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Analyse: Polen und Afghanistan: eine reichhaltige (vergessene) Vergangenheit und schwierige Gegenwart | bpb.de

Analyse: Polen und Afghanistan: eine reichhaltige (vergessene) Vergangenheit und schwierige Gegenwart

Adam Balcer Warschau/Breslau Adam Balcer

/ 16 Minuten zu lesen

Die Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan und die zeitgleich von Belarus hervorgerufene humanitäre Krise an der polnischen Grenze stellen Polen vor große Herausforderungen in der Migrationspolitik. Polen und Afghanistan können aber auch auf gute zivilgesellschaftliche Beziehungen zurückblicken.

Soldaten der polnischen Armee ziehen am 27. August 2021 in Krynki, Polen, Stacheldraht an der belarussischen Grenze. (© picture-alliance, NurPhoto | Dominika Zarzycka)

Zusammenfassung

Im August 2021 endete nach knapp 20 Jahren der Einsatz der polnischen Streitkräfte in Afghanistan, die größte und längste Friedens- und Stabilisierungsmission in der Geschichte Polens. Ihr Ende ging mit der größten Evakuierungsaktion von Ausländern in der Geschichte Polens einher. Seit Anfang August herrscht außerdem an der polnisch-belarussischen Grenze eine von Belarus hervorgerufene humanitäre Krise, unter der auch Menschen aus Afghanistan leiden. Ihr Ausmaß ist beispiellos in der polnischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings reichen die Verbindungen zwischen Polen und Afghanistan deutlich über die aktuelle Gegenwart und jüngste Vergangenheit zurück und beschränken sich nicht nur auf Kriege und Flüchtlinge.In den letzten Monaten stand Afghanistan im Zentrum der öffentlichen Diskussion in Polen. Gründe dafür waren der Abzug der polnischen Soldaten aus Afghanistan nach knapp 20 Jahren, die Evakuierung von afghanischen Ortskräften sowie die Flüchtlings- und Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze. Die polnisch-afghanischen Beziehungen haben allerdings – wenngleich dies kaum bekannt ist – eine deutlich längere und reichere Geschichte.

Missionare und Spione

Die historischen Beziehungen zwischen Polen und Afghanistan leiten sich aus den Beziehungen Polens zu Zentralasien sowie dem Iran (Persien) ab, mit denen die Polen in ihrer Geschichte stärker entwickelte Verbindungen hatten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ca. 35 Prozent der Einwohner Afghanistans Nationen angehören, die ihre Staaten in Zentralasien haben (Tadschiken, Usbeken, Turkmenen), und Dari-Persisch die Muttersprache von der Hälfte der Einwohner Afghanistans ist; von weiteren 30 Prozent ist es die Zweitsprache.

Der erste Pole, der in Beziehung zu Afghanistan stand und das Land sehr wahrscheinlich besucht hat, war Tadeusz Krusiński (1675 bis 1757), ein Jesuit, Missionar, Arzt und Orientalist und – was das wichtigste ist – der erste europäische neuzeitliche Historiker Persiens (des Irans) und Afghanistans. Er beherrschte mehrere Sprachen des Nahen Ostens, unter anderem Persisch. Viele Jahrzehnte lang waren seine Arbeiten Standardwerke zu Persien und Afghanistan in Europa. Anfang des 18. Jahrhunderts lebte Krusiński mit einigen Unterbrechungen über 20 Jahre lang in Persien, zu dem damals der größte Teil des heutigen Afghanistan gehörte. Polen koordinierte zu der Zeit die katholische Missionstätigkeit in der Region. Krusiński arbeitete als Arzt, Übersetzer und Diplomat für die höchsten staatlichen Autoritäten, u. a. für den Schah. Er war Zeuge der Angriffe der Afghanen auf Persien, die dessen Untergang mitbewirkten und zur Stärkung der unabhängigen afghanischen Staatlichkeit beitrugen. Krusiński war Arzt eines der wichtigsten afghanischen Militärführer. Er lernte sowohl die Afghanen, mit denen er drei Jahre lang täglich zu tun hatte, gründlich kennen als auch das Land. In seinen Arbeiten hinterließ er beispiellos genaue Beschreibungen Afghanistans: Er schilderte nicht nur die herrschenden gesellschaftlichen, sittlichen, ökonomischen und politischen Beziehungen, sondern stellte auch das ethnische Mosaik des Landes dar und widmete als erster europäischer Historiker den Paschtunen (Afghanen), der größten ethnischen Gemeinschaft des Landes, besondere Aufmerksamkeit. Ebenfalls als erster Europäer beschrieb er detailliert das höchste Gebirge Afghanistans, den Hindukusch, sowie die Flüsse des Landes.

