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Analyse: Wann sind zwei plus zwei nicht vier? Die Visegrád-Gruppe und die Zukunft Europas

Aleksander Fuksiewicz Agnieszka Łada

/ 17 Minuten zu lesen

Die Visegrád-Gruppe wirkt zunehmend gespalten: Auf der einen Seite stehen Polen und Ungarn, auf der anderen Tschechien und die Slowakei. Hauptstreitpunkt bildet insbesondere die Haltung der Allianz zur europäischen Integration. Auf welchen Standpunkten fußen die gegensätzlichen Positionen?

Die Regierungschefs der Mitgliedsländer der Visegrád-Gruppe bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. (© picture alliance/Pacific Press)

Zusammenfassung

Die Visegrád-Gruppe sieht ihre Aufgabe in der Koordination und im Austausch von Informationen und Positionen. Ihre Mitglieder, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, bilden bei der Beurteilung unterschiedlicher europäischer Herausforderungen nicht durchgängig eine Einheit. Sie unterscheiden sich in ihrer Haltung zur Geschwindigkeit der europäischen Integration, zu institutionellen Reformen und der Politik gegenüber Russland ebenso wie in der Beurteilung der Rolle Deutschlands in Europa. Außerdem haben die Innenpolitiken Polens und Ungarns und ihre Anti-EU-Rhetorik zur Folge, dass sich Tschechien und die Slowakei immer häufiger nicht mit ihnen in eine Reihe stellen lassen wollen. Die "Visegráder Vier" lassen sich als "Zwei plus Zwei-Modell" beschreiben. Unterdessen wirbt Polen gegenwärtig für eine weitere regionale Idee, die "Dreimeeres-Initiative". Auch hier ist die Haltung der Visegrád-Gruppe uneinheitlich.

Nach den Präsidenten- und Parlamentswahlen in Frankreich und der Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, kommt der deutsch-französische Motor in Fahrt, der den Reformen der Europäischen Union eine neue Richtung und Dynamik geben soll. Für die gegenwärtige polnische Regierung ist dies nicht unbedingt die erwünschte Richtung der Veränderungen. Polen ist aktuell eines der Länder der Gemeinschaft, die die Idee der engeren Integration nicht teilen, sondern die Rückkehr zu einem Europa der Nationen wollen. Seit ihrer Regierungsübernahme bemüht sich die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die regionalen Verbindungen zu stärken, sowohl im Rahmen der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) als auch der neuen "Dreimeeres-Initiative", das ist eine engere Zusammenarbeit von zwölf Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer. Die Idee sowie auch der Name knüpfen an die historischen Konzepte der Föderation der Staaten Ostmitteleuropas im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die u. a. von Józef Piłsudski, dem Staatschef des nach dem Ersten Weltkrieg wieder entstandenen polnischen Staates, vertreten wurde. Das aktuelle Format wurde von Kroatien initiiert. An dem ersten "Dreimeeres-Gipfel" nahmen Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn teil.

Jedoch nicht nur in der großen Gruppe, auch zwischen den Ländern der Visegrád-Gruppe gibt es keine Einmütigkeit in Schlüsselfragen der Zukunft der europäischen Integration. Deutlich zeichnet sich die Aufteilung der Visegráder Vier in zwei plus zwei ab, das heißt die proeuropäischen Tschechen und Slowaken auf der einen und die europaskeptischen Polen und Ungarn auf der anderen Seite. Es gibt aber auch immer noch Bereiche, in denen eine gemeinsame Stimme von der Visegrád-Gruppe zu erwarten ist, vor allem in der Migrationspolitik.

