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Lernen mit Geschichtskultur | Geschichtskultur im Unterricht | bpb.de

Geschichtskultur im Unterricht Editorial Geschichte ist (nicht) überall „Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?“ Geschichtskultur und sich wandelnde Geschichten Lernen mit Geschichtskultur Literatur Impressum
Infoaktuell Nr. 40/2023

Lernen mit Geschichtskultur

Lars Deile

/ 21 Minuten zu lesen

Geschichtskultur kann durch die Symbiose von Wahrnehmung, Recherche, Diskussion, Reflektion und Einmischung für den historischen Lernprozess im Unterricht förderlich sein.

Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg in einer Berliner Hausfassade, Juni 2005 (© picture-alliance/akg, Jürgen Raible)

Wahrnehmen

Auch wenn sie selten geworden sind, lassen sie sich noch finden: Sandsteinfassaden imposanter Gründerzeitgebäude, die an vielen Stellen mit kleineren Kerben und größeren Absplitterungen versehen sind, waren noch vor 20 Jahren allgegenwärtig, insbesondere in der östlichen Mitte Berlins. Sie hatten Beulen und Dellen, wie nach einem Hagelschauer. Aber das konnte wohl kaum die Ursache gewesen sein. Diese Spuren finden und fanden sich ja nicht auf Dächern, sondern an senkrechten Fassaden. Sollten das die Folgen jahrzehntelanger Vernachlässigung, Mangelwirtschaft oder Luftverschmutzung gewesen sein? Bei genauerer Betrachtung können und konnten fast so etwas wie Linien erkannt werden, die sich quer über die Fassaden ziehen. Dann wieder war alles scheinbar sehr unregelmäßig.

Der Bauboom der Berliner Republik hat mittlerweile die meisten dieser Spuren verschwinden lassen. Dem Bedürfnis vieler Einrichtungen nach glänzender Repräsentanz in der Hauptstadt waren diese „Schandflecke“ ebenso unangenehm wie der florierenden Immobilienwirtschaft. Nur in wenigen Ausnahmefällen wurde die bewusste Entscheidung getroffen, die letzten Spuren des Krieges an den Häusern zu belassen. Das, was Maschinengewehrfeuer vor fast 80 Jahren in die stolzen Berliner Häuser gefräst hat, wollte für viele nicht so recht zur alten preußischen Herrlichkeit der Gebäude passen und wurde sorgfältig retuschiert. Vielleicht ist das verständlich, aber mit den Kerben im Stein verschwanden auch die sichtbaren Spuren einer Zeit, die zu vergessen ein Verlust sein könnte.

Am Anfang einer jeden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, am Anfang einer jeden Geschichte, steht eine Irritation. Die Scherben eines Glases, die sichtbar herausgerissenen Seiten eines Buches, ein Sockel, dem das Denkmal fehlt, der Bus, von dem nur noch die Rücklichter in der Ferne zu sehen sind, das Portraitfoto, das kaum mehr Ähnlichkeit mit der Person hat, die es einem zeigt – all solche Dinge können der Anfang einer Geschichte werden. Das gilt in gleicher Weise für die meisten Objekte in den Depots der Museen oder den Archiven dieser Welt. Mitunter werden diese Dinge auch bewusst verborgen, um kein Aufsehen zu erregen – bis sich irgendjemand daran stößt.

QuellentextVergessene Industriekultur – Entstehung geschichtskultureller Narrative

[…] [W]as geschah mit den Relikten der DDR-Industriekultur? Ist dieses Erbe der Industrieregionen im wiedervereinten Deutschland vergessen? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man sich in vergleichender Perspektive Prozesse regionalen Strukturwandels in westeuropäischen Kohle- und Stahlrevieren anschaut. Hier gewann bereits seit den 1980er Jahren, d. h. mit dem wirtschaftlichen Niedergang, Industriekultur als geschichtskulturelle und ökonomische Ressource an enormer Bedeutung. […]

Gerade ein Vergleich mit der Industriekultur im Ruhrgebiet zeigt, dass das Entsorgen und Vergessen der DDR-Industriekultur und ihrer Geschichte nur als ein Phänomen des gesellschaftlichen Transformations- und deutsch-deutschen Wiedervereinigungsprozesses nach 1990 angemessen interpretiert werden kann. Bis 1990 stand das industriekulturelle Erbe in der Denkmalpflege der DDR dagegen hoch im Kurs. Denn die Erfassung und Erhaltung technischer Denkmale diente der materiellen Repräsentation der Fortschrittsgeschichte sozialistischer Produktivkraftentwicklung.

Diese Meistererzählung verlor allerdings bereits im Laufe der 1980er Jahre an Bindungskraft und dann im wiedervereinten Deutschland gänzlich an Wert. Angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, millionenfacher Entlassungen sowie ökologischer Altlasten schienen in den 1990er Jahren Initiativen für die Bewahrung denkmalswürdiger Industrieanlagen in Ostdeutschland wie aus der Zeit gefallen. […]

Die geschichtspolitischen Debatten des wiedervereinten Deutschlands kreisten folglich nicht um das Bewahren des industriekulturellen Erbes der DDR. Im Zentrum stand die sogenannte Aufarbeitung der DDR-Diktaturgeschichte. […]

Während also die nationale deutsche Erinnerungskultur vor allem die Differenz zwischen Diktatur und Demokratie herausstellt und die Geschichte von Teilung und Einheit erinnert, standen die neugegründeten Bundesländer im Osten Deutschlands nach 1990 vor anderen Herausforderungen einer „Invention of Tradition“. Um Herkunft und Zukunft zu stiften, mussten sie zum einen dem DDR-Einheitsnarrativ entkommen und zum anderen historische Tradition auch jenseits zeithistorischer Brüche freilegen. So erfand sich zum Beispiel Sachsen-Anhalt dank des bronzezeitlichen Fundes der Himmelsscheibe als „Wiege Europas“ neu. In der Lausitz wurden am Rande der Tagebaulandschaften slawische Burgwälle errichtet. Dresden reinszenierte sich als sächsische Residenzstadt. Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass das ­industriekulturelle Erbe angesichts der wirtschaftlichen Krisenerfahrung und unsicherer Zukünfte als geschichtskulturelle Ressource in den 1990er Jahren wenig attraktiv erschien. […]

Die Aneignung der regionalen Industriekultur und -geschichte erfolgte erst über den Umweg ihres Vergessens.

[…] [Die Zeit ab] Mitte der 1990er Jahre kennzeichnet die diskursive Aneignung des industriellen Erbes. Diese vollzog sich auf unterschiedlichen, aber kaum vernetzten Ebenen. Zum einen entdeckte die Regionalpolitik die historische Dimension der Industrieräume als strategische Ressource. Zum anderen versuchten zivilgesellschaftliche Akteur:innen durch geführte Wanderungen und Ausstellungen den ökonomischen und ökologischen Transformationsprozess erfahr- und erlebbar zu machen und dadurch von „unten“ Diskussionen um die Zukunft der Industriebrachen anzustoßen.

[…] [S]eit 2000 gingen wesentliche Impulse von nationalen, aber auch europäischen Strukturentwicklungsprogrammen aus, die auf Imagewandel und ökonomisch-touristische Nutzung der belasteten Industrieregionen zielten. […]

[Die Zeit ab] ca. 2010 zeichnet die Institutionalisierung, Vernetzung und Vermarktung von industriekulturellen Standorten aus. Industriekultur wird nun zu einer regionalen Marke aufgebaut. So begeht Sachsen-Anhalt bereits seit 2008 den Tag der Industriekultur, Sachsen rief 2020 das Jahr der Industriekultur aus und Brandenburg setzte im Folgejahr 2021 seine industriegeschichtlichen Standorte in Szene. […]

Auf der Ebene der Vernetzung und Vermarktung von Industriekultur lassen sich aktuell viele Parallelen zum Ruhrgebiet entdecken – wie die touristische Nutzung oder die Etablierung einer Eventkultur, in der industriekulturelle Relikte lediglich als Kulisse dienen. Die regional spezifische geschichtskulturelle Funktion der Industriekultur in Ostdeutschland gewinnt jedoch in unterschiedlichen Narrativen an Kontur:

  • Erstens wird mit Industrierelikten wie dem „liegenden Eiffelturm“ der Lausitz DDR-Technikgeschichte als Erfolgsgeschichte in Szene gesetzt und damit zugleich die Anerkennung ambivalenter biografischer Erfahrungen („Arbeiten trotz Sozialismus“) reklamiert.

