„Los kommt heraus!“
Streikende Frauen am 17. Juni 1953
Andrea BahrMichèle Matetschk
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„Alles raus, wir streiken!“ - Mit diesem Aufruf forderte eine Arbeiterin am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin andere Menschen zum Streik auf. Hintergründe zu streikenden Frauen aus zwei Berliner Kabelwerken und aus dem VEB Fortschritt.
„Los kommt heraus!“ oder „Alles raus, wir streiken!“ – mit diesen Aufrufen forderten zwei Arbeiterinnen am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin andere Menschen zum Streik auf. Die Proteste im Juni 1953 waren weitgehend spontan, und es stand keine Organisation dahinter, die ihre Mitglieder mobilisieren oder über weitreichende Netzwerke zum Protest hätte auffordern können. So brauchte es in jedem Betrieb Menschen, die andere mitrissen, sie dazu brachten, die Arbeit niederzulegen und auf die Straße zu gehen. Vielerorts fanden spontane Belegschaftsversammlungen statt, in denen Vertreter*innen des Regimes – beispielsweise Interner Link: FDGB oder Interner Link: SED-Funktionär*innen – versuchten, die Menschen zu beschwichtigen und dafür zu sorgen, dass sie an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. Sie hatten in der Regel jedoch keine Chance; der Unmut über soziale und politische Entwicklungen war zu groß. Einzelne Menschen standen auf und stellten Forderungen nach freien Wahlen, niedrigeren Preisen und einer neuen Regierung. Andere setzten sich an die Spitze der Protestzüge und zogen mit diesem Vorbild ihre Kolleg*innen mit.
Insgesamt waren Frauen an der Spitze der Streiks und in den Streikleitungen der Betriebe eher unterrepräsentiert. Dies hatte viel mit den traditionellen Rollenbildern der Interner Link: 1950er-Jahre zu tun, „wonach Frauen weniger zu politischen Funktionen zu gebrauchen seien als Männer“. Darüber hinaus wählten Belegschaften oft Menschen in die Streikleitungen, die sich bereits in den Jahren oder sogar Jahrzehnten zuvor für besser Arbeitsbedingungen und andere Interessen der Arbeitenden eingesetzt hatten. Dies waren in der Regel Männer, da die Mehrheit der Frauen erst nach 1945 einer Erwerbsarbeit nachging. Erst dann konnten sie soziale Beziehungen in den Betrieben aufbauen und das Vertrauen ihrer Kolleg*innen gewinnen. Dennoch gab es Motivatorinnen, Beispielgeberinnen und Anführerinnen, die am 17. Juni 1953 dazu beitrugen, dass mehr als eine Million Menschen DDR-weit auf die Straße gingen. Drei Beispiele dafür wollen wir hier vorstellen.
Kabelwerk Oberspree
Im Kabelwerk Oberspree, einem Großbetrieb in Berlin-Oberschöneweide, war Ilse Wachter unter den Menschen, die andere zum Streik motivierten. Die 49-jährige Kabelprüferin kam am 17. Juni 1953 zur Frühschicht ins Werk und stellte fest, dass ein Großteil der Belegschaft nicht arbeitete, sondern vor den Werkstoren stand und diskutierte. Wie in anderen Betrieben auch wurde schnell eine Belegschaftsversammlung organisiert, auf der u. a. der Parteisekretär sprach und auf die Belegschaft einredete: Die Normerhöhungen seien doch zurückgenommen, es gäbe keinen Grund mehr für den Streik. Ihm schallten Rufe und Pfiffe entgegen. Freie Wahlen, die Absetzung der Regierung und Solidarität mit den Streikenden von der Stalinallee wurden gefordert. Einige Beschäftigte des Kabelwerks zögerten jedoch, sich den Protesten anzuschließen. Ilse Wachter überredete die Menschen in ihrem unmittelbaren Arbeitsumfeld, den Schritt auf die Straße zu wagen, um mehr Beteiligung und eine bessere Versorgung einzufordern. Die Staatssicherheit verhaftete die Kabelprüferin zwei Tage später, am 19. Juni 1953, wegen „Zugehörigkeit zu einer Streikleitung“. Dies entsprach den Leitlinien für Verhaftungen rund um den Volksaufstand, die Erich Mielke, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Minister für Staatssicherheit, am selben Tag erlassen hatte. Nach zehn Tagen in Untersuchungshaft soll Ilse Wachter bei einer Vernehmung gestanden haben, dass ihre „feindliche Einstellung“ gegenüber der DDR und der Sowjetunion Motiv für ihr Handeln gewesen sei:
Zitat
Meine feindliche Einstellung hat sich von Zeit zu Zeit immer mehr verstärkt, dieses ist auf die Riassendungen die ich immer abgehört habe und auf die Einkäufe von Lebensmitteln und anderen Gegenständen, die ich in Westberlin immer getätigt habe, zurückzuführen.