Unterschiedliche Bedingungen

Die Unterschiede, die die Länder der Visegrád-Gruppe in ihrer Haltung zur Zukunft der europäischen Integration trennen, hängen von den innenpolitischen Bedingungen ab. In Polen leitet sich die Außen- und Europapolitik der PiS, die die Parlamentsmehrheit hat, aus ihrem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Europäischen Union, der Wahrnehmung Westeuropas als kulturelle Bedrohung, den Konflikten mit der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit in Polen und der scharfen innenpolitischen Rhetorik ab. Eine wichtige Rolle spielt auch der persönliche Konflikt zwischen dem PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, die von jeher innenpolitische Rivalen sind. Dessen ungeachtet unterstützt die Mehrheit der Polen eindeutig die europäische Integration und die Mitgliedschaft in der EU.

Auch die Europapolitik Ungarns kann man ohne die Analyse seiner Innenpolitik nicht untersuchen. Die ungarische Situation ähnelt der polnischen insofern, als die Europapolitik eine "Geisel" der Innenpolitik ist. Die Ungarn sind eine proeuropäische Gesellschaft mit einer hohen Unterstützung für die Mitgliedschaft in der EU. Trotzdem führt Ministerpräsident Viktor Orbán im Land eine antieuropäische (Anti-Brüssel-) Kampagne sogenannter Konsultationen in einem Ausmaß durch, das sogar in Polen schwer vorstellbar wäre. Die Partei Fidesz kreiert auf diese Weise das Narrativ des Kampfes gegen einen äußeren Feind und stellt sich selbst dabei als einzigen glaubwürdigen Verteidiger dar. Dies macht vielleicht keinen Eindruck auf liberale Budapester Wähler, gleichwohl auf die konservativen in den Kleinstädten und Dörfern. Außerdem muss sich Fidesz nach rechts absichern, wo die starke Partei Jobbik lauert.

In Ungarn hat bereits der Wahlkampf begonnen, obwohl die Parlamentswahlen erst im April 2018 stattfinden werden. Zurzeit führt Fidesz in den Umfragen, Jobbik und die Post-Kommunisten kämpfen um den zweiten Platz. Die anderen Parteien (Grüne, "Andere Politik" usw.) balancieren auf der Prozenthürde. Nichts deutet darauf hin, dass sich die ungarische Europapolitik also in nächster Zukunft ändern wird.

Im Falle Tschechiens lässt sich aktuell schwerlich eine Prognose aufstellen, was für eine Politik es in Zukunft betreiben wird, da im Oktober Parlamentswahlen stattfinden werden, nach denen die Politik neu ausgerichtet werden wird. Gegenwärtig repräsentieren der Ministerpräsident und der Außenminister die sozialdemokratische Partei, und die Regierung betrieb eine proeuropäische Politik, ausgerichtet auf die enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Viel hat sich verändert, seitdem der Konflikt um die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer ausbrach. Die Tschechen schlossen sich der "Anti-Flüchtlingskoalition" Polens, Ungarns und der Slowakei an.

Die Wahlen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Partei ANO ("Ja") des Populisten Andrej Babiš gewinnen, die keine klare Vision einer Europapolitik vorgestellt hat. In einem seiner Auftritte hatte sich Babiš gegen den Beitritt zur Eurozone ausgesprochen und eine tiefergehende Integration abgelehnt, nach Meinung tschechischer Experten ist er aber an Europa nicht besonders interessiert. Gleichzeitig unterstreichen sie, dass er als Politiker ein Pragmatiker ist und keine ideologische Auffassung von Politik hat, was ihn von Orbán und Kaczyński unterscheidet und ihn eher keine Verbindung mit dem antieuropäischen Tandem aufnehmen lässt. Nicht ausgeschlossen ist auch eine proeuropäische Koalition aller gegen ANO.