  • Zweitens konstituiert sich entlang der regionalen Routen der Industriekultur eine Narration, die Wandel als Kontinuität beschreibt und die Fähigkeit zur Veränderung als sogenannte „Transformationskompetenz“ einer Region und ihrer Bewohner:innen. Inszeniert wird also nicht das Ende der DDR-Industrie, sondern die longue durée regionaler Industriegeschichte. […]

  • Drittens gewinnt in den renaturierten Tagebauen die Erfolgs- und Problemgeschichte des ökologischen Wandels und damit vielleicht schon ein Fortschrittsnarrativ der postindus-triellen Gesellschaft an Kontur. […]

Neben diesen identitätsrelevanten Narrativen entdeckt man entlang der Routen der Industriekultur in Sachsen, Brandenburg oder Sachsen-Anhalt eine Vielfalt lokaler und regionaler Industrie-, Technik- und Unternehmensgeschichten, die immer auch als Teil europäischer Industrialisierungsgeschichte dargestellt werden. In dieser langen Geschichte des europäischen Industriezeitalters ist DDR-Geschichte nur ein regionales, aber durchaus identitätsrelevantes Kapitel unter anderen.

Bislang fügen sich diese vielfältigen Geschichten zu keiner neuen Meistererzählung. Ihre Vielfalt und ihr Nebeneinander fördern eher reflexive Vergangenheitsaneignung. Die […] ersten Erkundungen legen jedoch nahe, dass die Wiederaneignung des industriekulturellen Erbes auf regionaler Ebene die Chance bietet, die nationale Meistererzählung der Diktaturgeschichte zu differenzieren, DDR-Geschichte zu historisieren sowie ostdeutsche Transformationserfahrungen als kulturelle Ressource anzuerkennen. […]

Prof. Dr. Saskia Handro ist seit 2006 Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der historischen Lehr- und Lernforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Saskia Handro, „Entsorgt und vergessen? Das Erbe der DDR-Industriekultur“, in: Public History Weekly 3 (2022). Online: https://public-history-weekly.degruyter.com/10-2022-4/industrial-heritage-gdr/

Am Anfang jeder Geschichte stehen Diskrepanzen, stehen Dinge, die nicht so recht zusammengehören wollen und doch irgendwie verbunden sind. Wenn sichtbare und störende Markierungen dazu anregen, diese vergessenen oder versteckten Dinge mit der Gegenwart zu verknüpfen, dann erweitert sich die Gegenwart derer, die sich da belästigt fühlen, dann lässt sich Zeit wahrnehmen, lässt sich etwas vorstellen, was real gar nicht erfahrbar ist.

Geschichte beginnt durch Irritation. Wenn die Gegenwart zu einem Raum wird und ein Abstand zwischen zwei Zeitpunkten entsteht, wenn begonnen wird, den jetzigen Zustand mit einem früheren zu vergleichen und dabei Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede festgestellt werden, dann und nur dann besteht die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit, Geschichte zu erzählen. Geschichte ist die Darstellung einer Veränderung von einem Früher zu einem Später.

Geschichte entsteht dort, wo die Selbstverständlichkeit, mit der die Gegenwart verstanden wird, durch einen Einbruch der Vergangenheit irritiert wird. Lernprozesse sind immer dort am Werk, wo die Notwendigkeit besteht, Selbstverständliches zu überdenken und gegebenenfalls umzustrukturieren oder auch neu zu befestigen. Historisches Lernen ist ein Erweitern der eigenen Gegenwart und damit die Bewegung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und wieder zurück.

Geschichte zu entfalten ist nicht nur kein natürlicher Zustand. Es ist häufig nicht einmal eine notwendige Praxis. Und oft genug ist es sogar störend und provoziert Widerstand. Wer sich im Berlin der Nullerjahre im Zentrum der Hauptstadt präsentieren wollte, der wollte nicht in einem Gebäude sitzen, das noch sichtbar die Spuren von Krieg und Zerstörung zur Schau stellte.

Geschichte ist immer auch Teil von Auseinandersetzung, von Absichten. Dazu gehört das Aufzeigen ebenso wie das Verbergen. Das versteckte Tagebuch, die vernichtete Akte, das im Museumsdepot versteckte Objekt oder der vom Redakteur unterbundene Artikel sind auch Geschichte, solange sie nicht einfach nur kollektiver Gleichgültigkeit anheimfallen. Aber gerade das Vergessene und Verborgene hat häufig Bezüge zu noch nicht Abgegoltenem. Aber es ist in besonderer Weise herausfordernd, die Dissonanzen wahrzunehmen, die kleinen, nicht aufgehenden Details zum Problem zu machen, aus ihnen Fragen zu entwickeln.

Es gibt nur wenige Beispiele, wo diese Dissonanzen im öffentlichen Raum bewusst markiert werden. Als das Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel wiederaufgebaut wurde, entschied sich der Architekt David Chipperfield dafür, die im Krieg zerstörten Gebäudeteile nicht zu rekonstruieren, sondern bewusst durch schlichte Klinkerfassaden zu ersetzen. Dadurch bleibt die Gebrochenheit des Gebäudes und damit seine Geschichte sichtbar. Dies führte zu großen öffentlichen Debatten, blieb dabei aber eine Ausnahme bei den vielen Nachbauten der Jahrtausendwende.

Wer Zeit wahrnehmen will, braucht ein Misstrauen gegenüber der Umwelt und gegenüber sich selbst, muss bereit sein, die eigenen Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Historikerinnen und Historiker bezeichnen diese Grundkonstellation als historische Alterität (d. h. Verschiedenheit, partielle interkulturelle Andersartigkeit). Vergangenheit tritt nur dann vor Augen, wenn sie anders ist als die Gegenwart, wenn sie sich von ihr unterscheidet. Wenn sich ein Problem ergibt, das aufgelöst werden will.

Es gibt historische Probleme, die kollektiv sind, also ganze Gruppen oder gar Gesellschaften betreffen. Die meisten sind aber eher individueller Natur. Und selbst die großen Irritationen müssen von jedem und jeder Einzelnen empfunden und wahrgenommen werden. Daraus folgt eine grundsätzliche Subjektorientierung aller Geschichte, denn ohne Subjekt, das die Vergangenheit wahrnimmt und aufgreift, kann auch keine Geschichte erzählt werden. Und das macht Geschichte nicht zwingend zur geteilten Praxis. Was den einen irritiert, kann der anderen ganz gleichgültig sein.

Wer aber den eigenen Horizont erweitern will, muss sich eine grundsätzlich neugierige Haltung zulegen. Skepsis gegenüber dem Selbstverständlichen ist der Anfang von allem. Das kann trainiert werden – ohne zu übertreiben. Aber alles als veränderbar anzusehen ist die Voraussetzung für jeden Lernprozess, für die Fähigkeit, die Welt als gestaltbar anzunehmen. Geschichte stellt die Gegenwart infrage.

Und so kann der eine oder die andere sich wundern über die letzten Kerben in manchen Berliner Häuserfronten oder darüber, dass mittlerweile alles, was noch vor Kurzem von den Narben der Zeit bedeckt war, geglättet ist.

Recherchieren

Während es Zeiten gab, in denen die Bücher von Historikern mit Literaturnobelpreisen geehrt wurden – wie 1902 Theodor Mommsen für seine „Römische Geschichte“ – und die schwergewichtigen Werke in goldbeschlagenem Leder in bürgerlichen Bücherschränken prunkten, ist Geschichte längst nicht mehr ein Privileg der Profis. Die Reichweite von Twitter-Geschichten (wie z. B. On This Day) oder Podcasts (z. B. WDR-Zeitzeichen oder Geschichten aus der Geschichte), von Instagram-Stories (viel und kontrovers diskutiert z. B. @ichbinsophiescholl von SWR und BR) und YouTube-Kanälen (z. B. MrWissen2go Geschichte) ist um ein Vielfaches größer als die Arbeiten von Historikerinnen und Historikern. Ob diese mit der gleichen Nachhaltigkeit rezipiert werden und die Themen ebenso tief durchdringen, bleibt abzuwarten.