Diese Erklärung entsprach der SED-Propaganda vom „faschistischen Putsch“, der am 17. Juni 1953 vom Westen inspiriert und organisiert worden sei. Das Protokoll dieser Vernehmung ist unvollständig und scheint lediglich ein Entwurf des Vernehmers zu sein. Nach allem, was wir über die Entstehung von Vernehmungsprotokollen wissen, ist es unwahrscheinlich, dass Ilse Wachter diese Äußerungen in genau diesem Wortlaut getätigt hat. So geben die Protokolle wenig Preis über die tatsächlich Motivation der Kabelprüferin, zu streiken und andere Menschen zum Streik aufzufordern. Vielleicht gab sie zu, RIAS gehört zu haben. Eine nicht ungewöhnliche Praxis im Ost-Berlin und der DDR der 1950er-Jahre. Dass sich daraus ihre „feindliche Einstellung“ speiste, entsprang wohl eher den Deutungsmustern und dem Wunschdenken der MfS-Mitarbeiter. Denn Ilse Wachter muss in ihrem Alltag auch ohne die Rundfunkberichte aus dem Westen mitbekommen haben, dass die Zustände in der DDR sehr schlecht waren. Die Kabelprüferin saß bis zum 8. Juli 1953 in Untersuchungshaft, zu einem Gerichtsprozess kam es nicht. Die Staatssicherheit stellte fest, dass es im Kabelwerk Oberspree keine Streikleitung gegeben habe. Damit war auch der Grund für die Verhaftung obsolet.
Kabelwerk Köpenick
Auch im Kabelwerk Köpenick waren Frauen Teil einer Gruppe, die am 17. Juni 1953 im Werk zum Streik aufrief. Nach seiner Verhaftung gab ein Mitglied dieser Gruppe beim MfS zu Protokoll:
Zitat
Als ich am Morgen des 17. Juni 1953 in den Betrieb kam, geriet ich mit einigen Frauen und einem Einrichter (…) in ein Gespräch über den ‚Streik‘. (…) Im Verlauf dieses Gespräches wurde von uns beschlossen im Betrieb einen sogenannten Streik zu organisieren. Es wurde festgelegt, dass dieser sogenannte Streik 10.00 Uhr beginnen soll. Damit auch alle Arbeiter für diesen sogenannten Streik gewonnen werden, sollte jeder in seine Abteilung gehen und die Arbeiter dazu aufrufen.