In der Slowakei regiert seit dem Frühjahr 2016 eine Koalition aus der linken Partei von Robert Fico, Smer-SD, der Slowakischen Nationalpartei (SNS), der ungarisch-slowakischen Partei Most-Híd und der konservativen Sieť. Die Parlamentswahlen vom März 2016 veränderten die bisherige politische Konstellation: Die Partei von Fico hat die Möglichkeit verloren, selbständig zu regieren, und ins Parlament zog eine Partei unter dem Vorsitz von Marian Kotleba ein, die von Experten als faschistisch eingeschätzt wird: Kotleba – Volkspartei Unsere Slowakei (Kotleba – ĽS NS). Der Wahlkampf kreiste um zwei Themenbereiche: die Sicherheit im Zusammenhang mit der Migrationskrise und die Korruption und die Funktionsfähigkeit des Staates. In Fragen der Migration spielte auch Ministerpräsident Fico mit den Anti-Flüchtlingseinstellungen der Slowaken und stärkte damit deren Abneigung, Flüchtlinge aufzunehmen. Gleichzeitig lehnen alle Gruppierungen, die bei den Parlamentswahlen antraten, den EU-Mechanismus der von oben festgelegten Verteilungsquoten für Flüchtlinge ab. Die Anwesenheit der Extremisten von Kotleba im Parlament beeinflusst die aktuellen politischen Debatten in der Slowakei und weckt Befürchtungen, dass die Faschisten in den nächsten Wahlen an Stärke gewinnen werden.

Unabhängig von der innenpolitischen Konfiguration ergibt sich der slowakische Standpunkt in der Mehrheit der Fragen zur europäischen Politik und internationalen Angelegenheiten traditionell aus der Einschätzung der eigenen Möglichkeiten in Europa. Als kleines Land hat die Slowakei keine Ambitionen, den Ton in den Diskussionen anzugeben und mit Vorschlägen hervorzutreten. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union versteht sie vielmehr als Chance, sich um die eigenen Interessen zu kümmern. Indem sich die Slowakei nicht der Mehrheit widersetzt, hofft sie, dass sie größere Chancen haben wird, die anderen Mitgliedsländer von der Notwendigkeit zu überzeugen, die eigenen, slowakischen Interessen mit zu berücksichtigen. Daher bemüht sich Bratislava gewöhnlich, sich an den europäischen mainstream zu halten.

In unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Die Hauptlinie der Teilung innerhalb der Visegrád-Gruppe ist die Haltung gegenüber der europäischen Integration. Ein Sonderfall ist die Slowakei, die als einziges Mitgliedsland der Visegrád-Gruppe zur Eurozone gehört und in dem Bestreben, Teil der "Vorreitergruppe" der Integration zu sein, ihre Haltung an den europäischen mainstream anpasst. Mit Blick auf die weitere Integration lässt die Slowakei daher den Gedanken daran zu, den Posten eines Finanzministers der Eurozone, ein eigenes Budget und ein Eurozonenparlament einzurichten, doch zurzeit betrachtet sie diese Fragen nicht als prioritär. Vielmehr vertritt sie den Standpunkt, dass sich die EU gegenwärtig auf die Umsetzung und die Stärkung der bestehenden Lösungen konzentrieren solle, wie die Bankenunion in der Eurozone oder ein derartiges Funktionieren des Schengenraums, dass den Bürgern das Gefühl gegeben wird, dass die Europäische Union ihre Aufgaben erfüllt.

Für die übrige, außerhalb der Eurozone stehende Visegrád-Troika stellt die Idee eines Europa der vielen Geschwindigkeiten eine Bedrohung dar, da dies zu einer Marginalisierung der Bedeutung dieser EU-Länder führen kann. Daher widersetzen sich sowohl Ungarn als auch Tschechien (ähnlich wie übrigens auch die Slowakei) der Eröffnung der Diskussion über die Änderungen der EU-Verträge. In Polen hat dagegen Jarosław Kaczyński die Notwendigkeit der Änderung der Verträge in die Diskussion eingebracht, es folgten aber keine konkreten Vorschläge. Die angedeutete Änderung sollte zur Lockerung und nicht zur Stärkung der Integration führen. In Ungarn und in Tschechien dominiert dagegen die Überzeugung, dass in der gegenwärtigen Lage der Union, da Großbritannien die EU verlassen wird, Vertragsreformen zu einer unvorteilhaften Differenzierung des Tempos der Integration und zur Marginalisierung der Staaten außerhalb der Eurozone führen würden. Die Slowakei ist ebenfalls dagegen, die Diskussion über die Änderung der Verträge zu eröffnen, da dies zu unnötigem Chaos in der EU führen könnte, wenn jedes Land für sich kämpfen würde, ohne die vereinbarten Verhandlungsprinzipien. Auf der anderen Seite ist die Slowakei dafür, die Integration zu vertiefen (sie selbst wird solche Änderungen allerdings nicht initiieren) und nicht zu der Idee einer Gemeinschaft zurückzukehren, die nur auf einem gemeinsamen Markt gründet. Die Vorschläge aus Warschau und Budapest, die Integration zu schwächen, werden in Bratislava negativ aufgenommen.

