechung profitieren würden, sondern auch Irland. Der Umstand, dass Irland in das Vereinigte Königreich integriert war, inklusive irischer Abgeordneter im Londoner Parlament, ließe sich auf den ersten Blick für eine Art Gleichberechtigung halten. Doch die Eingliederung in die Metropole ohne jegliche Beteiligung der entmachteten katholischen Bevölkerungsmehrheit verweist auf ein erhebliches Maß kolonialer Kontrolle und Abhängigkeit, auch wenn Irland im Dublin Castle über eine eigene Exekutive mit einem Chief Secretary und einem Lord Lieutenant verfügte. Dieses Arrangement wurde zum Modell für die britische Herrschaft in Indien. Mit Blick auf Regierungsverwaltung, Polizei, Bildung und Landreform wurde Irland somit zu einem Labor des Empire, einem Experimentierfeld für Strategien und Maßnahmen, die auch in den imperialen Überseegebieten Anwendung finden sollten.

Hungersnot

Die große Hungersnot der 1840er und 1850er Jahre warf die Frage über Irlands Platz in der Union und im Empire neu auf. Von der irischen Bevölkerung, die 1845 einen historischen Höchststand von 8,5 Millionen erreicht hatte, starben mehr als eine Million Menschen an Unterernährung sowie Krankheit, weitere zwei Millionen emigrierten. Die Einwohnerzahl ging innerhalb eines Jahrzehnts um über ein Drittel zurück – ein demografisches Ereignis ohne Parallele in der modernen europäischen Geschichte und mit massiven Langzeitfolgen. Bis 1901 sank die Einwohnerzahl auf 4,5 Millionen; heute steht sie bei etwas über 7 Millionen.

Aus seinem Exil in den Vereinigten Staaten schrieb der irische Revolutionär John Mitchel 1860, eine Million irische "Männer, Frauen und Kinder wurden sorgfältig, wohlüberlegt und friedvoll von der englischen Regierung ermordet. Sie starben an Hunger inmitten von Überfluss, den ihre eigenen Hände geschaffen hatten." Die Hungersnot, insistierte Mitchel, sei nicht das Resultat göttlicher Vorsehung, wie das britische Establishment unterstellte, sondern nachweislich Vorsatz: "Die britische Darstellung der Angelegenheit ist erstens Schwindel – zweitens Blasphemie. Der Allmächtige schickte in der Tat die Kartoffelfäule, aber die Engländer schufen die Hungersnot." Trotz der Katastrophe, so sagte er voraus, würde Irlands Wunsch nach Unabhängigkeit bestehen bleiben, "solange unsere Insel sich weigert, wie Schottland eine zufriedene Provinz ihrer Feinde zu sein". Für Mitchel würde Irlands "leidenschaftliches Streben nach Nationalstaatlichkeit" das "Britische Empire überdauern".

Wenige Historikerinnen und Historiker heute würden Mitchels Behauptung eines Völkermords, im Sinne vorsätzlicher systematischer Auslöschung, zustimmen. Doch viele Regierungsvertreter und andere Mitglieder der britischen Eliten sahen die Krise als Geschenk des Himmels, um "die irische Frage" – das heißt das dortige Bevölkerungswachstum, die verbreitete Armut, Gewalt und vermeintliche Faulheit – zu lösen. Die Regierung experimentierte in den ersten beiden Jahren der Hungerkrise mit verschiedenen Hilfsmaßnahmen, vom Verkauf von Mais zum Marktpreis bis zur Verteilung von kostenlosem Essen in Suppenküchen. Doch 1847 übertrug Westminister die Last der Hilfsmaßnahmen vollständig auf die lokale Armenfürsorge, die sogenannten poor law unions, die aus Steuern von Bauern und Grundeigentümern finanziert wurden. "Es gibt nur einen Weg, wie die Unterstützung der Bedürftigen jemals mit dem Allgemeinwohl in Einklang gebracht wurde oder werden wird, und zwar indem man sie zu einer lokalen Verantwortung macht", schrieb Charles Trevelyan, der britische Beamte, der für die Hungerhilfe zuständig war. "Wir sind der bescheidenen, aber aufrichtigen Überzeugung, dass Irlands Stunde der Erneuerung gekommen ist. Die tiefe und hartnäckige Wurzel des sozialen Übels (…) wurde durch den Schlag einer allwissenden und barmherzigen Vorsehung entblößt, als ob dieser Teil des Falles jenseits der alleinigen Kraft des Menschen läge."

