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Der Fall „Erna Dorn“

Andrea Bahr Michèle Matetschk

/ 6 Minuten zu lesen

Ein Name wird immer wieder im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 in Halle genannt: Erna Dorn. Das SED-Regime benutzte die Causa Dorn, um den Aufstand als faschistischen Putschversuch zu diffamieren. Am 22. Juni 1953 verurteilte das Bezirksgericht Halle Erna Dorn – oder die Frau, die unter diesem Namen geführt wurde – als eine der „Haupträdelsführerinnen“ des Aufstands zum Tode. Bis heute wissen wir nicht, wer diese Frau wirklich war.

Auszug aus dem Schlussbericht in der Strafsache Erna Dorn (© (Signatur: BStU, MfS, HA IX/11, ZUV, Nr. 75, Bl. 50-55))

Geht es in der bisherigen Geschichtsschreibung zum Externer Link: 17. Juni 1953 um Frauen, wird besonders häufig ein Name genannt: „Externer Link: Erna Dorn“. Am 1. Oktober 1953 wurde in Dresden eine Frau unter diesem Namen als „Rädelsführerin“ des Volksaufstandes hingerichtet. Sie ist nur eine von vier Frauen, die im Umfeld des 17. Juni starben. Die anderen drei Frauen, die im Interner Link: Totenbuch des Volksaufstandes erwähnt werden, waren sprichwörtlich zur falschen Zeit am falschen Ort. Dass ausgerechnet Erna Dorn bisher so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist einerseits verständlich, andererseits aber auch bedauerlich: Denn ihre Geschichte ist so voller Rätsel, dass sie kaum ereignisgeschichtliche Aussagekraft hat. Deshalb werden wir hier nicht versuchen, den Ungereimtheiten und Mythen um die Person Erna Dorn nachzugehen. Stattdessen wollen wir aufzeigen, wie die Interner Link: SED mithilfe einer Frau ein propagandistisches Feindbild konstruierte. Dabei verzichten wir ganz bewusst auf das verbreitete Foto, welches Erna Dorn zeigen soll. Denn wir wissen zu wenig über sie, um überhaupt mit Sicherheit sagen zu können, wen dieses Foto zeigt.

Wer war Erna Dorn?

Wir wissen nicht, wer Erna Dorn war. Die Geschichte dieser Frau wird meist aus Unterlagen konstruiert, die das Interner Link: Ministerium für Staatssicherheit sammelte und die zum großen Teil aus vermeintlichen Selbstzeugnissen Erna Dorns bestehen. Welche Geschichte Erna Dorns erzählt wird, hängt maßgeblich davon ab, wer diese Unterlagen auswertet und mit welcher Intention. Denn die Unterlagen sind voll von Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten, was bereits ein Blick auf die Personaldaten zu Erna Dorn zeigt: So ist unklar, unter welchem Namen, an welchem Tag und in welcher Stadt sie geboren wurde. Ein verbreitetes, durch ihre Selbstaussagen in den Akten naheliegendes Narrativ ist, dass Erna Dorn unter dem Namen Erna Kaminsky in Tilsit geboren wurde, Tochter eines Faschisten war und während der NS-Zeit eine Karriere als Gestapo-Sekretärin und KZ-Aufseherin machte. Diese Erna Dorn habe schließlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges behauptet, sie sei als Erna Scheffler geboren worden und Tochter zweier Antifaschisten gewesen. Belegbar ist keine der Geschichten anhand der Unterlagen des MfS. Es bleibt auch offen, ob sich Erna Dorn selbst diese unterschiedlichen Erzählungen ausgedacht hat oder die Mitarbeitenden des Staatssicherheitsdienstes. Die Formulierungen in den Akten geben Hinweise darauf, dass es sich auch um diktierte oder später hinzugedichtete Aussagen handeln könnte, die Dorn so nicht getätigt hat. Sichtbar wird dies unter anderem, als Erna Dorn über ihre vermeintlichen Tätigkeiten am 17. Juni sprach: „Auf dem Wege zum Hallmarkt nach dem Zufluchtsheim im Weidenplan, wurde ich von Personen angehalten, wobei ich ebenfalls provokatorische und hetzerische Verleumdungen gegen die Volkspolizei von der meiner Ansicht nach gestürzten Regierung zum Ausdruck brachte.“ Worte wie „provokatorisch“ und „hetzerisch“ entsprechen voll und ganz der Sprache des Regimes und weniger der Alltagssprache.

