Die in der FDJ organisierten Frauen und Mädchen sollten die Mitglieder beim Volksaufstand 1953 vom Streik abhalten. Der Volksaufstand war für sie eine Zerreißprobe. Einige standen fest an der Seite des SED-Regimes, einige waren in ihrer Loyalität zu den DDR-Machthabern erschüttert und schlugen sich auf die Seite der Demonstrierenden.
Betrachtet man Bilder des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 wird deutlich, dass junge Menschen eine tragende Rolle gespielt haben. Das SED-Regime setzte deshalb auf den Jugendverband der DDR, die Externer Link: Freie Deutsche Jugend (FDJ): Die FDJ-Funktionär*innen sollten die Mitglieder vom Streik abhalten. Die in der FDJ organisierten Frauen und Mädchen nahmen dabei unterschiedliche Rollen ein. Einige standen fest an der Seite des SED-Regimes, einige waren in ihrer Loyalität zu den DDR-Machthabern erschüttert und einige schlugen sich aktiv auf die Seite der Demonstrierenden.
Im Alltag sollte die FDJ als Jugendverband sowohl die ideelle Ausbildung junger Menschen im Sinne des SED-Regimes als auch die Freizeitgestaltung der Jugendlichen organisieren. In der Praxis fanden sich die Funktionär*innen des Jugendverbandes hin- und hergerissen zwischen den politischen Ansprüchen der SED und den Wünschen der jungen Menschen. Anfang der 1950er-Jahre befand sich der Jugendverband der DDR in der Krise. Die direkte Konkurrenz mit dem kirchlichen Pendant, der Externer Link: Jungen Gemeinde, sorgte für Unruhe im Verband. In den Betrieben, in denen der Volksaufstand seinen Ausgangspunkt nahm, konnte sich die FDJ nicht so erfolgreich aufstellen. Viele der jungen Arbeitnehmer*innen hatten Stück für Stück ihre Berührungspunkte mit der FDJ verloren, dementsprechend gering war der Einfluss der wenigen und oftmals innerhalb des Kollegiums isolierten FDJ-Funktionär*innen.
Der 17. Juni wurde für FDJ-Funktionärinnen zur Loyalitätsprobe. Ihnen begegneten in unterschiedlichster Weise einerseits die Vorgaben des Verbandes, also die der SED, den Aufstand in Schach zu halten. Andererseits kannten und teilten sie die Lebensrealität in der DDR und waren mit den Meinungen und Erfahrungen ihrer Altersgruppe konfrontiert. Dieses Konfliktfeld erkannte auch die FDJ-Bezirksleitung Berlin, als sie wenige Tage nach dem Aufstand resümierte:
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Der größte Teil der Mitglieder sah die Forderung der Arbeiter im demokratischen Sektor Berlins und in der Deutschen Demokratischen Republik als gerecht an, aber sie erkannten auch, dass das Inbrandsetzen von HO-Kiosken, von Autos, des Kolumbus-Hauses usw. das Werk faschistischer Provokateure war und sagten, dass Arbeiter niemals das vernichten, was sie selbst aufgebaut haben.
FDJlerinnen an der Seite des SED-Regimes
Die FDJ versuchte, im Laufe des Aufstandes möglichst präsent zu sein, viele der eingesetzten FDJler*innen waren Frauen. Den sogenannten Jugendfreundinnen wurden unterschiedliche Aufgaben zu teil. In den Betrieben sollten FDJlerinnen ins direkte Gespräch mit den Streikenden gehen, um sie davon zu überzeugen, die Arbeit wieder aufzunehmen. In den Demonstrationszügen selbst fanden sich auch Angehörige der FDJ. Sie waren einerseits als Agitationstrupp damit beauftragt, die Demonstrierenden vom Protest abzubringen. Andererseits waren sie Beobachter*innen, die auch einzelne Namen von Streikenden in Erfahrung bringen und aufschreiben sollten. Diese Demonstrierenden sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Einige Angehörige der FDJ wurden auch nach West-Berlin geschickt, um die Stimmung dort zu beobachten und das Vorgehen der West-Berliner FDJ zu unterstützen.