Weitere Polen gelangten im 19. Jahrhundert über Zentralasien nach Afghanistan, als die Region ein Gebiet russischer Expansion wurde. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herrschte Petersburg auch über den Großteil des einst polnischen Territoriums. Afghanistan wurde damals zu einem Gebiet, um das – bis heute – die großen Mächte konkurrieren. In jener Zeit waren es Russland und Großbritannien im sog. Großen Spiel. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Pole Jan Prosper Witkiewicz (1808 bis 1839), ein russischer Gesandter in Afghanistan, der zuvor aufgrund seiner pro-polnischen Aktivitäten für die Unabhängigkeit von Russland nach Zentralasien verbannt worden war. Witkiewicz war außergewöhnlich sprachbegabt, er beherrschte knapp 20 Sprachen, darunter Persisch und Paschtu. Russland entsandte Witkiewicz schließlich als angeblich gewöhnlichen Reisenden nach Kabul, in Wirklichkeit hielt er sich dort in geheimer Mission auf, um die Machthaber Afghanistans zu überreden, mit Russland ein Bündnis gegen Großbritannien einzugehen. Witkiewicz reiste häufig inkognito in afghanischer Kleidung durch das Land und blieb dort dank seiner hervorragend Kenntnisse des Persischen und Paschtu. Er besuchte die wichtigsten Städte in Afghanistan und war u. a. im von den Persern belagerten Herat. Während dessen Belagerung fiel der polnischstämmige Anführer der persischen Armee, General Izydor Borowski, der einige Jahre gegen die Afghanen gekämpft hatte. Witkiewicz brachte aus Afghanistan Dokumente und Unterlagen sowie topografische Karten des Landes mit, die für die Russen wichtig waren. Er starb unter mysteriösen Umständen in einem Hotel in Petersburg, als er auf eine Audienz im Außenministerium wartete. Nach offizieller Version beging er Selbstmord, allerdings waren alle von ihm zusammengetragenen Unterlagen verschwunden. Rasch kamen Vermutungen auf, dass er vom britischen Geheimdienst oder aber vom russischen Geheimdienst wegen des Verdachts auf Zusammenarbeit mit den Briten ermordet worden sei. Witkiewicz’ Nachkommen, die im 19. und 20. Jahrhundert als Schriftsteller, Architekten und Maler großen Einfluss auf die Entwicklung der polnischen Kultur hatte, verbreitete das Bild des Jan Prosper als tragischen polnischen Patrioten, der im Interesse seiner Nation ein doppeltes Spiel spielte. Es sollte darauf abzielen, einen Krieg zwischen Russland und Großbritannien zu provozieren, der Polen die Unabhängigkeit bringen sollte. Die Gestalt des Jan Prosper verewigte auch Adam Mickiewicz, der berühmteste polnische Dichter der Romantik, in seinem Werk.

Unabhängige Partner und Modernisierer

Im November 1918 erlangte Polen die Unabhängigkeit und im August 1919 erhielt Afghanistan die vollständige Souveränität und ließ die Zeit der britischen Protektion hinter sich. Im Jahr 1921 kam eine diplomatische Delegation aus Afghanistan nach Polen, an deren Spitze General Muhammad Vali Chan stand. Sie wurde von Marschall Józef Piłsudski, dem Anführer des unabhängigen Polen, empfangen. 1924 schlug Afghanistan Polen vor, einen Handelsvertrag abzuschließen. Warschau reagierte positiv auf dieses Angebot und plante, eine Sondermission nach Afghanistan zu schicken. Allerdings kam es erst 1926 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Im Jahr 1927 wurde Józef Alfred Graf Potocki (1895 bis 1968) als erster offizieller Abgesandter nach Afghanistan geschickt. Er war ein Sondergesandter des polnischen Präsidenten Ignacy Mościcki. Ein Ergebnis des Besuches war die Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages zwischen beiden Ländern. 1928 kam der afghanische König, Amanullah Khan (Emir von 1919 bis 1926, König von 1926 bis 1929), der Gründer des unabhängigen Afghanistan und sein erster König, nach Polen. Sein Besuch stieß auf ein außerordentliches Interesse; in Warschau begrüßten ihn große Menschenmengen. Die polnischen und afghanischen Anführer unterstrichen die Ähnlichkeit der historischen Erfahrungen beider Länder – den Kampf für die Unabhängigkeit gegen mächtige Nachbarn. Der König bemühte sich, Reformen nach europäischem Muster in Afghanistan einzuführen, und strebte deshalb engere Beziehungen mit einigen Ländern Europas an, darunter Polen, das wie Afghanistan an die Sowjetunion angrenzte. Seine Politik stieß auf den Widerstand konservativer und fundamentalistischer Kreise, die seinen Besuch nutzten, um in Afghanistan einen Bürgerkrieg zu entfachen. In dessen Verlauf ging Amanullah Khan ins Exil. 1932 wurde eine afghanische Gesandtschaft in Polen mit Sitz des Gesandten in Paris eingerichtet. 1938 wiederum erfolgte die Berufung der polnischen Gesandtschaft in Kabul mit Sitz in Teheran. Hervorzuheben ist, dass in den Jahren 1938/39 ca. 20 polnische Topografen, Geologen sowie Straßenbauingenieure eine Anstellung in Afghanistan fanden, viele von ihnen behielten sie auch während des Zweiten Weltkrieges und danach. Die polnischen Spezialisten trugen zur zivilisatorischen Entwicklung des Landes bei. Zu ihnen gehörte der Geophysiker Edward Stenz, Gründer des Meteorologischen Instituts in Kabul, Zbigniew Jastrzębski, Leiter des ersten Labors für Baumaterialuntersuchungen, Adam Drath, leitender Geologe im Bergbauministerium des Königreiches Afghanistan, und Mieczysław Szczęsny Okęcki, Chefingenieur bei der afghanischen Regierung. Die polnischen Ingenieure bauten Straßen, Brücken und Tunnel. Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten beide Staaten diplomatische Vertretungen im anderen Land, die 1961 zu Botschaften erhoben wurden. Auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder entwickelte sich. In den Jahren 1967 bis 1970 war der bekannte polnische Architekt Józef Zbigniew Polak in Afghanistan tätig. Er erhielt einen ersten Preis für den Umbau des Zentrums von Kabul. Die größte Leistung der Zusammenarbeit war jedoch die Ausarbeitung und Herausgabe des ersten Nationalen Atlasses Afghanistans in englischer und persischer Sprache in Warschau im Jahr 1984. Den Atlas hatten polnische Kartografen unter der Leitung des herausragenden Geografen und Kartografen Henryk Górski erstellt.