QuellentextSophie Scholl auf Instagram?

Aus dem Ruder gelaufen: Das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“

Über zehn Monate lief das von BR und SWR verantwortete Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“. Fast 770.000 Follower:innen hatte der Account am Ende, im Februar 2022 – zwar nicht soviel wie das israelische Projekt „Evas Story“, das wohl Pate stand und 1,2 Mio. Follower:innen hatte, aber für einen rein deutschsprachigen Account doch eine beachtliche Zahl. Jedenfalls erreichte das Projekt deutlich mehr Menschen als alle Social-Media-Kanäle der deutschen Gedenkstätten zusammen.

Das Projekt zeigt damit, dass im Format einer Reanactment-Instagram-Story durchaus Potential steckt, zumindest, wenn es darum geht, neue Zielgruppen zu erreichen (auch wenn das Ziel, vor allem junge Menschen unter 25 Jahren anzusprechen, wohl verfehlt wurde). Entscheidend ist doch aber die Frage, mit welchen Methoden, vor allem aber, mit welchen Inhalten diese Zielgruppen überhaupt erreicht wurden: Was vermittelt die Instagram-Story von Sophie Scholl? Ist sie ein geeignetes Format für das historische Lernen über den Nationalsozialismus

Die Antwort lautet nein, und zwar aus den Gründen der Emotionalisierung, der Identifikation und der Fiktionalisierung sowie wegen geschichtsrevisionistischer Tendenzen.

Der erste Kritikpunkt betrifft die Emotionalisierung. Emotionen sind nicht per se schlecht, und sie spielen auch beim historischen Lernen eine Rolle, insbesondere, wenn es um dramatische Themen wie die Verfolgung und den Widerstand im Nationalsozialismus geht. Die Emotionalisierung wird aber zum Problem, wenn sie überwältigt (ein Verstoß gegen den für die politische Bildung vor über 40 Jahren erarbeiteten Beutelsbacher Konsens) und wenn sie der Reflexion im Wege steht, wenn also um Opfer getrauert wird, ohne danach zu fragen, warum jemand zum Opfer wurde und wer dafür verantwortlich ist.

Noch schwieriger wird es, wenn die Emotionalisierung mit Identifikation und damit mit einer subjektivierenden Perspektive einhergeht. Nicht nur die in der politischen Bildung und Geschichtsdidaktik geforderte Multiperspektivität wird damit untergraben, sondern auch die Quellenkritik: Wer sich mit der historischen Heldin identifiziert, wird kaum hinterfragen, welche tatsächlichen oder vermeintlichen Quellen sie produziert. Hinzu kommt ein politisch-ethischer Einwand: Ist es angesichts des empirischen Befundes des breiten Mitmachens der Deutschen im Nationalsozialismus nicht anmaßend, wenn sich die Post-Tätergesellschaft mit den Opern identifiziert und sich damit gewissermaßen aus der Verantwortung stiehlt?

Am schwersten wiegt wohl der Einwand der Fiktionalisierung. Auch sie ist – wie die Emotionalisierung – nicht generell abzulehnen. Fiktionale literarische Werke und Spielfilme haben in den vergangenen Jahrzehnten ganz maßgeblich zur differenzierten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NS beigetragen. Das Problem liegt also nicht in der Fiktionalisierung als solcher, sondern darin, dass Authentizität mit fiktionalen Elementen (von den Autor:innen von „Ich bin Sophie Scholl“ als „dramaturgischer Kniff“ bezeichnet) simuliert wird.

Wenn Fiktion von Fakten aber nicht mehr unterschieden werden kann, bricht eine Grundvoraussetzung der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus weg: die auf Quellentreue basierende Glaubwürdigkeit, die der Holocaustleugnung entgegengestellt werden muss. Historische Dokumente, Fotos, Bauten aus der Zeit des Nationalsozialismus sind vor diesem Hintergrund nicht nur Quellen, sondern auch Beweismittel. Und wer Beweismittel nachbildet, fälscht Geschichte potentiell. Fiktion muss deshalb als solche erkennbar sein, und Quellen müssen belegt werden. Beides ist im Scholl-Projekt nicht der Fall (Belege wurden, wenn überhaupt, erst nach Nutzer:innen-Nachfragen im Kommentar nachgereicht).

Schließlich der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus: Der Holocaust kommt in der Story nur am Rande vor; im Mittelpunkt steht die Perspektive der Soldaten an der Ostfront. Die Täterschaft verschwindet damit hinter entlastenden Opfernarrativen; irgendwie, dieser Eindruck muss bei den Nutzer:innen entstehen, waren im Krieg doch alle Opfer, ein Narrativ, das auch schon in der ZDF-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ bedient wurde.

Fazit: Social Media können innovative und partizipative Zugänge Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Opfer bieten und Zielgruppen erreichen, die sonst dafür eher nicht zugänglich sind. Im Fall von „Ich bin Sophie Scholl“ ist aber methodisch und inhaltlich derart viel aus dem Ruder gelaufen, dass man festhalten muss: Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Das gilt auch ganz allgemein für den Einsatz neuer und sozialer Medien in der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus: So richtig es ist, offen zu sein für neue Formate und Methoden (und dabei durchaus auch zu experimentieren), so falsch ist es doch, sich ausschließlich am Medienkonsum junger Menschen zu orientieren, weil man glaubt, man könne sie sonst nicht vorm Smartphone hervorlocken.

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist Historiker. Seit 2020 ist er Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Geschichte und Geschichten: Instagram und die schwierige Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust auf, durch und mit sozialen Medien

Soziale Medien dienen in unserem digitalisierten Alltag als wichtige Informationsquellen. Sie bieten digitale Kommunikation in Echtzeit. Sie fördern aber auch die Bildung von Echokammern und Filterblasen, sowie die Verbreitung von Falschinformationen. Die Folge kann eine verzerrte Wahrnehmung von sozialen und politischen Konflikten sein.

Wenn es um die Auseinandersetzung mit komplexen Lebensrealitäten, und insbesondere mit Geschichte geht, wird die ambivalente Rolle Sozialer Medien ebenfalls deutlich: Mit ihrer Hilfe kann eine größere Öffentlichkeit für historische Themen sensibilisiert und angeregt werden, an der Weiterentwicklung von Erinnerungskultur(en) aktiv mitzuwirken. Vereinfachungen können aber auch problematischen Vergleichen und Gleichsetzungen Vorschub leisten. Wohin führt die Gleichzeitigkeit von direkter, partizipativer, sichtbarer und simplifizierender, vergleichender, spielerischer Aneignung von Geschichtsbildern?

Wenn Holocaust und Nationalsozialismus wichtige Bestandteile der deutschen Erinnerungskultur bleiben sollen, müssen sie auch Platz im unübersichtlichen aber wirkmächtigen Raum der Sozialen Medien finden. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass sich junge Menschen für die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust interessieren und sich wünschen, dass diese Geschichte durch spannende und persönliche Erzählungen, sowie eingängige, idealerweise kurze Formate vermittelt wird.

Dazu können Soziale Medien mit ihren fragmentierten Segmenten beitragen, die einerseits losgelöst voneinander beispielsweise als leicht teilbare Memes existieren, andererseits ein miteinander verbundenes Geflecht von Geschichten ergeben. Damit entspricht Storytelling in Social Media dem fragmentarischen Charakter von Erinnerung und kann historische Quellen zum Ausgangspunkt einer aktiven Auseinandersetzung machen.

Das israelische Instagram-Projekt „Eva Stories“ hat 2019 zum ersten Mal auf Grundlage einer historischen Biografie, dem Tagebuch der ungarischen Jüdin Eva Heyman, eine digitale Erzählung realisiert, die der segmentierten und personalisierenden Logik der Sozialen Medien folgt. Für die nachinszenierte Geschichte wurden auch Social-Media-typische Formen wie POV (Point-of-View) oder Selfie-Perspektive adaptiert und mit klassischen Formen der Holocaust-Erinnerung (Zeugenschaft) verbunden. So wurden die Follower:innen der virtuellen Eva zu (sekundären) Zeug:innen ihrer Erinnerungen.

