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Tagebuch aus der Ukraine | Das gesamte Bild - Ukraine | bpb.de

Debatte Das gesamte Bild - Ukraine

Mykola Ridnyj

Tagebuch aus der Ukraine

Mykola Ridnyj

/ 5 Minuten zu lesen

6. April 2022

Zerstörungen in Butscha (© Mykola Ridnyi)

Ich hatte Zweifel, ob ich so kurz nach der Befreiung von der russischen Belagerung nach Butscha reisen sollte. Die Stadt liegt nur 50 Kilometer von Kyjiw entfernt. Vor dem Krieg sind wir da oft hingefahren, haben Zeit mit Freundinnen und Freunden verbracht, Bier getrunken und am Seeufer gesessen. Eine Stadt für die Mittelschicht, viele junge Familien, die Mieten sind niedriger als in der Hauptstadt, eine nette Gegend. Ich hatte furchtbare Bilder von getöteten Zivilisten gesehen, die auf der Straße lagen. Ich konnte das kaum mit meinem eigenen Bild der Stadt vereinen. Also bin ich zusammen mit einer Gruppe politisch aktiver Menschen und Filmschaffenden hingefahren. Wir haben verbrannte Panzer gesehen, Häuserruinen, Massengräber voller Leichen. Wir haben mit den Überlebenden vor Ort gesprochen, die ohne Strom und Wasser leben. Sie erzählten uns von Plünderungen, Folter, Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Sie werden nie vergeben können. Ich werde nie vergeben können.

4. April 2022

Kyjiw (© Mykola Ridnyi)

Ich laufe im verlassenen Kyjiw herum. Einen Monat lang war ich nicht mehr hier. Kurz vor der Ausgangssperre wird Kyjiw zur Geisterstadt. Die meisten Straßenlaternen bleiben ausgeschaltet, auch in den Fenstern sieht man kein Licht. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Leichen von Zivilisten, die von den russischen Invasoren auf den Straßen der Vororte liegen gelassen wurden, in Butscha, Motyschyn, Dmytriwka und anderswo. Das Bild der Leiche einer Frau, die man gefoltert und der man ein Hakenkreuz auf den Bauch eingebrannt hat, werde ich mein Leben nicht mehr los.

Sollte man das russische Volk für die Entscheidungen Putins zur Rechenschaft ziehen? Stellt sich immer noch jemand ernsthaft diese Frage, oder haben wir nicht längst genügend Beweise für eine klare Antwort darauf? Es war nicht Putin, der friedliche Ukrainerinnen und Ukrainer gefoltert und getötet hat. Es waren normale russische Soldaten: Söhne, Ehemänner, Nachbarn.

Gleichzeitig hat sich das friedliche Berlin nicht in der Lage gesehen, prorussischen Demonstrierenden auch nur irgendetwas entgegenzusetzen. Meine Frage an die Deutschen und andere zweifelnde Europäer lautet daher: Seid ihr noch Europa oder ist das vorbei?

28. März 2022

Familie (© Mykola Ridnyi)

Gestern habe ich endlich meine Eltern und meine Großmutter besucht. Sie haben sich aus den Kriegswirren von Kyjiw in eine ruhige Kleinstadt bei Lwiw zurückgezogen. Mama und Papa finden sich in der neuen Umgebung nicht zurecht. Sie dürfen ihrer täglichen Arbeit, ihren Ritualen nicht mehr nachgehen. Meine Großmutter scheint mit ihren 84 Jahren noch die Widerstandsfähigste. Schon als Kind musste sie während des 2. Weltkriegs ihre Heimat verlassen und hat kürzlich eine Corona-Infektion durchgestanden. Während der Sowjetzeit hat sie nie offen über ihre jüdische Herkunft gesprochen. Sie hatte Angst vor dem alltäglichen Antisemitismus der post-stalinistischen Zeit. Vielleicht mag sie gerade deshalb Selenskyj, den ersten jüdischen Präsidenten der Ukraine. Ich habe nie mit ihr über ihre nationale Identität gesprochen, aber sie hat sich nie als Russin bezeichnet, obwohl sie hauptsächlich russisch spricht und fast ihr gesamtes Leben in Charkiw unmittelbar an der Grenze zu Russland verbracht hat. Sie hat außerdem ukrainische Kultur in einer weiterführenden Schule hier im Ort unterrichtet.