Erna Dorn als vermeintliche „Haupträdelsführerin“ von Halle

Die SED verbreitete kurz nach dem Aufstand bereits die Interpretation, es hätte sich beim Volksaufstand des 17. Juni um einen „faschistischen Putsch“ gehandelt, der von westlichen Akteuren inspiriert und motiviert worden sei. Um dieses Narrativ überzeugend vertreten zu können, Interner Link: schuf das SED-Regime Feindbilder und propagierte diese öffentlich. Sie sollten beweisen, dass nicht die Menschen in der DDR es waren, die den Aufstand wagten, sondern dass dahinter „der“ Westen stand. Eines dieser Feindbilder war Erna Dorn. Das SED-Regime statuierte an ihr ein Exempel und ließ sie hinrichten.

Bereits sehr kurz nach dem 17. Juni machte die SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“ Erna Dorn zur „Haupträdelsführerin“ von Halle, womit ihre Rolle im Narrativ der SED klar gesetzt war. Die nicht zuletzt in den MfS-Akten konstruierte Biografie entsprach vollends dem Bild der durch den Westen inspirierten, faschistischen Aufwieglerin: Die Tochter eines Nationalsozialisten, ehemalige KZ-Aufseherin und Gestapo-Sekretärin habe demnach nach dem Interner Link: Zweiten Weltkrieg für westliche Geheimdienste spioniert. Am 17. Juni soll sie von den Aufständischen aus dem Gefängnis befreit worden sein, wo sie als NS-Kriegsverbrecherin einsaß, und sich schließlich gegen das SED-Regime engagiert haben, indem sie auf dem Hallmarkt in Halle die Menschen aufwiegelte. Die so konstruierte Biografie der Erna Dorn repräsentierte all das, wogegen das SED-Regime kämpfte. Sie war damit die „perfekte“ Feindin, deren Hinrichtung von der Härte und Konsequenz der DDR-Machthaber zeugte. Stellt man dieser Biografie jedoch die Aussagen von Zeitzeug*innen und den Beobachtungen des MfS zum 17. Juni in Halle gegenüber, so wird deutlich, dass in Halle keine Frau einer Streikleitung angehört hat und sich auch niemand an eine Rednerin auf dem Hallmarkt erinnern konnte. Dem SED-Regime schien ebenfalls klar gewesen zu sein, dass die Identität der zum Tode verurteilten Frau unklar war, denn noch nach dem Todesurteil versuchte das MfS, weitere Details zur Herkunft Erna Dorns und ihrer vermeintlichen Opferbiografie herauszufinden - vergebens. Obwohl das SED-Regime wusste, dass nicht westdeutsche Geheimdienste den Aufstand organisiert hatten, sondern der Unmut der DDR-Bevölkerung dazu geführt hatte, blieben die DDR-Machthaber bis 1989/90 bei der Deutung des „faschistischen Putsches“.

Erna Dorn nach 1989

Das Landgericht Halle hob das Todesurteil gegen Erna Dorn 1994 auf. In der Geschichtsschreibung zum 17. Juni 1953 bleiben bis heute viele Fragen offen und zahlreiche Historiker*innen haben sich daran abgearbeitet. Auch der Fall Erna Dorn wirft bis heute Fragen auf. Rückblickend wurde sie auch als verwirrte Frau bezeichnet. Doch für diese Erzählung gibt es ebenso wenige Anhaltspunkte oder gar Beweise wie für die Erzählung der „Rädelsführerin“, der „Faschistin“ oder der „Antifaschistin“. Der Umgang mit Erna Dorn nach der Interner Link: Deutschen Einheit gibt Aufschluss über die politische Schwere des Erbes, das zwei aufeinanderfolgende Diktaturen mit sich bringen. Erna Dorn, als vom SED-Regime Hingerichtete, ist ein Opfer Interner Link: politischer Strafjustiz der DDR. Gleichzeitig ist die Erna Dorn aus den Akten, die ehemalige KZ-Aufseherin, eine Täterin des nationalsozialistischen Regimes. Wie also öffentlich an eine Frau erinnern, deren Bedeutung für die Geschichte derart ungeklärt ist?