Die britischen Regierungsvertreter hatten zwar nicht die Absicht, die Iren auszurotten, aber sie ließen die Geschichte ihren vermeintlich göttlich bestimmten Lauf nehmen. Um die Geschichte in dieser Spur zu halten, verlangte der Poor Law Extension Act von 1847 von Pächtern, dass sie bis auf ein Viertel Acre (etwa 1.000 Quadratmeter) all ihren Landbesitz abtreten mussten, um öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können – eine Regelung, die die Armen am Leben hielt, indem sie dafür sorgte, dass diese nicht als Bauern überleben konnten und von ihrem Land vertrieben wurden. Die meisten Überlebenden emigrierten. Grundeigentümer, die das Hilfssystem finanzieren mussten, aber nicht in der Lage waren, die Mietschulden der hungernden Pächter einzutreiben, griffen massenhaft zu Zwangsvertreibungen, um dem eigenen Bankrott zu entgehen.

Kurzum: Irland für seine eigene Hungerhilfe zahlen zu lassen, war eine katastrophale Entscheidung. Mitchels Anschuldigungen fanden Anklang bei vielen irischen Emigranten, insbesondere in den Vereinigten Staaten, dem bevorzugten Auswanderungsziel. Historiker sollten seine Worte daher ernst nehmen, auch wenn sie analytisch nicht mit ihm einverstanden sind. Die Vorstellung, dass die Briten die Hungersnot herbeigeführt hatten, wurde für irischstämmige Gemeinschaften im Ausland sinnstiftend und trug im ethnischen und diasporischen irischen Nationalismus zu einem starken antiimperialistischen Bewusstsein bei.

Moderate Nationalstaatsverfechter interpretierten die Ereignisse der 1840er Jahre zudem als Krise der Union und des Empire. Isaac Butt, Mitbegründer der Home-Rule-Bewegung, die die Wiederherstellung der legislativen Autonomie Irlands forderte, argumentierte, dass die britische Reaktion auf die Hungersnot das koloniale Wesen der Union offengelegt habe: "Wenn die Union kein Scherz ist", schrieb er, "dann gibt es so etwas wie eine englische Staatskasse nicht. Der Schatzmeister ist der Schatzmeister des Vereinigten Königreichs." Mit anderen Worten: Das Vereinigte Königreich war für die Linderung der Hungersnot in seinem gesamten Hoheitsgebiet verantwortlich; Irland konnte mit der Bewältigung der Krise nicht alleingelassen werden. "Wäre Cornwall von Szenen heimgesucht worden, wie sie Cork verwüstet haben", fragte Butt, "wären dann ähnliche Argumente herangezogen worden?" Für ihn war die irische Hungersnot kein lokales Problem: "All unsere Maßnahmen beruhen auf dem Prinzip, dass diese Katastrophe als eine imperiale zu betrachten ist und vom Empire als Ganzes getragen werden muss." Die Iren hätten keine andere Wahl, "als das Gefühl zu haben, dass das vereinigte Parlament seine Regierungsfunktion für Irland aufgegeben hat, und für ihr Land eine separate legislative Existenz einzufordern." Wie ein unabhängiges Dubliner Parlament auf die Hungersnot reagiert hätte, ist reine Spekulation, aber die Ereignisse der 1840er Jahre unterminierten jede Behauptung, Irland sei ein integriertes und gleichberechtigtes Mitglied des Vereinigten Königreichs und des Britischen Empire.

Imperiale Möglichkeiten

Während die Iren einerseits zu einer Kolonie im Herzen des Britischen Empire gehörten, waren sie andererseits an imperialen Eroberungen beteiligt – sie waren sowohl Untertanen als auch Agenten des Empire. In den Worten des Historikers Alvin Jackson: "Iren, die zuhause möglicherweise eingeschränkt gewesen wären, hatten freien Zugang zum Empire und den sozialen und ökonomischen Möglichkeiten, die es bot. Deshalb war das Empire für Irland Fessel und Schlüssel zugleich: Es war der Ursprung von Einschränkung und Befreiung." Irische Männer, in geringerem Maße auch Frauen, traf man überall im Empire an – als Immigranten und Siedler, die indigene Bevölkerungen in Nordamerika, Australien und Neuseeland vertrieben, als Soldaten, Ärzte und Kolonialoffiziere in Indien und den Dominions sowie als Missionare in Asien und vor allem in Afrika.