Polen und Ungarn, die mit der Europäischen Kommission nicht nur – wie die ganze Region – über die Verteilung von Flüchtlingen im Streit liegen, sondern auch in Fragen der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, wollen die Kommission schwächen und die Rolle der Mitgliedsländer stärken, u. a. das intergouvernementale Format der EU und die nationalen Parlamente. Jegliche stärkeren föderalistischen Konzepte wie eine gemeinsame europäische Wahlliste für das Europäische Parlament können eher nicht auf die Unterstützung dieser beiden Länder zählen.

Die Position Tschechiens ist in dieser Debatte die unsicherste, denn es ist nicht klar, welche Politik die neue Regierung nach den Parlamentswahlen im Herbst betreiben wird. Mit Blick auf die traditionelle Orientierung der tschechischen Außenpolitik auf Deutschland sind allerdings keine weitreichenden Veränderungen in der Europapolitik zu erwarten. Prag widersetzt sich folglich einer Vertragsreform, aber nicht der Reformierung der verschiedenen Politikfelder der EU, insbesondere der Wirtschaftspolitiken.

Wie bereits erwähnt, ergibt sich die Europapolitik der vier Visegrád-Länder nicht unbedingt direkt aus den Einstellungen ihrer Bevölkerung zu europäischen Angelegenheiten. Insbesondere die Bevölkerung von Polen und von Ungarn schätzen die EU deutlich höher als ihre gegenwärtigen Regierungen; beispielsweise sind laut Pew Research Center nur zirka 10 Prozent der Bürger der Meinung, dass ihr Land die EU verlassen sollte (Polen: 11 Prozent, Ungarn: 13 Prozent; zum Vergleich Deutschland: 11 Prozent, Frankreich: 22 Prozent). Polen nimmt die Führungsposition in der Visegrád-Gruppe ein, was das Vertrauen in die Europäische Union angeht: Der EU vertrauen laut Eurobarometer 57 Prozent der Polen, 52 Prozent der Ungarn, 51 Prozent der Slowaken und nur 35 Prozent der Tschechen (der Durchschnittswert der EU liegt bei 47 Prozent). Die Slowaken, die den Euro bereits eingeführt haben, und die Ungarn sind auch relativ positiv gegenüber dem Euro eingestellt, während die Mehrheit der Polen und der Tschechen gegen seine Einführung ist.

Unterschiedliche Einstellungen zu Fragen der Sicherheit und zu Russland

Die vier Visegrád-Länder betrachten Fragen der Sicherheit unterschiedlich. Für Polen bleibt Russland die Hauptbedrohung und die einzige echte Sicherheitsgarantie die NATO (der Aussage, dass die NATO notwendig für die Sicherheit ihres Landes sei, stimmen laut "Globsec Trends 2017" 91 Prozent der Polen, 81 Prozent der Ungarn, 75 Prozent der Tschechen und 56 Prozent der Slowaken zu). Polen ist gegen europäische Sicherheitsstrukturen, die in Konkurrenz zur NATO stehen könnten. Daher kündigte die polnische Regierung nicht sofort an, sich dieser Initiative anzuschließen. Zwar hatte Jarosław Kaczyński einst versichert, die Idee der europäischen Armee zu unterstützen, aber später wollten PiS-Politiker keine eindeutige Aussage darüber machen, ob Polen zur "ersten Geschwindigkeit" bei der Integration im Bereich der europäischen Verteidigung gehören wird. Außer den Aufbau von Strukturen, die mit der NATO konkurrieren, fürchtet die polnische Regierung negative Konsequenzen für die eigene Rüstungsindustrie, wenn es in der EU zur Koordination gemeinsamer Einkäufe kommen sollte, von denen in höherem Maße die Rüstungsunternehmen in Westeuropa profitieren würden. Letztlich hat Polen aber auf dem EU-Gipfel im Juni 2017 die Aufnahme einer ständigen strukturellen Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung unterstützt.