Der Fall Erna Dorn gibt keine Aufschlüsse über die Aktivitäten von Frauen beim Volksaufstand selbst. Erna Dorn kann nicht stellvertretend für eine Gruppe von Frauen stehen, es sind keine Zitate oder Parolen von ihr überliefert. Sie war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die „Haupträdelsführerin“ von Halle. Es ist bedauerlich, dass Erna Dorn oft die einzige Frau ist, die im Zuge des 17. Juni 1953 genannt wurde und wird. So sind bisher die Geschichten der Wortführerinnen und engagierten Frauen des Volksaufstandes nur wenig erzählt oder gänzlich unerzählt. DDR-weit haben jedoch viele Frauen den Lauf des Volksaufstandes beeinflusst. Einige Beispiele werden in diesem Online-Dossier sichtbar gemacht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ahrberg, Edda/Hertle, Hans-Herrmann/Hollitzer, Tobias/Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hrsg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004

  2. Ähnlich argumentiert auch Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz nach dem Volksaufstand vom 17. Juni, in: Jutta Braun, Jutta/Klawitter, Nils/Werkentin, Falco: Die Hinterbühne politischer Strafjustiz in den frühen Jahren der SBZ/DDR. Berlin 2006, S. 67.

  3. Im Folgenden wird der Übersichtlichkeit halber weiterhin der Name Erna Dorn benutzt. Dabei bleibt offen, ob es tatsächlich eine Frau mit diesem Namen gab oder ob die Geschichten mehrerer Frauen unter diesem Namen zusammengefasst wurden.

  4. Diese Unterlagen stammen überwiegend aus dem Zentralen Untersuchungsvorgang, den das MfS zu Erna Dorn anlegte. Vgl. BArch, MfS, HA IX/11, ZUV 75, Bd. 1-11.

  5. Eine detaillierte Untersuchung des Falles Erna Dorn und seiner Ungereimtheiten findet sich hier: Gursky, André: Erna Dorn: „KZ-Kommandeuse“ und „Rädelsführerin“ von Halle – Rekonstruktion einer Legende, in: Rupieper, Hermann-Josef (Hrsg.): „… und das Wichtigste ist doch die Einheit“. Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg. Münster u. a. 2003.

  6. Vgl. zur Aussagekraft und zum Quellenwert von Stasi-Unterlagen u. a. Engelmann, Roger: Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Henke, Klaus-Dietmar/Engelmann, Roger (Hrsg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995, S. 23-39; Eschebach, Insa: „Ich bin unschuldig.“ Vernehmungsprotokolle als historische Quellen, in: Werkstatt Geschichte 12 (1995), S. 65-70.

  7. BArch, MfS, HA IX-11, ZUV 75, Bd. 1 MF, Bl. 13.

  8. „Zwei Todesurteile in Zuchthausstrafen umgewandelt“, Neues Deutschland vom 30. Juni 1953, S. 3. Vgl. auch „So zeigte der Faschismus seine Fratze“, Neues Deutschland vom 23. Juni 1953, S. 3 und „SS-Kommandeuse im Führungsstab der Provokateure“, Neues Deutschland vom 24. Juni 1953, S. 5.

  9. Vgl. Gursky, S. 379.

  10. Vgl. Werkentin, S. 69.

  11. Kowalczuk, Ilko-Sascha/Mitter, Armin/Wolle, Stefan: Der Tag X – 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54. Berlin 1995.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autoren/-innen: Andrea Bahr, Michèle Matetschk für bpb.de

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Andrea Bahr, Jahrgang 1981, ist promovierte Historikerin und Referentin für historisch-politische Bildung beim Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat u.a. zu den Kreisleitungen der SED und zur Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Partei „Die Grünen“ publiziert.

Michèle Matetschk, Jahrgang 1997, ist seit 2018 Mitarbeiterin in der Abteilung historisch-politische Bildung des Externer Link: Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie studierte Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit der Identität US-amerikanischer Astronautinnen im späten 20. Jahrhundert.