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Schottlands umstrittene Zukunft

Roland Sturm

/ 14 Minuten zu lesen

Was wird aus Schottland? Ist Unabhängigkeit eine Option der Vergangenheit, nachdem eine Mehrheit der Schotten diese beim Referendum 2014 ablehnte? Oder hat das Brexit-Referendum die Weichen neu pro Unabhängigkeit gestellt? Schottlands Zukunft bleibt in der Schwebe.

Am 3. Oktober 2022 starb Ian Hamilton, Anwalt und Aktivist des schottischen Nationalismus, im Alter von 97 Jahren. Hamilton war berühmt geworden, weil er an Weihnachten 1950 mit drei Kommilitonen den Stone of Scone, einen von den frühmittelalterlichen Pikten als magisch verehrten Sandsteinblock, aus der Londoner Westminster Abbey gestohlen und diesen zurück nach Schottland gebracht hatte. Der über 150 Kilogramm schwere "Schicksalsstein" der Schotten war vom englischen König Edward I. 1296 aus der schottischen Scone Abbey entwendet worden. Seither war er unter der Sitzfläche des hölzernen Königsthrons angebracht, was der Legende nach garantieren sollte, dass Schottland nie frei sein werde, solange der Stein in London verbliebe. Im 14. Jahrhundert hatte Edward III. zwar versprochen, ihn zurückzugeben, dies aber nie getan. Nach Hamiltons Coup fand die Polizei den Stein schließlich im April 1951 in Schottland und brachte ihn nach Westminster zurück. 1996 kam er nach Edinburgh Castle – auf Leihbasis. Die Geschichte des Stone of Scone steht symbolisch für das Schicksal der Schotten, die seit 1998 ein eigenes Parlament haben – verfassungsrechtlich "auf Leihbasis", denn das Westminster-Parlament in London könnte das schottische Parlament durch Änderung der Dezentralisierungsgesetzgebung (Devolution), trotz anderslautender Garantien im Umfeld des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014, jederzeit abschaffen (was allerdings unwahrscheinlich ist).

Was wird aus Schottland? Hat die Devolutionspolitik der britischen Regierung unter Tony Blair Ende der 1990er Jahre, wie die Gegner der Devolution behaupteten, Schottlands Politik auf eine abschüssige Straße gestellt, auf der das Land ungebremst auf die Loslösung aus dem Vereinigten Königreich zurast? Oder ist die Unabhängigkeit nur noch eine Option der Vergangenheit, nachdem eine Mehrheit der Schotten bei der Volksabstimmung 2014 diese ablehnte? Hat das Brexit-Referendum 2016 die Weichen neu pro Unabhängigkeit gestellt? Welche weiteren Optionen haben die Unabhängigkeitsbefürworter, wenn es zu keinem zweiten Referendum kommt?

Politische Entfremdung

Das Verhältnis Schottlands zum Vereinigten Königreich und daran anknüpfende staatsrechtliche Fragen entscheiden sich letztendlich auf der Grundlage des Selbstverständnisses der schottischen Bevölkerung. Dass Schottland eine Nation ist, also mehr als eine britische Region, ist unumstritten. Auch die britische Regierung akzeptiert inzwischen, dass Schottland sich in einer freiwilligen Union mit England befindet. Die Mehrheit der schottischen Bevölkerung fühlt sich in erster Linie als "schottisch", was durch den eigenen schottischen Kommunikationsraum, ein eigenes Gesundheits-, Bildungs- und Rechtssystem, eine eigene Nationalkirche und viele weitere schottische Besonderheiten auch im Alltag beständig Bestätigung findet.

Für das schottische Selbstverständnis erwies sich die britische Devolutionspolitik als besonders förderlich. Die Regierung Blair (1997–2007) wollte mit dem Gewähren einer eigenständigen schottischen Repräsentation mit begrenzten Rechten – einer Art Kommunalregierung, gewählt nach einem neuen Wahlsystem, das der Labour Party in ihrer schottischen Hochburg die (Mit-)Regierung in Edinburgh garantierte – ihre Position in Schottland festigen und Schottlands Entfremdung vom Vereinigten Königreich vermeiden. Blair dazu in seinen Memoiren: "Wir wollten auf keinen Fall, dass die Schotten den Eindruck hatten, sie könnten nur zwischen Status quo und Separation wählen."