Das Problem der potentiellen Konkurrenz für die eigene Rüstungsindustrie hat die Slowakei nicht, da sie solche Fabriken nicht besitzt. Traditionell investiert sie keine großen Summen in die Streitkräfte und unterstützt die Idee einer engeren europäischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Im Mai 2017 verkündete sie die Erhöhung des Wehretats auf 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis 2020. Russland weckt in der Slowakei keine negativen Emotionen, im Gegenteil stärkt die prorussische Propaganda antiamerikanische und Anti-NATO-Einstellungen in der Slowakei. Daher trat Bratislava dem Pilotprojekt #WEARENATO bei, das das Bündnis und westliche Werte in den Mitgliedsländern unterstützt.

In Tschechien und in Ungarn löst Russland ebenfalls keine solchen Ängste aus, und beide Länder werden die Integration im Bereich Verteidigung wohl unterstützen. Teilweise resultiert das in beiden Ländern aus dem Wunsch, zur Hauptströmung der Integration in diesem Bereich zu gehören, wenn sie schon außerhalb der Eurozone sind. In Ungarn spielen außerdem in der Innenpolitik die Forderungen nach Sicherheit eine große Rolle, die die regierende Fidesz-Partei stark einzusetzen versteht (die Gefahr des Terrorismus, die Gefahr vonseiten der Flüchtlinge). Die Ungarn teilten ebenfalls mit, bis zum Jahr 2024 die Forderung der NATO zu erfüllen, 2 Prozent des BIP in Verteidigungsausgaben zu investieren. Ungarn und die Slowakei präsentieren darüber hinaus eine völlig andere Haltung als Polen in der europäischen Politik gegenüber Russland und sprechen sich für die Aufhebung der Sanktionen vonseiten der EU aus. Aber solange eine solche Entscheidung im Forum der EU nicht fällt, scheren sie nicht aus und halten die europäische Einheit in diesem Bereich mit aufrecht.

Strittige Unterstützung der deutschen Führungsrolle

Die Region unterscheidet sich gegenwärtig auch hinsichtlich der Einstellung gegenüber Deutschland. Die polnische Regierung widersetzt sich der Führungsrolle Berlins in Europa, während sie von der Slowakei und Tschechien akzeptiert wird. Zwar verbinden die gesamte Region wirtschaftliche und kulturelle Kontakte mit Deutschland, aber politisch spielt Deutschland unterschiedliche Rollen. Polens regierende PiS hat eine ambivalente Einstellung gegenüber Berlin und sieht die starke Rolle Deutschlands kritisch. Diese Haltung unterstützt die Mehrheit der Polen nicht; laut "Deutsch-Polnischem Barometer 2017" sind 59 Prozent der Meinung, dass Polen in den Beziehungen zu Deutschland auf Zusammenarbeit und Kompromisse setzen sollte. Jedoch zählen die politischen Kontakte zwischen Warschau und Berlin aktuell nicht zu den intensivsten und manche Aktivitäten Polens, wie die Werbung für die "Dreimeeresinitiative", lassen fragen, ob hiermit ein Gegengewicht zu der deutschen Führungsrolle aufgebaut werden soll. Das Vorgehen, eine (potentielle) Oppositionshaltung gegenüber Deutschland einzunehmen, findet keine Unterstützung bei den drei übrigen Visegrád-Mitgliedern.