Das SWR-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ (2021/22) hat an einem ähnlichen Punkt angesetzt. Es sollte Sichtbarkeit für die Geschichte der Geschwister Scholl auf einer Plattform wie Instagram schaffen – gerade vor dem Hintergrund dessen, dass als Ikonen wahrgenommene Personen wie Sophie Scholl oder Anne Frank zu einer problematischen Referenz beispielsweise in Kreisen der sogenannten „Querdenker“ geworden sind.

Warum gerade der deutsche Widerstand für ein solches Großprojekt auswählt wurde, anstatt die Aufmerksamkeit auf weniger bekannte Geschichten zu legen, darf kritisch gefragt werden, da damit ein deutsches Opfernarrativ bedient und Widerstand gegen das NS-Regime überproportional aufgewertet werden könnte. Folge dieser Fokussierung ist auch eine eingeschränkte Sicht auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und insbesondere des Holocaust.

Die Versuche des Teams um „Ich bin Sophie Scholl“ dennoch Informationen zur Verfolgung von Jüdinnen und Juden aufzunehmen oder z.B. über die Situation von Zwangsarbeiter:innen zu berichten, waren gut gemeint, konnten aber oft nur an der Oberfläche kratzen. Umgekehrt läuft aber auch die Kritik ins Leere, die mehr Hinweise auf diese Ereignisse fordert und gleichzeitig fehlende Quellentreue kritisiert, denn ein solches Projekt muss notwendig unvollständig bleiben.

Vergessen werden sollte auch nicht der Netzwerkcharakter Sozialer Medienplattformen. „Ich bin Sophie Scholl“ hat weitere Stimmen mobilisiert, die Lücken des Projekts zu füllen und Perspektiven zu ergänzen. Dafür steht beispielsweise ein Account wie „Nicht Sophie Scholl“, der komplexe historische Informationen und Biografien auf anschauliche Weise aufarbeitet und damit ebenfalls die Möglichkeiten unterstreicht, die eine Plattform wie Instagram für die Vermittlung von Geschichte bietet.

Sowohl „Ich bin Sophie Scholl“ als auch „Eva Stories“ sind keine Projekte von Historiker:innen oder Gedenkstätten. Doch auch Gedenkstätten haben unter Beweis gestellt, dass Soziale Medien zur Geschichtskommunikation gut funktionieren. Instagram, Facebook, Youtube und Twitter wurden vor allem während der pandemiebedingten Schließung zu wichtigen Plattformen, um Zugänge zu historischen Orten und den dort konservierten Geschichten auch aus der Distanz zu ermöglichen. Dabei experimentierten die Macher:innen mit neuen Formen des Storytelling als auch Live-Angeboten und speziellen Online-Führungen.

Es zeigte sich, dass es im Hinblick auf die partizipativen Möglichkeiten Sozialer Medien einen Unterschied macht, ob Geschichte nacherzählt, oder Zugänge zur Vergangenheit aus unserer Gegenwart heraus erschaffen werden. Darin liegt auch das Problem eines Projektes wie „Ich bin Sophie Scholl“. Gegen die Grundidee, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust zum Teil unserer sozialen Medienbiografien zu machen, ist wenig einzuwenden.

Nutzer:innen wissen sehr wohl zwischen Nachstellung und Dokumentation, subjektiver Geschichtserzählung und Information zu unterscheiden. Aber dazu gehört eben auch Distanz als ein zentrales Element von Geschichtsverstehen. Diese Distanz wurde im Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ insbesondere dadurch minimiert, dass die historische Sophie Scholl quasi mit den Nutzer:innen interagierte. Dieser Versuch der Herstellung einer immersiven Illusion von Gleichzeitigkeit unterläuft die Spannung, die auf Sozialen Medienplattformen zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht.

Die Grenzen der Immersion bieten auf Sozialen Medien Chancen: Sie können genutzt werden als Raum zur Partizipation und im besten Fall kreativer Beteiligung. Nutzer:innen und Creator:innen, die Informationen teilen und weiterrecherchieren, eigene Beiträge produzieren, bzw. Initiativen und Akteur:innen, die die Lücken von Großprojekten wie „Ich bin Sophie Scholl“ füllen und neue Perspektiven einführen, machen Soziale Medien erst zu Räumen aktiven Erinnerns. Die Protagonist:innen digitaler Erzählformate haben somit eine vermittelnde, anregende und bewusstmachende Funktion. Wir Nutzer:innen sind es, die sich mit ihren Geschichten konfrontieren und auseinandersetzen, und sie so zu einem Teil unseres Alltags in den Sozialen Medien machen.

Dr. Iris Groschek ist Historikerin. Sie arbeitet für die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen und leitet dort den Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Social Media.

Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Medienwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er ist wissenschaftlicher Berater der TikTok Shoah Commemoration and Education Initiative und des interdisziplinären Forschungslabors SPUR.lab.

Externer Link: www.stiftung-evz.de/wer-wir-sind/neuigkeiten-aus-der-stiftung/neuigkeit/instagram-projekt-ichbinsophiescholl-ein-debattenbeitrag/

Kommt der Unterhaltungsbereich, insbesondere Computerspiele, zu diesen Erscheinungsformen einer Digital History hinzu, wird die Wahrnehmung um neue Dimensionen erweitert. Aber können all diese ungeahnten Weiten auch Mittel zum Zweck sein, mehr über die Vergangenheit herauszufinden? Ja, denn zumindest teilweise geht es um mehr als nur um Histotainment. Der Begriff ist eine Kombination aus History und Entertainment und verweist auf den rein unterhaltenden Charakter historischer Bezüge, beispielsweise in Computerspielen. Um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es dabei vordergründig aber nicht.

Die App „Future History“ macht „Zeitreisen“ in einer Weise möglich, die es bislang nicht gab. Die Herausforderung des Historisierens besteht ja im Grunde darin, etwas zu synchronisieren, Vergangenheit und Gegenwart jeweils für sich sichtbar zu behalten, aber dabei übereinander zu legen. Das ist ähnlich anspruchsvoll wie die Bewegungen von Synchronschwimmerinnen, die sich getrennt bewegen und doch als perfekt im Gleichklang wahrgenommen werden.

Nichts kann im Bereich der Alltagswahrnehmung etwas Abwesendes so gut simulieren wie Augmented Reality (dt.: erweiterte Realität). Während mit natürlichem Sehen die Welt der Gegenwart vors Auge tritt, lässt sich durch das Dazwischensetzen eines digitalen Endgerätes (oder auch einer entsprechenden Brille) der gegenwärtige Gegenstand oder das Haus, der Platz in seiner Erscheinung in der Vergangenheit erfassen. ­Beide Welten können dann auch vergleichend wahrgenommen werden, es kann zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gewechselt werden. Das ist bisher zwar nur in ausgewählten Settings möglich und muss aufwändig programmiert werden. Aber es gibt Apps wie den Leipziger Stadtrundgang „Zeitfenster“, die dieses Erlebnis ermöglichen. Abzuwarten bleibt, wie sich diese Technik künftig weiterentwickelt.

Skeptische Stimmen warnen vor zu großen Erwartungen. Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Christian Bunnenberg befürchtet aus guten Gründen ein Verkümmern der historischen Imagination, der Einbildungskraft. Weil immer gleich bildlich suggeriert wird, was die Vergangenheit war, erübrigt sich das Befragen der zugrunde gelegten Quellen, ihre kritische Prüfung, vor allem aber auch das Abwägen unterschiedlicher Geschichten auf ihre Plausibilität.

Wie bei Computerspielen entfalten viele dieser Techniken eine ungefragte Überzeugungskraft. Sie wirken immersiv, wollen plausibel sein und sich die Konsumierenden einverleiben. Diese sollen in das Spiel eintauchen und eingesogen werden und nicht zu kritischer Prüfung angeleitet werden. Das bringt Probleme mit sich. Die Bequemlichkeit, sich dem Vorgestellten hinzugeben und zu ergeben, bremst die Redlichkeit kritischer Prüfung aus. Diejenigen, die es nutzen, geben sich schnell zufrieden, vielfach eben vorschnell.