Tatsächlich verringerte die Devolutionspolitik aber nicht den Einfluss des Separatismus. Sie bot der für die schottische Unabhängigkeit eintretenden Schottischen Nationalpartei (SNP) ganz unerwartet eine Plattform für ihre Ablehnung des Londoner Unionismus. Die Ablehnung der Konservativen Partei (im Englischen: Conservative and Unionist Party) in Schottland hatte schon Tradition und verstärkte sich in den Regierungsjahren Margaret Thatchers, deren Politik vielfach als Angriff auf schottische Traditionen und das sozialdemokratische Selbstverständnis des Landes interpretiert wurde. Die schottischen Parlamentswahlen gaben Gelegenheit, dem Unwillen gegen den Unionismus Ausdruck zu geben. 2007 gewann die SNP die nationalen Wahlen in Schottland, und mit Wahlsiegen 2011, 2016 und 2021 ist sie mittlerweile mehr als 15 Jahre lang an der Regierung. In Schottland hatte die Konservative Partei nie eine politische Mehrheit. Das schottische Parteiensystem und der dortige politische Willensbildungsprozess haben sich vom gesamtbritischen abgekoppelt.

Britische Premierminister wie Boris Johnson (2019–2022) oder Liz Truss (2022) haben den Graben zwischen England und Schottland weiter vertieft. Im Umfeld der Wahl 2019 bewertete fast die Hälfte der schottischen Wählerschaft in Umfragen Johnsons Politik mit dem niedrigst möglichen Wert. Die Wahlforschung kommentierte seine Wahl zum Premierminister mit dem Hinweis, die schottische Unabhängigkeit werde in London am Leben gehalten, solange die britische Politik Personen hervorbringe, die in Schottland verhasst ("toxic") sind.

Auf der Ebene des Vereinigten Königreichs wirkt die Dauerherrschaft der Konservativen seit 2010, mit fünf Premierministern seit dem vorerst letzten Labour-Premier Gordon Brown (2007–2010), für die schottische Wählerschaft als dauerhafte Abschreckung von der britischen Politik. Die Konservativen reagieren auf die Devolution, nicht nur in Schottland, mit zaghaften Gesprächsangeboten, die sie – insbesondere im Zuge der Rückverlagerung von Kompetenzen aus Brüssel – jedoch nicht einhalten. Unter Johnson und Truss herrschten Ignoranz und Gesprächsverweigerung vor. Vom aktuellen Premierminister Rishi Sunak wurde wiederholt berichtet, dass er ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum für eine dumme Idee hält ("quite frankly barmy idea").

Bereits die Westminster-Parlamentswahl 2015 markierte das endgültige Ende gesamtbritischer Wahlentscheidungen. Die Wahl zerfiel in ihrem Ergebnis in die Resultate der Referenznationen England, Schottland, Wales und Nordirland, die ihre jeweils eigenständige politische Ausrichtung bestätigt sahen. Die stärkste Partei in England wurden die Konservativen, in Schottland gewann die SNP, in Wales die Labour Party und in Nordirland die Democratic Unionist Party (DUP). Die Labour Party verlor damit ihre schottische Hochburg – sie hatte sich 2014 durch ihr unionistisches Bündnis mit den Konservativen in der Debatte um die schottische Unabhängigkeit als "Stimme Schottlands" diskreditiert.

Zwei Referenden, noch weniger Klarheit

Die SNP hat sich zu der Partei Schottlands entwickelt (Tabelle 1). Bei ihrer zentralen Forderung nach schottischer Unabhängigkeit und EU-Mitgliedschaft wird sie von den schottischen Grünen und der wenig erfolgreichen Parteiabspaltung Alba unterstützt. Alba wurde vom früheren Parteivorsitzenden Alex Salmond gegründet, der 2014 nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum den Parteivorsitz aufgab. Salmond verließ die SNP, weil sich diese nach seiner Meinung nicht ausreichend für ihn einsetzte, als er wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe angeklagt wurde. Seine Nachfolgerin, auch im Amt des First Minister, wurde Nicola Sturgeon. Die Wahlergebnisse der Kommunalwahlen von 2022, bei denen die SNP erneut stärkste Partei wurde, bestätigten zum wiederholten Male die tiefe Verankerung der SNP in der schottischen Politik.