Die unverständliche "Dreimeeresinitiative"

Das von Polen beworbene "Dreimeereskonzept" stößt in Tschechien, der Slowakei und Ungarn auf Distanz bzw. Unverständnis. Zwar wird in Warschau unterstrichen, dass das Ziel eine bessere Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Infrastruktur, des Transports und der Digitalisierung (die in dieser Region immer noch nicht auf einem zufrieden stellenden Niveau ist) sei. Aber weder in den Visegrád-Ländern noch in den anderen EU-Staaten glaubt man, dass diese Initiative keinen politischen Charakter hat und zwar als Gegengewicht zu Westeuropa und insbesondere zu Deutschland – vor allem, weil der US-amerikanische Präsident Donald Trump zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs dieser Länder am 5./6. Juli nach Warschau kommen wird. Der Aufbau dieses Typs regionaler und sei es auch lockerer und nicht institutionalisierter Formen der Zusammenarbeit wird als schädlich für die Einheit der EU betrachtet, was insbesondere in Tschechien und der Slowakei negativ aufgenommen wird. Die Unvorhersehbarkeit des Redens und Handelns des amerikanischen Präsidenten wecken Befürchtungen, dass es vielmehr zu einer ähnlichen Situation wie vor einigen Jahren kommen könnte, als der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld von der Existenz eines "alten" und eines "neuen" Europa sprach. In der Slowakei und in Tschechien, aber auch in der liberalen politischen Elite Polens wird befürchtet, dass zu dieser Überlegung zurückgekehrt werden könnte.

Regionale Einstimmigkeit nicht um jeden Preis

Die Regierungsvertreter der vier Länder stimmen darin überein, dass die Zusammenarbeit der Visegrád-Gruppe mehr auf koordinierten Tätigkeiten und Konsultationen beruht sowie darauf, engen Kontakt untereinander zu halten, als auf Einstimmigkeit in jeder Angelegenheit. Allerdings sind in Tschechien und der Slowakei zunehmend Stimmen zu hören, dass die Assoziierung Polens und Ungarns mit Anti-Brüssel-Rhetorik eine Belastung und nicht von Nutzen ist. Die unvorhersehbaren Aktivitäten Warschaus erhalten nicht ihre Unterstützung.

Das beste Beispiel ist die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk im März 2017. Tschechien und die Slowakei hatten angekündigt, nicht auf der Seite Polens zu stehen, und sprachen sich für die Mandatsverlängerung für Tusk aus, ebenso wie Ungarn, auf dessen Unterstützung die polnische Delegation bis zum Schluss gezählt hatte. Ungarn hatte nicht die Notwendigkeit gesehen, sich dem Willen der Mehrheit der EU-Staaten zu widersetzen, und begrüßte es, dass diese Position von einer Person aus der Region besetzt wird (an die Möglichkeit, dass der von der PiS vorgeschlagene Jacek Saryusz-Wolski gewählt würde, glaubten sie dagegen nicht). Für Budapest war ein weiteres Argument, dass die regierende Fidesz-Partei zur Europäischen Volkspartei (EVP) gehört, in der auch Donald Tusk politisch beheimatet ist und zu der auch die Mehrheit seiner Unterstützer aus anderen EU-Staaten gehört, insbesondere Angela Merkel. In den drei Hauptstädten herrscht die Ansicht, dass Tusk die Interessen der Region gut vertritt. Die Diplomaten der übrigen Länder der Visegrád-Gruppe sind sich dessen bewusst, dass die polnische Entscheidung, die Kandidatur zu blockieren, innenpolitische Gründe hatte, sie konnten das Vorgehen aber nicht wirklich verstehen, das Warschau mehr Schaden als Nutzen bescherte.