Computerspiel im Unterricht

Wie ein Computerspiel im Unterricht eingesetzt werden kann, erfahrt Ihr beispielhaft in der Externer Link: Rezension des Spiels „Through the Darkest of Times“

Weil es aber schwierig ist, Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung zu setzen, kann „Future History“ dabei auf unterschiedlichen Stufen behilflich sein. Es gibt Bilder, bei denen mittels Schieberegler zwischen einem Bild der Vergangenheit und einem der Gegenwart gewechselt werden kann, es gibt historische 360°-Panoramen und es gibt Augmented Reality. Eine Karte navigiert einen zu Orten, für die es einen Eintrag gibt. Und – wo möglich – sind auch Verknüpfungen, meist zu Wikipedia, hinterlegt. Und spätestens dort eröffnet sich auch die Möglichkeit zu eigener, selbstbestimmter und tiefergehender Recherche.

Ob das schon die Zukunft der Geschichte sein wird, wie es das Label verspricht, das wird sich zeigen – und es wird sich vor allem an Aufwand und Nutzen sowie an Maßstäben der Profitabilität messen.

Unersetzlich aber bleibt dabei das Handwerk des Historikers, der Historikerin. Historisch recherchieren bedeutet, sich wie Sherlock Holmes auf die Suche zu machen, Indizien zu gewichten, Überlieferungslücken zu markieren, plausible Geschichten zu entwerfen, zu prüfen und ggf. auch wieder zu verwerfen und bei alldem stets kritisch mit den Spuren umzugehen. Dieses Handwerk ist nicht nur was für Profis. Im Unterricht wird zwar immer wieder die Zeit fehlen, aber es sollte gelernt werden, Spuren nachzugehen und sie bis zum letzten Tatort ihrer Überlieferung zu verfolgen, im Archiv, der Bibliothek, dem Museum, dem Dachboden. Wikipedia ersetzt nicht grundsätzliche handwerkliche Kompetenzen.

Der kritische Umgang mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit ist unabdingbar gegenüber den Zudringlichkeiten vorschneller Erklärungen und erst recht gegenüber den Zumutungen bewusster Fake News. Könnte die Welt so sein und so gewesen sein? Oder vielleicht doch ganz anders? Wessen Absichten – politische und ökonomische zumeist – stecken hinter den verschiedenen Geschichten? Wir alle sollten Historikerin und Historiker sein, jeden Tag und überall, vielleicht fast immer und überall.

Den Dingen auf den Grund zu gehen, bleibt nach wie vor herausfordernd und anstrengend. Aber ein klein wenig hinter die Kulissen zu schauen, ist kein Aufwand mehr, wo jedes Telefon einen Draht zu Wikipedia und anderen Online-Informationsquellen darstellt. Apps wie „Future History“ können es noch einfacher machen, Wissen auch im Raum zu platzieren und noch leichter abzurufen, als das in den Hochzeiten von „Meyers Lexikon“ und „Brockhaus“ möglich war. Diese Bücher konnten nicht bequem in der Tasche mit sich herumgetragen werden.

Digitalität bietet auch ganz neue Möglichkeiten für den Unterricht. Sie stärkt Veranschaulichung im Klassenzimmer, sie organisiert das Verlassen des Klassenzimmers auf neue Art und Weise. Und sie macht – jedenfalls dort, wo sich nicht die Kommerzialisierung gleich hinter der nächsten Ecke versteckt – Partizipation möglich.

Nicht wenige Schulprojekte sind als Ergebnisse in „Future History“ eingeflossen. Die Resultate aufwändiger Recherchen können in die App integriert werden – in offenem und geschlossenem Rahmen – und mit anderen geteilt werden. Derart veröffentlichte Ergebnisse stärken das Erleben eigener Selbstwirksamkeit und können der Beginn für die Entdeckungsreisen anderer werden.

Diskutieren

Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine historische Debatte derart heftig geführt wird, dass es zu diplomatischen Verwerfungen kommt. Und auch nicht, dass historische Urteile vom Parlament gefällt werden. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert unterstrich genau das in seiner Eröffnungsrede am 2. Juni 2016: „Ein Parlament ist keine Historiker­kommission und ganz gewiss kein Gericht.“ Was aber begründete die Ausnahme? Was war passiert?

In den Jahren 1915 und 1916 wurden im Osmanischen Reich massenhafte und systematische Verhaftungen, Deportationen und Massaker an der armenischen Bevölkerung durchgeführt. Die Schätzungen der Opferzahlen variieren zwischen 300.000 und 1,5 Millionen. Oft werden diese Gräuel als „einer der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet – so zum Beispiel auf der deutschen Wikipedia-Seite. Die türkische Regierung lehnt die Einschätzung als Völkermord ab.

Nachdem es Beschlüsse von Parlamenten in zahlreichen Staaten gegeben hatte, nahm der Bundestag eine von CDU/CSU, SPD und Grünen eingebrachte Resolution bei einer Ablehnung und einer Stimmenthaltung an. Die Kanzlerin, der Wirtschafts- und der Außenminister nahmen nicht an der Abstimmung teil.

In der Folge verabschiedete das türkische Parlament eine Gegenresolution. Es gab Proteste von türkischer Seite, der türkische Botschafter wurde zeitweise aus Berlin abgezogen. Das deutsche Konsulat in Istanbul musste vor Übergriffen geschützt werden. In Berlin und anderen deutschen Städten kam es zu Demonstrationen, zu denen mehrere türkische Verbände und Organisationen aufgerufen hatten. Es gab Einschüchterungsversuche gegenüber Abgeordneten bis hin zu Morddrohungen.

Das alles, weil der Deutsche Bundestag von „Völkermord am armenischen Volk“ sprach und weil er empfahl, „die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen“ – wie es im Resolutionstext heißt.

Die Vergangenheit wird dort als Geschichte aufgerührt, wo es etwas Unverdautes gibt, manchmal im positiven, häufig aber auch im negativen Sinne. Wenn das besonders sensible Gegenwartsprobleme betrifft, dann finden diese Auseinandersetzungen nicht nur unter Fachhistorikerinnen und -historikern statt, sie werden auch auf der Straße, in Vereinen oder eben in Parlamenten ausgetragen. Diese geschichtskulturelle Präsenz ist ein untrügliches Zeichen für die Relevanz bestimmter Themen.

Wenn von Geschichtskultur die Rede ist, dann sind damit Phänomene angesprochen, die den rein individuellen Rahmen überschreiten, die tendenziell auch den reinen Fachdiskurs unter Historikerinnen und Historikern verlassen. Ein Museum, das nur wenige Besucherinnen und Besucher hat, verschwindet aus diesem Rahmen. Eine Ausstellung aber, die gesellschaftliche Konflikte sichtbar macht oder auch erst anstößt – wie das beispielsweise bei der Wehrmachtsausstellung (1995–1999 und 2001–2004) der Fall war –, hat aktiven Anteil an den Aushandlungen, derer eine Gesellschaft bedarf.

Geschichtskultur ist eine Form der Aushandlung von Wertvorstellungen, politischen Positionen, Lebensweisen. Das ist Geschichte an sich schon, als Geschichtskultur zieht es aber tendenziell weitere Kreise. Debatten in den Feuilletons (wie etwa um die Rückgabeforderungen der Hohenzollern), diplomatische Aushandlungen (wie um zahlreiche Kolonialgüter in den Museen), Rechtsstreite, Parlamentsdebatten, Denkmals­initiativen und vieles mehr – all das ist Geschichtskultur mit ihrer Tendenz zu breiter Öffentlichkeit und zu Institutionalisierung. In der Geschichtskultur verhandeln und streiten Gesellschaften darüber, was ihnen wertvoll ist.

Mithin sollte sich eigentlich die Frage erübrigen, ob derartige Auseinandersetzungen Themen im schulischen Geschichtsunterricht sein sollten. Wo, wenn nicht dort, sollte der Ort sein, diese öffentlichen Auseinandersetzungen zu bearbeiten? Dabei geht es um das Finden begründeter Positionen, um das zivilisierte Austauschen von Argumenten, auch um das Aushalten von gegensätzlichen Standpunkten. Das ist historische Bildung und das ist politische Bildung.