Manche Historikerinnen und Historiker erkannten in der imperialen Partizipation der Iren einen Widerspruch oder sogar ein Paradox. Wenn die Iren andere kolonisierten, wie konnte Irland selbst eine Kolonie sein? Doch im Laufe der Geschichte haben Kolonisierte immer wieder an der Regierung ihrer Heimatländer mitgewirkt, und viele von ihnen haben sich an der Eroberung und kolonialen Verwaltung anderer Territorien innerhalb desselben Reiches beteiligt. Inder halfen Briten dabei, Indien zu regieren, und sie haben in großer Zahl in der britischen Armee gedient, sowohl in ihrer Heimat als auch andernorts im Empire. Der irische Fall ist also eine spezifische Variation eines geläufigen Motivs der Imperialgeschichte.

Die meisten Iren im Empire gingen als Auswanderer in die Siedlerkolonien. Auswanderung ist in der Tat das dominierende Moment der modernen irischen Geschichte. Mehr als zehn Millionen Männer, Frauen und Kinder haben Irland seit 1700 für Ziele in Übersee verlassen. Über sechs Millionen gingen in die Vereinigten Staaten, vielleicht 2,5 Millionen nach Großbritannien und der Rest nach Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika. Nahezu alle irischen Auswanderer haben sich in anglophonen Kolonien, ehemaligen Kolonien, britischen Dominions oder in Großbritannien selbst niedergelassen. Aber in welchem Maß können die Ursprünge der irischen Emigration durch Kolonialismus erklärt werden? Im Allgemeinen lässt sich plausibel argumentieren, dass die irische Auswanderung mit Armut und Unterentwicklung verbunden war, die wiederum ihren Ursprung in der Eroberung und Kolonisierung und der anhaltenden imperialen Missregierung hatten. Irland war arm, weil es kolonisiert wurde, und die Emigranten des 19. Jahrhunderts stammten vorwiegend von der enteigneten katholischen Bevölkerung der frühneuzeitlichen Ära ab. Doch es wäre eine starke Vereinfachung, die Auswanderung allein der britisch-imperialen Missregierung zuzuschreiben oder ab 1920 einzig dem postimperialen Erbe.

Die wichtigsten Ursachen der Auswanderung waren ökonomischer Natur, insbesondere die Verdrängung kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaften durch die anhaltende Kommerzialisierung der irischen Landwirtschaft bei gleichzeitigem Fehlen urbaner oder industrieller Arbeitsplätze. Die sozialen Verhältnisse, die viele zum Aufbruch veranlassten, führten zu einer Art ländlichem Klassenkonflikt, in dem oftmals Iren gegen Iren ausgespielt wurden. Diejenigen, die zurückblieben, profitierten von höheren Löhnen, von der Abnahme sozialer Spannungen sowie von massiven Rücküberweisungen aus dem Ausland. Viele der moderaten Nationalstaatsverfechter, die eine irische Selbstverwaltung forderten und die Emigration nach der Hungersnot ausschließlich britischer Missregierung zuschrieben, enteigneten ihrerseits ärmere Pächter, umzäunten Land für kommerzielle Nutzung und sahen in der Auswanderung ein Exil für den guten Zweck.

Nationalismus

Die irische Nationalstaatsbewegung zeigte sich in zwei Hauptformen, zwischen denen sich manche prominente Figuren strategisch hin und her bewegten. Die minoritäre, extreme Position – hervorgegangen aus dem internationalen Republikanismus der 1790er Jahre und den Unabhängigkeitsbewegungen der sogenannten Fenians in der Mitte des 19. Jahrhunderts – verlangte einen vollständigen Bruch mit dem Vereinigten Königreich und dem Empire, unter Verwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel, inklusive Gewalt. Die vorherrschende, moderate Position – deutlich erkennbar in Daniel O’Connells Kampagne zur Auflösung der Union in den 1840er Jahren und Charles Stewart Parnells Home-Rule-Bewegung in den 1880er Jahren – rief nach legislativer Autonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs. Obwohl keiner der entsprechenden Gesetzentwürfe eine Loslösung aus der Union oder dem Empire vorsah, kam eine irische Selbstverwaltung zunächst nicht infrage: Die erste Home Rule Bill scheiterte 1886 im Unterhaus, die zweite von 1893 am Veto des Oberhauses. 1911 verloren die Lords jedoch ihr Vetorecht über die Commons.