Der Wahlkampf für die Unabhängigkeit 2014 blieb zwar vergeblich, doch wurde durch ihn viel Unterstützung für die SNP mobilisiert. Mit einer Rekordwahlbeteiligung von 84,6 Prozent erreichte die Frage "Who is Scotland’s voice?" die Mitte der Gesellschaft. Bezeichnenderweise war der Spruch: "No more Tory governments – ever" der beliebteste Wahlslogan der Unabhängigkeitsbewegung. Schon jetzt zeigte sich, dass die Labour Party ihre traditionelle Vorherrschaft in Schottland einbüßen würde: 83 Prozent derjenigen, die für die schottische Unabhängigkeit gestimmt hatten, gaben nun an, SNP wählen zu wollen; bei der Wahl zum britischen Parlament 2015 waren es sogar 90 Prozent aus dieser Gruppe, die die SNP unterstützten. Das Referendum hatte das Potenzial, traditionelle Parteibindungen auf der Links-Rechts-Skala durch eine Identitätsskala – also Nationalismus versus Unionismus – neu zu verorten. Unterstützer der Unabhängigkeit wurden in ihrem Wahlverhalten "schottischer", Gegner der Unabhängigkeit dagegen "britischer".

Ein wichtiges Argument der Unabhängigkeitsgegner im Referendumswahlkampf lautete, dass Schottland auch seine EU-Mitgliedschaft verliere, wenn es das Vereinigte Königreich verlasse – und dies schwerwiegende ökonomische und politische Folgen hätte. Länder wie Spanien würden ein Veto gegen die (Wieder-)Aufnahme von Separatisten in die EU einlegen. Am 23. Juni 2016 fand dann das Brexit-Referendum statt. In Schottland stimmten 62 Prozent für einen Verbleib des Landes in der EU – das war jedoch nicht genug, um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu verhindern. Somit wurde Schottland gegen den Willen der schottischen Bevölkerung und im Widerspruch zu den Versprechungen im Umfeld des Unabhängigkeitsreferendums aufgrund des gesamtbritischen Brexit-Votums aus der EU gezwungen.

Dies schuf aus Sicht der schottischen SNP-Regierung eine neue Situation. Die grundsätzliche Überlegung der Unabhängigkeitsabstimmung von 2014, dass dies ein Votum für die nächste Generation sei, gelte nun nicht mehr. Schottlands Regierungschefin Sturgeon verkündete umgehend, dass die Brexit-Entscheidung ein zweites Unabhängigkeitsreferendum sehr wahrscheinlich mache ("highly likely") und sagte, dass es nach demokratischen Prinzipien inakzeptabel sei ("democratically unacceptable"), Schottland gegen seinen Willen die EU-Mitgliedschaft zu verwehren. Aus schottischer Sicht klangen die Bekundungen der britischen Premierminister Theresa May (2016–2019) und Boris Johnson absurd, dass das Vereinigte Königreich dem Wählerwillen zu folgen habe und deshalb dem 2016 mehrheitlich geäußerten Austrittswunsch aus der EU nachkommen müsse.

Die Annahme, dass der Zwangsaustritt Schottlands aus der EU dem Wunsch nach Unabhängigkeit des Landes vom Vereinigten Königreich einen zusätzlichen Schub verleihen würde, klingt zwar überzeugend. Das schottische Wahlverhalten bei der Parlamentswahl 2017 weist aber auf komplexere Zusammenhänge hin. Das EU-Referendum erzeugte Konfliktlinien, die quer zur Skala Nationalismus–Unionismus lagen. Auf der Skala pro–contra Brexit etwa bildeten die Konservativen einen wichtigen Pol der EU-Mitgliedschaftsgegner. Sie konnten deshalb zahlreiche Wählerinnen und Wähler aus dem SNP-Lager zu sich herüberziehen, die für den Brexit waren. So wie Labour in Schottland 2015 wegen ihrer Ablehnung der Unabhängigkeit Stimmen verloren hatte, verlor die SNP 2017 Stimmen wegen ihrer eindeutig proeuropäischen Haltung. Wähler, die sich für die Unabhängigkeit und für die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen hatten, blieben der SNP erhalten. Auch bei den folgenden Wahlen zum Westminster-Parlament 2019 spalteten die beiden Referenden beziehungsweise die Unabhängigkeitsfrage und die Haltung zum Brexit die schottische Wählerschaft, woraus sich vier Wahlorientierungen ableiten lassen (Tabelle 2).