Das MfS identifizierte schließlich 16 Personen im Betrieb als „Rädelsführer“, darunter vier Frauen. Zwei Frauen – Susanne Freitag und Erika Hausmann – sollen auf dem Weg ins Stadtzentrum in einem anderen Betrieb die Beschäftigten aufgerufen haben, sich dem Demonstrationszug anzuschließen. Zusammen mit den anderen Mitgliedern der Gruppe wurden sie verhaftet und vor Gericht gestellt. Das Gericht verurteilte Susanne Freitag zu einem Jahr und sechs Monaten und Erika Hausmann zu sechs Monaten Gefängnis. Weitere sieben Personen erhielten Haftstrafen zwischen sechs Monaten und vier Jahren, alle wegen „friedensgefährdender, faschistischer Propaganda“. Gegen alle Verurteilten verhängte das Gericht außerdem „Sühnemaßnahmen“, dazu gehörte z. B. das Verbot, sich politisch zu betätigen. Dies war in der DDR ohnehin nur sehr eingeschränkt möglich, aber mit dem Urteil durften die Betroffenen nicht mehr Mitglied in der Gewerkschaft oder einer politischen Partei werden. Spürbare Folgen für die Verurteilten hatten weitere „Sühnemaßnahmen“ wie die „Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen“, der Verlust von Pensionen oder die Tatsache, dass Verurteilte nicht mehr Halter eines Autos werden konnten.
Sieben weitere Beschäftigte aus dem Kabelwerk Köpenick wurden freigesprochen und ihr Verfahren eingestellt. Schon wenige Tage nach der Gerichtsverhandlung waren fast alle Inhaftierten wieder frei, ihre Strafen auf Bewährung ausgesetzt. Dies entsprach der damaligen Praxis des Regimes: Einerseits sollten die „Rädelsführer“ hart bestraft werden, um ein abschreckendes Zeichen zu setzen. Andererseits wollte man keinen neuen Unmut erzeugen. So wurden Haftstrafen unter sechs Monaten generell ausgesetzt und die Staatsanwaltschaften angehalten, bei geringfügigen Vergehen das Verfahren einzustellen. Interner Link: Hilde Benjamin, die im Juni 1953 Vizepräsidentin des Obersten Gerichtes war und einen Operativstab zu den Strafverfahren rund um den Volksaufstand leitete, beauftragte außerdem den Demokratischen Frauenbund Deutschlands mit der Sorge um die Familien Verhafteter. Sie sollten u. a. materielle Unterstützung erhalten, damit sie nicht „ins Lager der Gegner“ überlaufen. Susanne Freitag und Erika Hausmann aus dem Kabelwerk Köpenick wendeten sich nach ihrer Verurteilung von der DDR ab und gingen nach West-Berlin bzw. Westdeutschland.
VEB Fortschritt
Schichtwechsel im Bekleidungswerk "Fortschritt" (Bundesarchiv, Bild 183-S86975 / Rudolph, via Wikimedia Commons)
Schichtwechsel im Werk I der Bekleidungswerke "Fortschritt" in der Berliner Möllendorfstraße. (Bundesarchiv, Bild 183-S86975 / Rudolph, via Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Schichtwechsel im Werk I der Bekleidungswerke "Fortschritt" in der Berliner Möllendorfstraße. (Bundesarchiv, Bild 183-S86975 / Rudolph, via Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Der Interner Link: VEB Fortschritt, ein Bekleidungswerk mit mehreren Standorten in Ost-Berlin, beschäftigte mehrheitlich Frauen. Schon im November 1952 hatten 100 Frauen des Betriebes ihre Arbeit niedergelegt, um gegen den Beschluss der Betriebsleitung zur Einführung höherer Normen zu protestieren. Ein halbes Jahr später waren viele Frauen aus den Fortschrittswerken wieder beim Streik dabei: Schon kurz nach halb sieben am 17. Juni 1953 hatten in den Betriebsstätten in Berlin-Lichtenberg und Berlin-Friedrichshain um die 900 Personen die Arbeit niedergelegt. An den Wänden in den Betriebsräumen des Lichtenberger Werkes hatten Beschäftigte mit Graffitis ihre Streikbereitschaft geäußert: „Fortschritt W. I streikt“ und „Streiken“ war zu lesen. Sechs Arbeiterinnen aus dem Lichtenberger Werk waren dann am Nachmittag Teil einer Delegation, die im RIAS über die Demonstrationen berichtete. Eine der Frauen schilderte ihre Erlebnisse:
Zitat
Wir waren uns alle einig und haben uns zusammengeschlossen und sind dann die Frankfurter Allee runter, Stalinallee und kurz vorm Straußberger Platz, an der Warschauer, da kamen uns denn schon die Volkspolizei entgegen und wollten uns eben abdrängen und absperren, aber es ging nicht, die Masse überrannte sie. Und wir natürlich alle mit jubelnden Gesichtern weiter. (…) In Sprechchören haben wir eben bekannt gegeben, dass wir keine HO haben wollen, wir wollen Frieden haben und vor allen Dingen zu Essen und Freiheit, das vor allen Dingen.