Sie fragte mich: „Glaubst du, wir gehen zurück? Sag mir, dass wir zurückgehen.“ Noch bevor ich antworten konnte, sagte meine Mutter: „Ja, wir gehen zurück. Aber wir wissen nicht, in was für ein Land.“

6. März 2022

Bett (© Mykola Ridnyi)

Der einzige Zustand, in dem ich momentan Frieden und sogar Glück verspüre, ist in meinen nächtlichen Träumen. Das ist ein großes Privileg. Viele in meinem Freundeskreis können gar nicht schlafen, einige haben noch nicht einmal einen Schlafplatz. Heute Nacht habe ich von einer Welt der Zukunft geträumt. Man darf dort nicht von vergangenen Kriegen sprechen. Die Menschen löschen ihre Erinnerungen und konzentrieren sich darauf, aus dem Nichts eine neue Zukunft aufzubauen. Wie kommt mein Unterbewusstsein auf diese Idee? Vielleicht weil Menschen wie Putin die Narrative der Gedenkkultur instrumentalisieren, um Gegenwart und Zukunft zu zerstören. Um ganze Nationen wie die meine zu dekonstruieren und unsere Geschichte neu zu schreiben. Am peinlichsten ist es, wenn man aufwacht. Dann dämmert es einem, wo man ist und was ringsum passiert.

2. März 2022

No No No (© Mykola Ridnyi)

Charkiw ist meine Heimatstadt. Ich habe dort 30 Jahre meines Lebens verbracht, war sieben Jahre lang Kurator eines örtlichen Künstlerprojektes. 2017 habe ich einen Film namens NO! NO! NO! gedreht. Es ging darum, wie die Menschen auf den Krieg im benachbarten Donbass reagiert haben und wie er sich auf das städtische Leben ausgewirkt hat. Trotz „separatistischer“ Tendenzen blieb die Stadt sicher, der Krieg griff nicht auf uns über. Deutlich wird das im Film durch den Kontrast zwischen den friedlichen Stadtszenen hier und der brutalen Gewalt dort. Charkiw war schon immer ein Zentrum der ukrainischen Kulturszene. Die Protagonisten dieses Films sind meine Freunde: Polina Dimpl, Polina Ogarewa, Nikita Filonenko, Daniil Rewkowskyj und Andrej Rachynskyj. Sie sind die „neue Ukrainerinnen und Ukrainer“ und Teil des Kulturlebens in der Stadt.

In den letzten Tagen hat die russische Artillerie die Stadt schwer beschossen. Der Hauptplatz und mehrere Wohngebiete wurden zerstört, viele Zivilisten verletzt oder getötet. Einigen Freunden ist die Flucht aus der Stadt gelungen, weitere versuchen es noch.

Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie ich mich gerade fühle.

1. März 2022

(© Mykola Ridnyi)

Heute haben die Russen den Fernsehturm in Kyjiw beschossen. Er steht im Stadtteil Babyn Jar, Schauplatz eines riesigen Massakers während des Holocaust. Heute befindet sich dort auch eine Gedenkstätte. Wie zynisch wirkt da die Kampfansage der Russen gegenüber dem Neonazismus und dem Militarismus in der Ukraine! Neonazismus, Neofaschismus – Begriffe, die ihre Bedeutung zunehmend verlieren. Wir haben es zu tun mit einer neuen Form der Militärdiktatur in Russland und ihren Verbrechen gegen Volk und Geschichte der Ukraine.

28. Februar 2022

UKRAINE-KRISE? Was zur Hölle soll das heißen? Hört auf, die Situation so zu bezeichnen. Das ist weder ein „Konflikt“ noch eine „Krise“. Es ist eine RUSSISCHE INVASION DER UKRAINE.

Mykola Ridnyj

1985 in Charkiw geboren lebt Mykola Ridnyj als Bildender Künstler mittlerweile in Kyjiw. Er hat an der staatlichen Akademie für Design und Kunst in Charkiw studiert. Neben seiner Arbeit als Künstler ist Mykola Ridny Filmemacher, Kurator und Autor von politischen und künstlerischen Essays. Seit 2009 ist er CO-Editor der Zeitschrift Prostory. Mykola Ridnyji im Netz Externer Link: mykolaridnyi.com/

Fussnoten

1985 in Charkiw geboren lebt Mykola Ridnyj als Bildender Künstler mittlerweile in Kyjiw. Er hat an der staatlichen Akademie für Design und Kunst in Charkiw studiert. Neben seiner Arbeit als Künstler ist Mykola Ridny Filmemacher, Kurator und Autor von politischen und künstlerischen Essays. Seit 2009 ist er CO-Editor der Zeitschrift Prostory. Mykola Ridnyji im Netz Externer Link: mykolaridnyi.com