Die Neuorientierung der Wählerschaft hin zur SNP von 2015 scheint indes dauerhafter als der Einfluss des Brexit. Der EU-Austritt ist inzwischen außerhalb Schottlands Konsens der britischen Politik und fällt deshalb als innerschottischer Streitpunkt weitgehend aus. Aber die Unabhängigkeitsfrage gepaart mit der Londoner Tory-Herrschaft und neuerdings auch wieder mit Perspektiven der Energieunabhängigkeit, die schon einmal in den 1970er Jahren der SNP politische Erfolge brachten, bleibt dem Land erhalten.

Bei den Wahlen 2019 verloren die Konservativen über die Hälfte ihrer schottischen Sitze, und der Vorsprung der SNP "normalisierte" sich. Die Unabhängigkeitsbefürworter machten in Umfragen regelmäßig um oder über die Hälfte der Befragten aus. Die SNP profitierte dabei lange von der Beliebtheit ihrer Parteivorsitzenden und Regierungschefin Sturgeon, die das Land auch während der Covid-19-Pandemie erfolgreich managte, im Februar 2023 jedoch überraschend ihren Rückzug ankündigte.

Optionen für Schottlands Zukunft

Die SNP-Regierung in Schottland hat bei jeder Wahl betont, dass ihr Ziel die Unabhängigkeit Schottlands und – nach 2016 – ein EU-Beitritt des Landes sei. Sie interpretiert ihre Wahlerfolge als Bestätigung ihres Kurses. Der Status quo ist also keine Option, zumal die Regierung in London diesen schrittweise zuungunsten Edinburghs wieder verschlechterte. Weder kam die regelmäßige interministerielle Koordination von Edinburgh und London in ausreichendem Maße in Gang, noch wurde die schottische Autonomie stärker beachtet und ausgebaut, was den Schotten bei einer Ablehnung der Unabhängigkeit 2014 versprochen worden war. Mit der Monarchie, also einem Staatsoberhaupt Charles III., hätte die schottische Regierung keine Probleme, wie der Staatsakt im Parlament in Edinburgh zu Ehren des Todes von Königin Elizabeth II. demonstrierte. Problematisch ist aus schottischer Sicht, dass nach dem Brexit die Rückholung von Kompetenzen aus Brüssel ohne zufriedenstellende Beteiligung der schottischen Regierung und des schottischen Parlaments geschieht, insbesondere wenn es sich um Kompetenzbereiche handelt, die nach den Devolutionsregeln in die Kompetenz Schottlands fallen.

Eine gewaltsame Trennung Schottlands vom Vereinigten Königreich steht nicht auf der Tagesordnung. Die Republik Irland errang ihre Unabhängigkeit dadurch, dass 1918 vier Fünftel der irischen Abgeordneten, nämlich die Mitglieder der Unabhängigkeitspartei Sinn Féin, das britische Parlament verließen und sich in Dublin versammelten, um den First Dáil, das erste irische Parlament seit 1801, zu gründen. Die britische Regierung erklärte den Dáil unverzüglich für illegal und intervenierte militärisch. Der folgende irische Unabhängigkeitskrieg führte 1921 zur Anerkennung des irischen Freistaats im Süden der Insel. Diesem Modell wird Schottland nicht folgen, weil es bereits eine parlamentarische Vertretung besitzt, die britische Regierung nie mit Gewalt gedroht hat und die SNP eine Partei des Gradualismus ist, also mit friedlichen Mitteln und durch Beharrlichkeit das Ziel der Unabhängigkeit erreichen möchte.