Es gibt aber weiterhin auch Bereiche, wo die Positionen der Mitglieder der Visegrád-Gruppe sehr ähnlich, wenn nicht sogar identisch sind. Alle widersetzen sich dem gegenwärtig in der EU diskutierten Vorschlag einer Entsenderichtlinie, mit der ihrer Meinung nach die Prinzipien des Binnenmarktes und der Dienstleistungsfreiheit verletzt werden würden. Eine gemeinsame Stimme lässt sich auch bei den bevorstehenden Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU erwarten. Zwar gibt es zurzeit, da Verhandlungen mit Großbritannien über seinen EU-Austritt laufen und es nicht klar ist, wieviel und wie lange London noch in den EU-Haushalt einzahlen wird, noch keine vereinbarten Verhandlungsprioritäten und Ziele. Mit Sicherheit jedoch wird die Visegrád-Gruppe entschieden dafür optieren, die Bedeutung der Strukturfonds zu erhalten. Für wesentlich wird außerdem erachtet, dass mit Großbritannien die Beibehaltung der Rechte der EU-Bürger, die in Großbritannien leben, ausgehandelt wird. Dies ist besonders für Polen, die Slowakei und Ungarn von Interesse, aus denen per capita die meisten Bürger auf die Insel emigrierten (s. Tabelle 2).

Das spektakulärste Beispiel für die Einheit der Visegrád-Länder war das, was ihr Image in Europa ruiniert hat, ihr Widerstand gegen die Verteilung von Flüchtlingen. Einstimmig erhoben sie Widerspruch gegen das Verteilungssystem, das von der Europäischen Kommission verabschiedet und vom Europäischen Rat akzeptiert worden war. Die Slowakei und Ungarn zogen sogar vor den Europäischen Gerichtshof; das Urteil ist noch nicht gesprochen worden. Da sie ihren Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen nicht nachgekommen sind, setzte die Europäische Kommission Tschechien, Polen und Ungarn auf die "schwarze Liste" derjenigen Länder, die die EU-Vereinbarungen nicht erfüllen. Ein anderer Fall ist die Slowakei, die nicht auf dieser Liste steht. Sie hatte freiwillig, nicht im Rahmen der Umverteilung, mehrere Dutzend Mütter mit Kindern aus Syrien sowie 149 Christen aus dem Irak aufgenommen. Gemeinsam mit Österreich finanziert die Slowakei auch ein Flüchtlingslager auf slowakischem Territorium für Flüchtlinge, die auf Asyl in Österreich warten. Außerdem wurden 550 Stipendien für syrische Studenten gestiftet. Gegenwärtig ändert die Slowakei allerdings ihre Rhetorik beim Thema Flüchtlinge. Zwar verschwanden die scharfen Äußerungen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Zeit des Wahlkampfes im Jahr 2016, aber infolge des starken Widerstands in der Bevölkerung plant die Slowakei nicht, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, und wird sich weiterhin dem Quotensystem widersetzen.

Die Visegrád-Länder, die es ablehnen, Flüchtlinge aufzunehmen, sind – wie auch manche anderen EU-Mitgliedsstaaten – nicht mit dem Verteilungssystem und der deutschen Position einverstanden. Sie haben aber auch keine konstruktiven Gegenvorschläge entwickelt, wie das Flüchtlingsproblem gelöst werden kann. So schwächen sie ihre Position in der EU, was sich beispielsweise auf die Verhandlungen des EU-Haushalts auswirken kann. Andererseits wehren sich die Gesellschaften in den vier Visegrád-Ländern entschieden gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, was ein starker Faktor für die Gestaltung der Innenpolitik dieser Länder ist – wenngleich auch ein Teil der Politiker dieser Länder die negativen Emotionen für ihre Ziele erst entfacht hat. Aus verschiedenen länderspezifischen Meinungsumfragen geht hervor, dass nur zirka ein Drittel der Bürger der Visegrád-Länder bereit ist, die Aufnahme von Flüchtlingen zu akzeptieren. Obgleich die Gesellschaften in dieser Frage gespalten sind – beispielsweise ist in Polen die Mehrheit der Einwohner der Großstädte für die Aufnahme von Flüchtlingen –, können die Einstellungen der jungen Menschen in den Visegrád-Ländern nur Beunruhigung hervorrufen. Nach Befragungen des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) und der Bertelsmann Stiftung unter 15- bis 24jährigen sind gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten 75 Prozent der Slowaken, 73 Prozent der Polen, 72 Prozent der Ungarn und 70 Prozent der Tschechen. Im Aufenthalt von Migranten sehen sie auch keine wirtschaftlichen Vorteile für ihr Land, sondern vielmehr damit verbundene Gefahren. Im Falle Polens und Ungarns meint die deutliche Mehrheit (77 bzw. 82 Prozent; für Tschechien und die Slowakei liegen keine Daten vor), dass für die Migrationspolitiken die Entscheidungen auf nationaler Ebene fallen sollen und nicht auf der Ebene der EU, so die Untersuchungsergebnisse von Pew Research Center.