Die dritte Home Rule Bill, vorgelegt im April 1912, führte Irland an den Rand eines Bürgerkrieges zwischen zwei paramilitärischen Kräften, der Ulster Volunteer Force im Norden und den Irish Volunteers im Süden. Mit der Abschwächung des Oberhaus-Vetos in ein dreijähriges Moratorium wurde die Home Rule Bill im September 1914 schließlich verabschiedet. Doch einen Monat zuvor war in Europa Krieg ausgebrochen, und so wurde die Umsetzung des Gesetzes ausgesetzt. Als der Anführer der moderaten Nationalisten, John Redmond, der auf der Vereinbarkeit von Home Rule mit imperialer Loyalität und Einheit beharrte, den Iren nahelegte, sich der britischen Armee anzuschließen und zu kämpfen, lösten sich die Irish Volunteers auf. Die Mehrheit, etwa 150.000 Menschen, schlugen sich auf Redmonds Seite. Nur um die 7.500 sagten sich los, diese aber spielten eine zentrale Rolle bei der Planung des Osteraufstands 1916, der von separatistischen Nationalisten angeführt wurde, die eine weitere irische Beteiligung an der Politik von Westminster ablehnten und Irland zur unabhängigen Republik erklärten.

Der Osteraufstand fand inmitten des Ersten Weltkriegs statt – in dessen Lauf sich rund 200.000 Iren der britischen Armee anschlossen – und zu einer Zeit wachsender Krisen innerhalb des Empire, mit rebellierenden Buren in Südafrika und umfassenden Unruhen in Nigeria, Ägypten und Indien. Der duale Kontext von Kriegsnot und imperialen Unruhen hilft, die Härte der britischen Reaktion auf den Aufstand zu erklären, inklusive der Hinrichtung von 14 Anführern. Angesichts des bewaffneten Kampfes für die Anerkennung der Irischen Republik, der auf die Unterhauswahl 1918 folgte, äußerten britische Offizielle häufig die Befürchtung, dass der Verlust Irlands das imperiale Gebäude im Mark erschüttern und Nationalstaatsbewegungen rund um die Welt ein Vorbild liefern werde.

Als im Juli 1921 im Unabhängigkeitskrieg ein Waffenstillstand ausgerufen wurde, drehte sich die Hauptfrage jedoch nicht um Unabhängigkeit oder nationale Einheit, sondern darum, ob ein unabhängiges Irland im Empire und dem König gegenüber loyal bleiben würde. Der Government of Ireland Act von 1920 hatte die Insel bereits in zwei getrennte Staaten aufgeteilt. Wie später in Indien, Palästina und Zypern lag auch in Irland die imperiale Lösung für ethnische und religiöse Spannungen darin, Linien auf einer Karte zu ziehen. Nachdem es der britischen Regierung gelungen war, die Kontrolle über Nordirland zu behalten, bot sie den anderen 26 irischen Countys den Status eines Dominions an – in Form einer fortgesetzten Mitgliedschaft im Empire, einem Treueeid auf die Krone und einem Verteidigungsabkommen. Der Anführer der irischen Republikaner, Éamon de Valera, pochte jedoch auf Irlands Recht, sein eigenes republikanisches Schicksal zu verwirklichen, wie es 1916 deklariert worden war. Doch er und die anderen Gegner des Anglo-Irischen Vertrages von 1921 verloren in den Jahren 1922/23 den kurzen wie brutalen Bürgerkrieg um die Frage der Unabhängigkeit, und der Irische Freistaat konsolidierte seine Kontrolle über die 26 Countys. "Durch den Wink mit einem konstitutionellen Zauberstab", wie es die Historikerin Deirdre McMahon formuliert, "bekam Irland den gleichen Verfassungsstatus wie Kanada. Die kanadische Analogie basierte jedoch auf einem grundlegenden Missverständnis. Anders als Kanada wurde Irland zu einem Dominion durch Revolution, nicht durch Evolution. (…) Die Iren hatten nie danach gefragt; es kam zu spät; es war aufgezwungen; und es ging einher mit Spaltung und Bürgerkrieg. Überraschend ist, dass es so lange Bestand gehabt hat." Im Jahr 1948 kappte die neu ausgerufene Republik Irland ihre letzte bestehende Verbindung zu Großbritannien und seinem Empire.