Die von der SNP bevorzugte Lösung ist eine Wiederholung des Unabhängigkeitsreferendums von 2014, ein "Indyref 2". Der Volksabstimmung von 2014 ging eine Vereinbarung von Edinburgh und London über ein Referendum zur Frage der Unabhängigkeit Schottlands voraus. Um dieses zu ermöglichen, war eine Änderung des Scotland Act im Westminster-Parlament erforderlich. Die Veränderung von 2014 war nur auf das damalige Referendum bezogen und keine Generalklausel zum Abhalten auch zukünftiger Volksabstimmungen. Ein neues Referendum bedarf deshalb einer erneuten Londoner Gesetzgebung, de facto also der Zustimmung der über die parlamentarische Mehrheit gebietenden Regierung. Das ist das Kernproblem der Indyref-2-Forderung. Alle britischen Regierungen nach 2016 lehnten bisher ein zweites Referendum mit den Argumenten ab, dass die Schotten ihre Chance 2014 bereits gehabt hätten und die bisherige Dezentralisierungspolitik sie gegenüber den englischen Regionen auch finanziell privilegiere. Während Theresa May in den ersten Wochen als Premierministerin noch nach Schottland gereist war, um dessen Bindung an das Vereinigte Königreich zu bekräftigen, scheuten sich ihre Nachfolger, das Thema offensiv anzugehen. Johnson nannte die Devolutionspolitik ein "Desaster", und extreme Stimmen in der Konservativen Partei fordern einen wehrhaften Zentralismus ("muscular unionism").

Die Covid-19-Pandemie kam den Dezentralisierungsgegnern politisch jedoch entgegen, da durch sie andere Prioritäten gesetzt wurden und die Kooperation des schottischen Gesundheitsdienstes (NHS) mit dem englischen NHS in den Vordergrund rückte. Im Juni 2022 veröffentlichte die schottische Regierung eine erste Studie zu den Rahmenbedingungen der politischen Unabhängigkeit Schottlands: "Independence in the Modern World. Wealthier, Happier, Fairer. Why not Scotland?" In ihr wird anhand einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialindikatoren die Leistung des Vereinigten Königreichs mit zehn anderen europäischen Ländern verglichen, was zu dem Schluss führt, dass die wirtschaftliche Erholung Schottlands länger dauern wird, wenn Schottland Teil des schlecht aufgestellten Vereinigten Königreichs bleibt. Nicola Sturgeon berief sich unter anderem auf diese Studie, als sie am 26. Juni 2022 in einer Rede im schottischen Parlament den 19. Oktober 2023 als Termin für ein neues Unabhängigkeitsreferendum verkündete.

Anfang und Ende der Referendumspläne

Zwei Tage nach der Ankündigung wurde ein Entwurf für ein Referendumsgesetz in das schottische Parlament eingebracht. Sturgeon rechtfertigte diesen Schritt mit dem Mandat, das ihrer Partei und Regierung durch die Wahlerfolge immer wieder gegeben wurde, sowie mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Wörtlich: "Last May, the people of Scotland said Yes to an independence referendum by electing a clear majority of MSPs committed to that outcome." Sturgeon betonte aber, dass sie einen rechtlich einwandfreien Weg zum Unabhängigkeitsreferendum gehen wolle. Wie beim ersten Unabhängigkeitsreferendum trat sie dafür ein, dass London dem schottischen Parlament zugesteht, eine Kompetenz wahrzunehmen, die eigentlich das Londoner Parlament hat. Diese Möglichkeit besteht im Prinzip seit dem Scotland Act des britischen Parlaments von 1999 ("section 30 order") und wurde für eine Reihe von Politikfeldern bereits angewandt. Es würde sich um ein konsultatives Referendum handeln, dessen Ergebnis noch durch die Gesetzgebung des Westminster-Parlaments und des schottischen Parlaments bestätigt werden müsste.

Unmittelbar nach dem Einbringen des Gesetzes in das schottische Parlament wurde es von der unabhängigen leitenden juristischen Instanz in Schottland (Lord Advocate of Scotland) dem britischen Supreme Court vorgelegt, um prüfen zu lassen, ob die Gesetzgebung in die Kompetenz des schottischen Parlaments falle. Die britische Regierung argumentierte, diese Vorlage sei voreilig, solange das schottische Parlament das Gesetz nicht verabschiedet habe. Sie bat den Supreme Court lediglich zu der Frage Stellung zu nehmen, ob er überhaupt zuständig sei. Der Gerichtshof wies die Bitte der Londoner Regierung zurück und kündigte eine Anhörung zu beiden Aspekten der Zulässigkeit an. Ende November 2022 anerkannte der Supreme Court, dass das Thema "Unabhängigkeit" eine Angelegenheit in seiner Zuständigkeit sei. Er entschied aber, dass das schottische Parlament nicht das Recht habe, über ein Gesetz für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum abzustimmen.