Die FDJlerin Lena Reinhardt sollte in Betrieben mit Streikenden diskutieren. In einer kaderpolitischen Einschätzung , die die FDJ nach dem Volksaufstand über viele ihrer Funktionär*innen anfertigte, heißt es:
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Während der ersten Tage des Ereignisses [Volksaufstand, Anm. d. Autorinnen] wurde sie in Betrieben eingesetzt. Dort vertrat sie offen und standhaft die Meinung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Trotz Angriffe von Seiten faschistischer Provokateure konnte ihr Mut nicht gehemmt und [sie nicht] von Diskussionen mit den Arbeitern abgehalten werden. Trotzdem sie ein kleines Kind hat, war sie auch nachts bei der Wache zu finden.
Mit ihrem Einsatz für die SED war Reinhard nicht allein. Auch Maria Konrad zeigte den Berichten zufolge großen Einsatz:
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Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes hat sich die Jugendfreundin […] bei der Durchführung ihrer Aufgaben […] Tag und Nacht unermüdlich eingesetzt. Sie gibt sich große Mühe, alle Aufgaben vorbildlich zu lösen und zeigt dabei ein gutes Verantwortungsbewusstsein. Ihre Arbeit wird von den Freunden der Kreisleitung Lichtenberg als wirkliche Hilfe empfunden. Ihre Einschätzungen zeigen von einem guten politischen Verstehen der Probleme.
In den Tagen des 17. Juni 1953 war eine weitere „Jugendfreundin“ aktiv: Margot Feist, die spätere Interner Link: Margot Honecker. Wie etliche andere FDJlerinnen gab die damals 26-Jjährige Informationen zum Aufstand auf der Stalinallee und beim VEB Fortschritt I, einem Lichtenberger Bekleidungsbetrieb, bei dem überwiegend Frauen beschäftigt waren, weiter. Ihre Informationen wurden in der FDJ-Zentrale von anderen Jugendfreund*innen notiert.
Der 17. Juni 1953 als Loyalitätsprobe für FDJlerinnen
Nicht alle FDJlerinnen erfüllten ihre Aufgaben den überlieferten Akten zufolge mit derlei Einsatz und ideologischer Standhaftigkeit. Der Einsatz sowjetischer Panzer gegen die Demonstrierenden war für einige der Grund, ihre Loyalität zum Jugendverband, der in seiner Propaganda häufig den Frieden als oberstes Gebot proklamierte, aufzukündigen. Eine von ihnen war FDJ-Sekretärin Lisa Meißner. Sie „ging am 18. Juni 53 nachmittags in die Stadt und will dort einige Vorfälle gesehen haben z.B. dass die sowjetischen Truppen und VP auf die Menschen geschossen haben. Damit war sie nicht einverstanden. Dies veranlasste sie dazu, am nächsten Tag ihre Arbeit als FDJ-Sekretär niederzulegen und ihren Namen aus der FDJ-Liste zu streichen.“
Eine weitere FDJlerin, die in den Tagen des Volksaufstandes nicht nur ihre Verbindung zum Jugendverband, sondern auch zur DDR verlor, war die damals 17-jährige Erika Sarre. Als sie im Demonstrationszug ein bekanntes Gesicht, ebenfalls in FDJ-Jacke sah, war sie zunächst erleichtert, nicht die einzige FDJlerin in Uniform zu sein. Dieser FDJler bat sie darum, ihre Beobachtungen aufzuschreiben und der FDJ zur Verfügung zu stellen. Daraufhin zog sie ihre FDJ-Jacke aus und warnte die Umstehenden vor Spitzeln. Sie wusste, dass sie diese Aktion in Schwierigkeiten bringen konnte und verließ die DDR. Sarre gehört zu den wenigen bekannten Frauen des 17. Juni. Ihre Geschichte wird im Film Der Aufstand (2003) thematisiert. Die einzige Quelle über Erika Sarre ist zum jetzigen Zeitpunkt Guido Knopps Buch Der Aufstand, die darin enthaltenen Zitate scheinen dem Interview zu entstammen, das auch im Film genutzt wurde, weitere Angaben machte der Autor dazu nicht. Eine von uns initiierte Personenrecherche beim Bundesarchiv ergab leider kein Ergebnis.
Über Monika Schulz, in der FDJ-Grundeinheit der Deutsche Kugellagerfabriken in Berlin organisiert, heißt es in den Verbandsberichten der FDJ:
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Die Jugendfreundin war bis vor einigen Wochen Sekretär der Grundeinheit. Am 17. Juni war sie es, die als eine der ersten dem sogenannten Streik zustimmte, die Arbeiter aufwiegelte, sich daran zu beteiligen und selbst mitdemonstrierte. Nach ihrer Rückkehr in den Betrieb rühmte sie sich damit, dass sie entscheidend daran beteiligt war, die für Ruhe sorgenden Volkspolizisten mit Steinen zu bewerfen und versucht hat, mit einer johlenden Horde von Provokateuren die Reihen der absperrenden Volkspolizei zu durchbrechen.