Der Nordirlandkonflikt, auch The Troubles genannt, brachte von den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre einen lokalen Bürgerkrieg über den Teil Irlands, der im 17. Jahrhundert am intensivsten kolonisiert worden war, und führte zum längsten Militäreinsatz in der britischen Geschichte. Nationalistische Hardliner, bekannt als Republikaner, betrachteten den Konflikt als einen Kampf zur Befreiung der ersten und letzten britischen Kolonie, wohingegen Unionisten ihr koloniales Siedlererbe rühmten und dafür kämpften, ihre britische Identität zu bewahren. Die Menschen in der Irischen Republik standen der republikanischen Bewegung im Norden und dem Ziel der nationalen Wiedervereinigung durch Gewalt größtenteils skeptisch gegenüber.

Durch die Verortung "zwischen Berlin und Boston", wie ein beliebtes Sprichwort heißt, unterhält die Irische Republik heute enge ökonomische und politische Verbindungen zu den Vereinigten Staaten, während sie enorm von ihrer Mitgliedschaft und Teilhabe in der Europäischen Union profitiert. Die meisten ihrer Bürgerinnen und Bürger stehen enthusiastisch hinter ihrer europäischen Identität, während ihre britischen Nachbarn damit ringen, sich mit den Realitäten des Brexits zu arrangieren. Eher unerwartet ist eine irische Vereinigung heute wieder zu einer realen Möglichkeit geworden. Eine gemeinsame europäische Identität über die gesamte Insel hinweg, als Ersatz für eine ältere Politik, die auf einer britischen versus einer antibritischen Identität beruht, könnte der Schlüssel sein, um die Spaltungen der kolonialen Vergangenheit zu überwinden.

Aus dem Englischen von Maximilian Murmann, München

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thomas Bartlett, Ireland, Empire, and Union, 1690–1801, in: Kevin Kenny (Hrsg.), Ireland and the British Empire, Oxford 2004, S. 61–89, hier S. 61.

  2. David Armitage, Literature and Empire, in: Nicholas Canny (Hrsg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 1: The Origins of Empire, Oxford 1998, S. 99–123, hier S. 101.

  3. Vgl. David Armitage, Ideological Origins of the British Empire, Cambridge 2000, insb. S. 1–60; Nicholas Canny, Introduction, in: ders. (Anm. 2), S. 1–33; ders., English Migration into and across the Atlantic during the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: ders. (Hrsg.), Europeans on the Move: Studies in European Migration, 1500–1800, Oxford 1994, S. 39–75, hier S. 61f.

  4. John Mitchel, The Last Conquest of Ireland (Perhaps), zit. nach Peter Gray, The Irish Famine, New York 1995, S. 178f.

  5. Charles Trevelyan zit. nach Gray (Anm. 4), S. 153, Hervorhebung im Original.

  6. Kerby A. Miller, Emigrants and Exiles: Ireland and the Irish Exodus to North America, New York 1985.

  7. Isaac Butt, The Famine in the Land, in: Dublin University Magazine XXIX, April 1847, zit. nach Gray (Anm. 4), S. 156f.

  8. Alvin Jackson, Ireland, the Union, and the Empire, 1800–1960, in: Kenny (Anm. 1), S. 123–153, hier S. 136.

  9. Breandán Mac Suibhne, The End of Outrage: Post-Famine Adjustment in Rural Ireland, Oxford 2017; Miller (Anm. 6), S. 345–492.

  10. Deirdre McMahon, Ireland, the Empire, and the Commonwealth, in: Kenny (Anm. 1), S. 182–219, hier S. 210.

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ist Professor für Geschichte und Irish Studies an der New York University, USA, und Präsident der Immigration and Ethnic History Society.
E-Mail Link: kevin.kenny@nyu.edu