Geschichte gehört eben nicht den Historikerinnen und Historikern, sie gehört jedem und jeder und der Streit um sie und die Formen, in denen das geschieht, tragen wesentlich zur politischen Kultur einer Gesellschaft bei. Robust sind Gesellschaften, die historische Diskussionen führen können und damit Formen entwickeln, die bei der Bearbeitung auch anderer Probleme vonnöten sind.

Spannend ist die Frage, inwieweit Schülerinnen und Schüler animiert werden sollten, den geschützten Raum der Schule zu verlassen und sich aktiv an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Schon im Klassenzimmer wird die kontroverse Behandlung von Themen häufig vermieden. Die Angst, Kontrolle über Disziplin und Auseinandersetzung zu verlieren, führt dazu, dass das Harmlose, das Belanglose und das Irrelevante dominiert.

Für den öffentlichen Raum werden derartige Vorbehalte, Verweise auf Aufsichtspflichten und angebliche Unbedarftheiten noch einmal mehr mit zum Teil fatalen Folgen vorgebracht und vorgeschoben. Wer nie lernt, sich einzumischen, Position zu beziehen, Dissens auszutragen, Haltung zu zeigen und für Überzeugungen einzustehen, der oder die wird später auch kaum Interesse daran zeigen, staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen.

Geschichte ist in ganz besonderer Weise geeignet, diese Kompetenzen einzuüben. Einerseits existiert Geschichte nur unter den Bedingungen der Anstößigkeit. Nur die Vergangenheit, die nach wie vor einen Wert hat, im positiven oder negativen Sinne, wird auch als Geschichte verhandelt. Außerdem ist die wesentliche Handlung, die geleistet werden muss, wenn etwas historisch wird, die, die sich von sich selbst und der eigenen Gegenwart mental distanziert.

Nicht das Erinnern, das Einverleiben und Aneignen der Vergangenheit ist der eigentliche Akt des Historisierens, sondern das bewusste Heraustreten aus den eigenen Selbstverständlichkeiten und das Anerkennen der Andersartigkeit des Vergangenen. Auf diese Weise wird Empathie, das Einlassen auf Anderes und Andere eingeübt. Und das ist die Grundvoraussetzung für fruchtbare Diskussionen jeder Art.

Noch etwas tritt hinzu. Geschichte ist deutlich weniger von historischen Wahrheiten über vergangene Wirklichkeiten geprägt, als das Historikerinnen und Historiker mitunter glauben machen. Vielmehr ist es der Diskurs, der Austausch begründeter Deutungen, mit denen Historikerinnen und Historiker versuchen, sich der Vergangenheit bestmöglich anzunähern. Auch deshalb gehört das Einüben von Diskussionen unbedingt in den Geschichtsunterricht.

Lernen entsteht im Umbau eigener Selbstverständlichkeiten. Wenn andere Impulse aussenden, auf die der eine oder die andere selbst und allein nicht kommen würde, oder wenn sie Fragen stellen, die die eigenen Selbstverständlichkeiten brüchig werden lassen, kann Lernen angestoßen werden. Diese Störung als produktiv wahrzunehmen, erfordert bestimmte Umgangsformen mit sich selbst und mit anderen. Gerade in dieser Praxis gibt es eine Neigung zu Abgrenzung, also zu Affirmation, die die produktive Kraft des Austauschs behindern kann. Um das zu domestizieren und fruchtbar zu machen, muss es im Unterricht zugelassen werden. Genau das kann der Anfang sein, auch außerhalb des Unterrichts, politischen und gesellschaftlichen Dissens zivilisiert auszutragen.

QuellentextDie Schule hinkt den Debatten hinterher

Mehr als 100 Jahre nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia erkennt Deutschland die Gräueltaten an den Volksgruppen der Herero und Nama als Völkermord an. Die offizielle Bestätigung erfolgte [2021] […]. An deutschen Schulen ist dies jedoch so gut wie gar nicht angekommen […]

[…] Ob und wie stark die deutschen Kolonialverbrechen Teil des Schulstoffs sind, hängt […] auch vom Bundesland ab. In Schleswig-Holstein etwa sind die Vorgaben so lose, dass Lehrer*innen sogar entscheiden können, wie viele Stunden sie für den deutschen Kolonialismus verwenden. In den meisten Bundesländern stehen ohnehin die europäische Expansion oder die Geschichte um Kolumbus oder den Sklavenhandel anderer Nationen im Mittelpunkt. Nur in einigen Ländern wie Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen nennen die Lehrpläne überhaupt einen Bezug zum deutschen Kolonialismus.

In Sachsen soll die Rolle Otto von Bismarcks im europäischen Imperialismus behandelt werden, in Mecklenburg-Vorpommern die Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft. Nur in Sachsen-Anhalt werden die Herero und Nama explizit genannt. Jedoch bezeichnet auch der Lehrplan dort den Genozid nicht als solchen, sondern fälschlicherweise als Widerstand. Aber das ist nicht überraschend, denn so lautete bis vor Kurzem auch noch das Narrativ in der deutschen Wissenschaft.

Den schwerfälligen Diskurswechsel vom Widerstand zum Völkermord kann Susanne Grindel von der Philipps Universität in Marburg beschreiben. Die Historikerin forscht unter anderem zur Darstellung europäischer Geschichte in Schulbüchern in verschiedenen Ländern. Zu Deutschland sagt sie: „Die neueren Geschichtsschulbücher behandeln seit Kurzem Gewalt, Unterdrückung und Verbrechen als Teil kolonialer Machtausübung. Konkret werden auch die Genozide an den Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika dargestellt.“

Allerdings sei das nur bei sehr aktuellen Schulbüchern der Fall, so Susanne Grindel. Erst seit 2015 spricht das Auswärtige Amt bei den Kolonialverbrechen Deutschlands im heutigen Namibia von Völkermord. Bis die neue Sprachregelung und der entsprechend angepasste Unterricht an den Schulen ankommt, werden wohl noch Jahre vergehen.

Laut Grindel liegt das auch daran, dass die finanziellen Mittel der Schulen für neue Lehrbücher begrenzt seien und in einigen Bundesländern die Eltern die Kosten für Schul- und Übungsbücher selbst tragen müssten. „Darum sind häufig ältere Schulbücher im Einsatz“, so Grindel. „Neue Schulbuchsätze werden etwa alle zehn Jahre beschafft.“

Die alten Schulbücher vermitteln jedoch weder den aktuellen Diskurs, noch legen sie die historischen Zusammenhänge einer veränderten Gesellschaft dar: „Ein europäischer Bezugsrahmen ist in den älteren Schulbüchern zu erkennen – jedoch betrachten sie den Kolonialismus, in Bezug auf Deutschland, noch als Teil der Außenpolitik des Kaiserreichs und der europäischen Gleichgewichtspolitik“, kritisiert Grindel.

Die Folge: Die von den Schulministerien zugelassenen Unterrichtsmaterialien betiteln Genozide in der Regel nur als Kriege der damaligen Kolonialmächte und nicht als koloniale Verbrechen. Dazu kommt, dass die Schulen selbst nicht immer aufgeschlossen sind für neue gesellschaftliche Diskurse. So nimmt das jedenfalls Geschichtslehrerin Kathrin Lemsky aus Schleswig-Holstein wahr: „Schulen sind generell recht reformresistente Orte. Das sieht man schon daran, dass sich die Strukturen der alten Lehrpläne auch immer noch in den neuen Fachanforderungen wiederfinden lassen. Man hört sehr oft: Das haben wir schon immer so gemacht“.

Hinzu kommt noch etwas anderes: An vielen schleswig-holsteinischen Gemeinschaftsschulen sei Geschichte gar kein eigenständiges Fach mehr, sondern ein Teil des Faches „Weltkunde“, so Lemsky. „Oft werden also historische Themen von fachfremden Lehrkräften vermittelt, die sich wenig oder gar nicht mit dem deutschen Imperialismus wissenschaftlich auseinandergesetzt haben.“ Diese Lehrkräfte würden sich dann an den Rahmenlehrplänen orientieren. Und die machen wenig Vorgaben, wie der deutsche Kolonialismus unterrichtet werden soll.