Angesichts der starken populistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen stellt dies aufgeschlossene Politiker in eine außergewöhnlich schwierige Situation, so zum Beispiel die tschechische Sozialdemokratie. Sogar manche liberalen Experten beispielsweise in Ungarn und Polen sind der Auffassung, dass die Politik der Europäischen Kommission, die sich bemüht, diese Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen, nicht nur erfolglos sei, sondern auch zugunsten von Politikern wie Victor Orbán und Jarosław Kaczyński wirke.

Fazit

Die Visegrád-Gruppe war nie eine institutionalisierte und formale Struktur. Ihre einzige Institution ist der Internationale Visegrád-Fonds, der die regionale kulturelle, akademische und gesellschaftliche Zusammenarbeit unterstützt. Das Hauptziel der Gruppe ist die Koordination und Kommunikation, daher sind Meinungsverschiedenheiten in der Gruppe über die Europapolitik normal und tauchen permanent mehr oder weniger stark auf. Das größte Problem sind folglich nicht die unterschiedlichen Meinungen, sondern die Position der Gruppe und ihrer Mitglieder in Europa. Infolge seiner Konzentration auf die Innenpolitik hat Polen seine bisherige starke Position verloren und stellt sich selbst an den Rand, ähnlich wie Ungarn. Tschechien und insbesondere die Slowakei wollen in der Hauptströmung der Integration bleiben und nach ihren Möglichkeiten Einfluss auf diese Strömung behalten. Daher ist es für sie immer weniger günstig, wenn sie in eine Reihe mit Polen und Ungarn gestellt werden – insbesondere, da das Ansehen der Visegrád-Gruppe infolge des Konflikts über die Umverteilung der Flüchtlinge stark angekratzt ist. Im Ergebnis wird die Stimme der Gruppe in Brüssel nicht so einflussreich sein, wie sie sein könnte, und zwar nicht nur in der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union, sondern auch bei den bevorstehenden Verhandlungen über den mehrjährigen EU-Haushalt für die Jahre 2020 und folgende.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Die im Text dargestellten Ergebnisse stützen sich auf Untersuchungen, die im Rahmen des gemeinsamen Projektes des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) in Warschau und der Heinrich Böll Stiftung in Polen Does the Visegrad group have a common voice in the EU? durchgeführt wurden.

Fussnoten

Aleksander Fuksiewicz ist Projektkoordinator und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Programm des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa) und Vorstandsmitglied der Grupy Zagranica. Seine Untersuchungsschwerpunkte sind die europäische Integration und die europäischen Institutionen sowie die polnische Außenpolitik.

Dr. Agnieszka Łada ist Politikwissenschaftlerin und Leiterin des Europa-Programms und Senior Analyst am Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa) sowie Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung Kreisau für europäische Verständigung und des deutsch-polnischen Gesprächskreises Kopernikus-Gruppe. Ihre Spezialgebiete sind die EU-Institutionen, Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen, die polnische Außen- und Europapolitik, die Wahrnehmung Polens im Ausland und der Ausländer in Polen.