In den FDJ-Akten erscheint Monika Schulz eher aufrührerisch. Laut einer Überlieferung der Staatssicherheit kam eine Kollegin, die auch an der Demonstration teilgenommen hatte, zu einer anderen Einschätzung: Monika Schulz und ein anderer Kollege wären ihr vorgekommen „als wenn beide unsere Amme wären. Sie riefen uns wiederholt aus den vordersten Reihen der Demonstranten zurück und ermahnten uns des Öfteren, dass wir damit nichts zu tun hätten.“ Die FDJ-Akten berichten von Gesprächen im Nachhinein. Monika Schulz wird, wie den meisten Aufständischen aus den Reihen der FDJ, ein Einsehen ihres Fehlers zugeschrieben. Es wird außerdem festgestellt, dass sie „mit den anderen FDJlern über diese Fehler diskutieren will. Sie hat einen extrem starken Einfluss auf die Lehrlinge.“ Es liegt die Vermutung nahe, dass der Verband es sich in krisenbehafteten Zeiten nicht leisten konnte, noch mehr Mitglieder zur verlieren.
Das FDJ-Hemd als Politikum
FDJlerinnen verkörperten das Regime. Besonders sichtbar wurde das, wenn sie das FDJ-Hemd trugen. Es war Herrschaftszeichen und wurde im Verlauf des Aufstandes an der einen oder anderen Stelle zum Politikum. Erika Sarre zog sich die FDJ-Jacke ganz freiwillig und bewusst aus und signalisierte damit, dass sie auf Seiten der Aufständischen stand. Es gibt aber auch etliche Berichte, dass Demonstrierende FDJlerinnen ihr Hemd gegen ihren Willen gewaltsam ausgezogen haben. FDJlerinnen waren als Vertreterinnen des Regimes vielfach den Aggressionen der Demonstrierenden ausgesetzt. So berichtet zum Beispiel eine FDJlerin aus dem Werk Siemens-Plania (später VEB Elektrokohle Lichtenberg), „dass man ihr das blaue Hemd vom Leibe gerissen habe. Sie hat sich mit der Werkleitung in Verbindung gesetzt. Man will jetzt den Verantwortlichen ausfindig machen. Heute haben sie die Frauen und Mädels in der Abteilung an der Arbeit gehindert. Man hat sie u.a. angeschrien, ungefähr so: „Na warte ma, wenn wir an die Macht kommen, dann wird es anders sein.“ Darüber hinaus ist die Rede zum Beispiel von einer weiteren FDJ-Funktionärin, die „in der Stalin-Allee, wo sie auch wohnt, von Rowdies überfallen und geschlagen und in einen Fahrstuhlschacht geworfen wurde, weil sie den vorbeifahrenden sowjetischen Panzern zuwinkte.“
Auch als FDJlerinnen prägten Frauen den 17. Juni 1953. Auf der Seite des Regimes sahen sie sich konfrontiert mit den Anforderungen der FDJ, die Demonstrierenden vielerorts am Streik zu hindern. Ein aussichtloses Unterfangen, denn auch viele der in der FDJ organisierten Jugendlichen streikten mit und die Streikenden waren zahlenmäßig überlegen. Für einige wenige Frauen war der Volksaufstand der Katalysator, der sie aus dem Verband oder, wie hier das Beispiel Erika Sarre zeigte, aus der DDR trieb. Die Akten zeigen allerdings auf, dass der Verband bemüht war, die meisten seiner Mitglieder nach dem Volksaufstand wieder einzugliedern. Folgt man der Berichterstattung, scheint dem Verband das gelungen zu sein. In einem Bericht der FDJ-Grundorganisation des Bekleidungswerkes VEB Fortschritt I heißt es am 20. Juni 1953: „Hier sind die FDJ’ler der Meinung, dass wir an der Verhängung des Ausnahmezustandes selbst schuld sind. Wir FDJ’ler haben uns aufhetzen lassen durch die Diskussionen […]“. Inwiefern dieses Statement aus Überzeugung oder unter Druck entstanden ist, lässt sich nicht nachweisen.
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