In ihrer Parlamentsrede im Juni 2022 hatte Sturgeon angekündigt, dass sie – falls der Supreme Court feststelle, dass das schottische Parlament kein Referendum initiieren könne, und sofern die britische Regierung sich weigere, ein Referendum mit einer "section 30 order" zu ermöglichen – die nächste Parlamentswahl zum britischen Parlament allein mit dem Thema "Unabhängigkeit" bestreiten und sie zu einer Abstimmung über die Frage "Should Scotland be an independent country?" machen werde. Damit würde die nächste Parlamentswahl, die regulär spätestens Anfang 2025 stattfinden wird, zu einem De-facto-Referendum. Es sei schon erstaunlich, so Sturgeon, dass die britische Politik behaupte, Schottland sei in einer freiwilligen Union mit dem Rest des Vereinigten Königreichs, aber nicht erlaube, dass Schottland sein Recht auf nationale Selbstbestimmung wahrnehme.

Im Dezember 2022 legte der frühere Labour-Premierminister Gordon Brown einen Bericht zur Verfassungsreform vor, der bei einem Wahlsieg Labours als Leitlinie dienen soll. Er empfiehlt, die Autonomie Schottlands weiter zu stärken und das Oberhaus zu einer Kammer der Regionen und Nationen umzubauen. Eine aus deutscher Sicht naheliegende föderale Lösung der Schottlandfrage scheiterte bisher jedoch vor allem an drei Aspekten der britischen Tradition: Erstens sprechen die Größenverhältnisse dagegen. England ist nach der Bevölkerungszahl weit größer als Schottland, Wales und Nordirland zusammen. Die Rede von einer Augenhöhe der vier Nationen findet nach dem Brexit noch weniger Anklang in England als zuvor. Eine Dezentralisierung Englands könnte Abhilfe schaffen, erzeugt aber, trotz symbolischer Gesten und der ökonomischen Notwendigkeit regionaler Entwicklung, wenig Begeisterung. Zweitens ist der Begriff "föderal" aus britischer Sicht mit gescheiterten Visionen wie den Vereinigten Staaten von Europa verbunden. Am wichtigsten aber ist, drittens, dass die Balance von Autonomie und Konsens im Föderalismus in einer geschriebenen Verfassung festgehalten werden müsste – eine Lösung, die die britische politische Elite scheut. Eine geschriebene Verfassung wäre mit weit mehr verbunden als einer "Lösung" in der Dezentralisierungspolitik.

Wie geht es weiter?

Nach dem Urteil des Supreme Court fühlt sich die britische Regierung in ihrer Haltung, dass die Angelegenheit "Unabhängigkeit Schottlands" erledigt sei, bestätigt. Das von Sturgeon für Oktober 2023 angekündigte Referendum wird nicht stattfinden – erst recht nicht nach ihrem überraschenden Rückzug, der ein herber Rückschlag für die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist. Ob die nächste Parlamentswahl tatsächlich zum Forum einer neuen Unabhängigkeitsabstimmung wird, ist auch von der Nachfolge Sturgeons abhängig. Sie lässt eine Partei im Selbstzweifel zurück, hat sie doch weder eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger aufgebaut, noch eine glaubhafte Strategie für die Trennung vom Vereinigten Königreich verankert. Eines jedoch ist klar: Schottlands Bevölkerung bleibt in der Unabhängigkeitsfrage in der Mitte gespalten.

Das alles erinnert an den Konflikt in Katalonien. Während die katalanische Regierung einen Rechtsbruch zur Durchsetzung eines Referendums in Kauf nahm und auf die Unterstützung der EU hoffte, ist eine solche Strategie in Schottland nicht zu erwarten. Ein Sieg der Labour Party bei den nächsten Parlamentswahlen könnte indes Bewegung in die Dezentralisierungspolitik bringen. In der Symbolsprache des Stone of Scone ausgedrückt: Die britische Regierung fordert das schottische Parlament (den Stein) nicht zurück, aber die Freiheit, eigene Wege zu gehen, wie sie die SNP versteht, hat Grenzen, wenn es um Fragen der (geliehenen) Souveränität geht.

ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
E-Mail Link: roland.sturm@fau.de