Canberk Köktürk, „Genozid, keine Kriege“, in: taz vom 4. Mai 2022, S.7

Reflektieren

Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson hatte mit seinen monumentalen Verfilmungen des „Herrn der Ringe“ bereits Anfang der 2000er-Jahre weltweite Berühmtheit erlangt, als er 2018 einen ganz besonderen Film herausbrachte, der nur schwer einzuordnen ist.

They shall not grow old“ ist eine Dokumentation, ist der Blick in ein Filmarchiv und irgendwie dann doch mehr eine Collage und vielleicht sogar eine Fiktion. Jackson bereitete filmisches Archivmaterial zum Ersten Weltkrieg aus dem Imperial War Museum in London mit neuester Technik auf, passte Bildfrequenzen (Bilder pro Sekunde) an, restaurierte das Archivmaterial, färbte nach und wandelte es schließlich in 3-D um. Außerdem ergänzte er mithilfe von Lippenlesern den fehlenden Ton der ursprünglichen Stummfilme und unterlegte sie mit passenden Geräuschen – so polierte er das Material auf und ergänzte es sogar. Herausgekommen ist eine filmische Einsicht, wie sie nie möglich war, weil die technischen Dokumentationsmöglichkeiten vor 100 Jahren andere waren als heute.

Jackson selbst sagt, dass er den oft namenlosen Figuren des archivalischen Materials damit zu neuer Würde und Sichtbarkeit verholfen hat. „Sie verschwinden nicht länger in einem Nebel aus zerkratzten, körnigen und zu schnell laufenden Filmen. Sie springen dich an.“

Ist das gewollt? Ist das erlaubt? Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer waren und sind begeistert. Endlich haben sie einen Zugang zu einer Welt, die an sich vergangen und eben für heutige Sehgewohnheiten befremdlich und damit gebrochen ist: zu schnell, zu kratzig, stumm und schwarz-weiß. Diese Hürden räumt Jackson aus dem Weg und passt das historische Material den technischen Möglichkeiten und Sehgewohnheiten der Gegenwart an. Genau deshalb finden die Zuschauenden viel leichter einen Zugang. Es ist, als wäre jemand mit einer Handykamera unter Kameraden. Es stellt sich viel leichter das Gefühl ein, dabei zu sein.

Technisch war das herausfordernd und im Grunde hat Jackson hier nur filmisch das gemacht, was jede Geschichtsschreibung macht: Er hat etwas übersetzt. Weil nicht alle ins Archiv gehen wollen und können, machen das Profis und bereiten dieses historische Material für interessierte Laien als Geschichte auf, als etwas, zu dem sie Zugang finden können, weil es zu ihnen passt, zu ihrer Art zu sprechen, zu erzählen, zu denken.

Im Film ist das jedoch noch einmal gesteigert. Aber zu welchem Preis? Jackson macht es seinem Publikum leicht – und damit macht er es träge. Sie verlieren das Gespür für die Distanz zwischen dem Gestern und dem Heute. Es stellt sich das Gefühl des Unmittelbaren ein und die Zuschauenden werden verführt zu sagen: So muss es gewesen sein – so und nicht anders.

Damit geht aber auch ein Gefühl für Zeit verloren. Die lässt sich eben erst dadurch wahrnehmen, dass etwas erfahren werden kann, das anders ist als die gegenwärtig vertraute Welt. All das Unbequeme, Irritierende des historischen Materials führt vor Augen, dass es eine vergangene Welt gab, die anders war als die vertraute Gegenwart, dass zwischen Heute und Damals ein Zeitraum liegt. Das Wahrnehmen dieser Distanz ist unentbehrlich, wenn Zeit erfahren werden soll oder will.

Puristen mögen hier außerdem bemängeln, dass historisches Material manipuliert wird. Dem lässt sich entgegenhalten, dass dies akzeptiert werden muss, da jede Geschichte genau das macht: historisches Material in eine Erzählung übersetzen. Diese Übersetzung kann, wie bei allen ungebrochenen Geschichten ohne Ausweis der Referenzen, also ohne Fußnoten, nicht mehr als Übersetzung zur Kenntnis genommen werden. Wenn alles schon auf Hochglanz poliert ist, ohne Brüche, Kratzer, Dissonanzen, wo ist dann der Raum, sich selbst zu versuchen, Geschichten zu verwerfen, andere auszuprobieren, zu überdenken, zu korrigieren?

All das sind elementare historische Kompetenzen. Der Geschichtsdidaktiker Karl-Ernst Jeismann (1925–2012) hat dafür schon vor Jahrzehnten den Begriff eines „reflektierten Geschichtsbewusstseins“ entfaltet. Menschen, die dies haben, verfügen über mehr als reines Wissen über die Vergangenheit. Sie haben darüber hinaus ein Gefühl dafür, wie dieses Wissen entsteht. Sie treten kritisch auf gegenüber den Geschichten anderer, vor allem aber auch gegenüber sich selbst.

Bernd Schönemann hat den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als „zwei Seiten einer Medaille“ bezeichnet. Für ihn ist das eine (Geschichtsbewusstsein) individuell, das andere (Geschichtskultur) kollektiv. So recht verträgt sich das mit dem heuristischen Kulturbegriff der zugehörigen Wissenschaften nicht, dem es gerade um die Dynamik des Spannungsfeldes zwischen individuell und kollektiv geht – wie das der Historiker Otto Gerhard Oexle und der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz überzeugend ausbuchstabiert haben.

Da aber Bewusstsein eine individualpsychologische Kategorie ist, hilft der Begriff der Kultur, die kollektiven Verhandlungen individueller Vorstellungen genauer in den Blick zu nehmen. In Geschichten ist jede und jeder verwoben. Ein Bewusstsein für dieses Verwobensein ist eine wirkliche Erkenntnisleistung. Wo diese unterschiedlichen individuellen Geschichten und Weltsichten – reflektiert oder unreflektiert – verhandelt werden, kann Geschichtskultur am Werk betrachtet werden, sei es am Küchentisch, in der Schulklasse, im Kino oder Bundestag. Und diese kulturellen Aushandlungen verändern dann auch immer die Vorstellungen individuellen Geschichtsbewusstseins, stellen infrage, befestigen, drehen um und so weiter.

Die unterrichtliche Zielkategorie des Geschichtsbewusstseins fokussiert die Absicht, dass diese Prozesse reflektiert ablaufen sollen. Historisches Lernen ist das Einüben dieser Bewusstheit. Wenn aber die Bilder einer Geschichte, wie die, mit denen Jackson seine Zuschauerinnen und Zuschauer in den Bann zieht, derart faszinieren, dass diese gar nicht anders können, als das Angebot anzunehmen und ganz im Gefühl aufzugehen, hautnah dabei zu sein, dann hören sie auf, sich selbst zu betrachten und zu fragen, was sie da so fasziniert und warum. Sie lernen dann eben gerade nicht, besser, kritischer, vielleicht auch nachsichtiger, in jedem Fall reifer mit sich selbst umzugehen.

Im Unterricht ist die Verführung besonders groß, genau solch aufbereitetes Material einzusetzen: Was ist mit den Quellen auch schon groß passiert? Ausgeglichen hat Jackson doch lediglich die mangelnden technischen Möglichkeiten der Zeit vor 100 Jahren. Mit dem gleichen Effekt werden Spielfilme eingesetzt, szenische Inszenierungen, und es kommen zunehmend neue Möglichkeiten hinzu: 360°-Filme wie „Was wollten Sie in Berlin?!“ der Gedenkstätte Hohenschönhausen und anderes mehr. Sie alle sollen der Vorstellung der Vergangenheit auf die Sprünge helfen, aber sie bestimmen auch ganz exakt den Takt, den Gleichschritt historischer Imagination. Sie machen mental träge und bleiben damit weit unter den Möglichkeiten, die in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickelt werden könnten: Reflektiertheit, Vorstellungskraft, Skepsis, Urteilskraft, die Möglichkeit, Alternativen zu denken und über den Tag hinaus zu leben.

Produkte dieser Art gehören ganz unbedingt in den Unterricht, aber eben nicht als Zugänge zur Vergangenheit, sondern als Zugänge zu heute erzählten Geschichten, als ­Deutungsangebote und nicht als Abbilder vergangener Wirklichkeit. Dann werden sie zu Angeboten, die herausfordern, zu denen jede und jeder Einzelne sich verhalten kann und muss. So sollte Geschichtskultur zum Bestandteil des Unterrichts werden.