Die Arbeiterinnen berichteten auch von Gewalt gegen die Protestierenden und wie der Einsatz sowjetischer Soldaten auf die Menschen wirkte:
Zitat
Wir hatten dieses Gefühl, wenn wir noch einen Schritt weiter gehen, sie würden ohne Weiteres das Feuer eröffnen.“ Dennoch sei die „Demonstration (…) nicht so zerstreut worden, dass es nun abgeblasen ist, sondern sie haben sich wieder an einem Punkt gesammelt und stehen ja noch.
Die Frauen teilten ihre Erfahrungen des Tages im RIAS und wurden so zum Vorbild. Viele Menschen in der DDR erfuhren erst durch den RIAS, was in Ost-Berlin und an anderen Orten los war. Die Nachrichten und die Interviews mit Demonstrierenden trugen dazu bei, dass Menschen sich den Protesten anschlossen. Das Interview im RIAS wurde zu einem Zeitpunkt gesendet, als die Niederschlagung der Proteste durch sowjetische Truppen und DDR-Sicherheitskräfte schon begonnen hatte. Die zuversichtlichen Schilderungen der Frauen, in denen von „jubelnden Gesichtern“, dem Überrennen der Volkspolizisten und der noch anhaltenden Proteste die Rede war, mögen für viele eine Ermutigung gewe sen sein, weiterzumachen. Dass dies letztlich vergeblich war, konnten die Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit wissen.
Am Morgen des 18. Juni führten hohe Parteifunktionäre im VEB Fortschritt – Werk I in Berlin-Lichtenberg eine Versammlung mit den Beschäftigten durch, an der auch MfS-Mitarbeitende teilnahmen. Der Bericht einer FDJlerin zeigt, wie chaotisch die Lage zu diesem Zeitpunkt war: Einige Frauen wollten gar nicht erst zur Versammlung gehen, andere empörten sich lautstark während der Sitzung und letztlich „fuhren (…) die 1. Wagen der Roten Armee auf, um die Versammlung aufzulösen“. Das Eingreifen der sowjetischen Soldaten war zunächst nicht nötig. Einige Beschäftigte gingen an ihre Arbeit zurück, andere gingen nach Hause. Es gab aber auch Frauen, die weiter diskutierten und ihrem Unmut mit einem Sitzstreik Ausdruck verliehen. Zu Beginn der Nachmittagsschicht berichtete dieselbe FDJlerin:
Zitat
„Der größte Teil der Belegschaft sammelte sich vor dem Tor, sodass ein großer Menschenauflauf zu verzeichnen war. Hierauf griffen die Genossen der Roten Armee ein und sperrten den gesamten Platz ab. Von den Schusswaffen musste Gebrauch gemacht werden.“
Im VEB Fortschritt – Werk I in Berlin-Lichtenberg dauerte es noch einige Tage bis der normale Betriebsablauf wieder in Gang kam.
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Andrea Bahr, Jahrgang 1981, ist promovierte Historikerin und Referentin für historisch-politische Bildung beim Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat u.a. zu den Kreisleitungen der SED und zur Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Partei „Die Grünen“ publiziert.
Michèle Matetschk, Jahrgang 1997, ist seit 2018 Mitarbeiterin in der Abteilung historisch-politische Bildung des Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie studierte Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Identität US-amerikanischer Astronautinnen im späten 20. Jahrhundert.
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