Einmischen

Die Moschee ist das größte Gebäude der Stadt Djenné in Mali. Sie ist vollständig aus Lehm gebaut und das größte Gebäude dieser Art in Afrika. Der ungebrannte Lehm gleicht Temperaturunterschiede bestens aus, macht die Mauern aber anfällig gegenüber Starkregen und anderen Witterungseinflüssen. Gebäude dieser Art sind ständiger Überformung ausgesetzt bis hin zur Zerstörung.

Das ist Anlass für das alljährlich im April stattfindende Crépissage-Fest, einer gemeinschaftlichen Reparatur, bei der die Schäden des vorangegangenen Jahres behoben werden. Beides, der kontinuierliche witterungsbedingte Verfall und die alljährliche Reparatur des Gebäudes, haben dazu geführt, dass sich die Moschee in ihrer nur gut einhundertjährigen Vergangenheit deutlich sichtbar in ihrem Aussehen verändert hat und beständig weiter verändert.

Beim Fest wird tagelang der benötigte Lehm und das Wasser herbeigeschafft, in Gruben eingeschlämmt, mit den Füßen gestampft und vermengt. Auf dem Rücken schleppen meist die Männer diesen Schlamm auf waghalsigen Gerüsten nach oben und verschmieren die Schäden des Gebäudes, bilden dessen Architektur nach und verändern die Fassade dabei.

Es gibt Essen, Tanz und Musik, Wettrennen, Ausgelassenheit und Ernsthaftigkeit. Jeder wird gebraucht, alle Jahre wieder. Der Lehm verbindet nicht nur die Ziegeln des Gebäudes, sondern auch die verdreckten Menschen mit ihrer Moschee und alle Mitglieder der Gemeinschaft untereinander auf ganz bodenständige und gleichsam ritualisierte Weise.

Das witterungsbedingte Vergehen des Gebäudes wird im Fest der Crépissage gestoppt, rückgängig gemacht, ohne dass dabei zum vergangenen Zustand zurückgekehrt werden kann. In neuer Verbundenheit aber ist die Moschee gewappnet, um ein weiteres Jahr Wind, Sonne und Regen gegenüber zu bestehen, ehe im nächsten Jahr alles von Neuem beginnt und sich sichtbar doch alles in stetiger Veränderung befindet.

Die Bewohner Djennés mischen sich ein. Sie verbinden sich mit dem, was auf sie gekommen ist, verändern es im Akt des Wiederherstellens. Sie rekonstruieren, verändern zugleich und markieren diese Praxis im besonderen Moment eines Festes.

Feste sind viel zu selten Anlass für Reflexion und sie sind auch zu selten Ausdruck, sich selbst in die Zeit zu stellen. Obwohl sie uns im privaten Rahmen sehr vertraut sind, beispielsweise in Form von Geburtstagen, Hochzeiten oder Trauerfeiern.

Der Philosoph Odo Marquard (1928–2015) hat Feste als „Moratorium des Alltags“ bezeichnet. Feste gliedern unsere Zeit gerade dadurch, dass sie Inseln sind im Strom der Zeit. Sie verweisen durch ihr Innehalten auf ein Davor und Danach und häufig auch auf eine Wiederkehr. Feste stellen Gemeinschaft her, gerade dadurch, dass sie Individuen untereinander und mit Raum und Zeit verbinden. So entsteht – ganz wie bei der Crépissage – etwas Kontinuierliches und sich dennoch stetig Wandelndes.

Weil dem so ist, weil im Fest Gemeinschaft, Zeit und Raum miteinander verschränkt sind und in herausgehobener Weise greifbar werden, lohnt es sich, Feste im Unterricht zu thematisieren. Das kann einerseits reflektierend und andererseits praktizierend geschehen, beides hat einen besonderen Wert. Feste sind alles andere als trivial. Sie sind in besonderer Weise Teil von Geschichtskulturen.

Weil im Fest vielfach Dinge erlaubt sind, die der Alltag verbietet, können auch Proteste Festcharakter haben, ebenso wie Exzesse. Das Entscheidende ist die Durchbrechung des Alltags. Im Fest werden die Dinge verhandelt, die im Alltag besondere Bedeutung haben. Und dabei werden Formen entfaltet, die diesen Alltag überhöhen und steigern. Zeit wird dabei geradezu verdichtet und das Erleben überschreitet die realen Grenzen, nicht selten durch besondere Zurichtungen des Körpers, sei es durch Tänze oder den gemeinsamen Konsum wahrnehmungserweiternder oder -störender Substanzen. All das dient in besonderer Weise dazu, Grenzen zu überschreiten, auch die Grenzen der Zeit. Nichts anderes ist Geschichte als ein Heraustreten, ein Erweitern der eigenen Gegenwart.

Es ergibt Sinn, dass Geschichte im geschützten Raum des Klassenzimmers zum Thema wird. Aber in und mit Geschichte werden in besonderer Weise die Beziehungen zwischen Menschen verhandelt und auch die zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Da gerade Geschichtskultur die Bezogenheit jeder Geschichte auf ein soziales und räumliches Gefüge betont, ist gut beraten, wer versucht, diese Verflechtungen auch aktiv in ­Lernprozesse zu involvieren. Die besondere Chance liegt dabei gerade in den Wechselmöglichkeiten zwischen geschütztem und exponiertem Raum. Methodisch ist immer wieder die Bedeutung von forschend-entdeckenden und handlungsorientierten Ansätzen betont worden.

Vieles ist in diesem Zusammenhang möglich, in Reflexion und eigener Praxis: die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Facetten beispielsweise der Reenactments oder die Auseinandersetzung mit Totengedenken, Feiertagen oder Straßennamen, die Gestaltung eigener Ausstellungen.

Spannender, weil drängender sind aber die Auseinandersetzungen im politischen Bereich und das Entfalten von Handlungsmacht gerade dort. Das betrifft Denkmalstiftungen genauso wie Denkmalstürze. Genau in dieser Absicht wurden in den 1980er-Jahren Geschichtswerkstätten gegründet. „Grabe, wo du stehst“, gab der schwedische Schriftsteller und Literaturhistoriker Sven Lindqvist (1932–2019) als Motto aus, um Geschichten zu erzählen, die die offiziellen Institutionen vergessen oder bewusst verschwiegen hatten.

Auch der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten steht in diesem Zusammenhang und ermutigt Schülerinnen und Schüler, lokale Geschichten freizulegen, Vergessenes sichtbar zu machen und Verschwiegenes in die Diskussion zu bringen. Wenn sich Schülerinnen und Schüler in den schulnahen Bereich und seine historischen Kontroversen einmischen, auch wenn es unbequem wird, erfahren Jugendliche Geschichte als Teil der Gestaltung ihrer Lebenswirklichkeit. Demokratien brauchen Bürgerinnen und Bürger, die die Fähigkeit zu derartiger Mündigkeit in der Schule gelernt haben.

Lernort Landshut

Eine Auseinandersetzung mit Geschichtskultur soll auch im geplanten „Lernort Landshut“ stattfinden. Mehr Infos findet Ihr auf der Interner Link: Projektseite auf bpb.de.

Lars Deile ist Professor für Didaktik und Theorie der Geschichte. Er arbeitete nach einem Studium in Jena und Dublin als Lehrer für Geschichte und Englisch am Thüringer Sprachengymnasium in Schnepfenthal. Nach Stationen in Greifswald und Berlin ist er seit 2016 an der Universität Bielefeld tätig. Neben seinen Interessen für die Bildungsgeschichte der Moderne und für Geschichtskulturen der Gegenwart denkt er insbesondere darüber nach, was Geschichte ist und wie sich demzufolge historisches Lernen verstehen und gestalten lässt. Er hat zum Fest veröffentlicht, zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und zum Geschichtsunterricht. Zuletzt erschienen „Prüfen im Geschichtsstudium“ (2023 mit Frank Sobich), „Historical Understanding: Past, Present and Future“ (2022 mit Zoltán Boldizsár Simon) und „Geschichtsdidaktische Grundbegriffe“ (2021 mit Jörg van Norden u. a.).
Kontakt: E-Mail Link: lars.deile@uni-bielefeld.de