Polnische Mudschaheddin

Die Beziehungen zwischen dem kommunistischen Polen und Afghanistan wurden nach dem prosowjetischen Staatsstreich 1978 intensiver. Dieser rief Widerstand in Teilen der Bevölkerung Afghanistans hervor und es kam zur sowjetischen Intervention zur Unterstützung der afghanischen Regierung. Vereinzelt fanden sich Polen auf beiden Seiten des Konfliktes. 1986/87 verkehrte Radosław Sikorski als Kriegskorrespondent der britischen Medien in den Reihen der Aufständischen; Sikorski hatte nach 1989 das Amt des Verteidigungsministers, des Außenministers und des Sejmmarschalls der Republik Polen inne. Er gab zwei Bücher heraus, die sich mit dem Krieg in Afghanistan befassen, "Moscow’s Afghan war. Soviet motives and western interests" und "Prochy świętych– Podróż do Heratu w czas wojny" (Die Asche der Heiligen – die Reise nach Herat in der Kriegszeit). Im Jahr 1988 erhielt er die prestigeträchtige Auszeichnung World Press Photo für die Aufnahme einer Familie, die infolge einer sowjetischen Bombardierung ums Leben gekommen war. Sikorski widmete eines seiner Bücher Andy Skrzypkowiak, der als Mudschahed aufseiten der Aufständischen kämpfte und an der Front Dokumentarfilme und Reportagen drehte. Skrzypkowiak wurde von einer der radikalen Fraktionen der Aufständischen ermordet. Auch Lech Zondek, der ebenfalls bei den Aufständischen diente und als Korrespondent für Radio Free Europe und Voice of America arbeitete, verlor sein Leben in Afghanistan. Der dritte polnische Mudschahed war der bekannte oppositionelle Aktivist Jacek Winkler. Weltberühmtheit erlangte er durch seine Aktion, zwei Fahnen mit der Aufschrift Solidarność und "Solidarität/ Solidarność mit dem Kampf des afghanischen Volkes" auf den Mont Blanc zu setzen, als in der Volksrepublik Polen das Kriegsrecht galt und in Afghanistan der Krieg gegen die russische Intervention herrschte. In Afghanistan erstellte Winkler eine Fotodokumentation, die heute sehr wichtiges historisches Quellenmaterial bietet. Winkler ging auf Vortragsreise durch US-amerikanische und kanadische Universitäten und schuf Öffentlichkeit für die afghanische Frage. Er war außerdem Herausgeber eines "Afghanischen Bulletins" und arbeitete als Berater zum Thema Afghanistan bei Radio Free Europe und Voice of America . Die genannten Polen unterhielten enge Kontakte mit Ahmad Schah Massoud, dem berühmten Kommandeur der Aufständischen. Aus der Perspektive der polnischen Geschichte hatte jedoch letztlich die sowjetische Niederlage in Afghanistan Schlüsselbedeutung für die Zukunft Europas und Zentralasiens. So stellte Radosław Sikorski zu Recht fest: "Polen ist Afghanistan Dank schuldig. Viele Male in der Geschichte kämpften wir "für eure und unsere Freiheit", aber es profitierten andere davon. In den 1980er Jahren kämpften die Afghanen und wir profitierten. Wer weiß, ob sich im Jahr 1980 das sowjetische Politbüro nicht für die traditionelle Lösung des Problems der Solidarność , d. h. für eine bewaffnete Invasion, entschieden hätte, wenn es nicht schon eine offene Front in Zentralasien gegeben hätte. Wer weiß, wie der sowjetische Kommunismus geendet hätte, wenn Michail Gorbatschow anstelle der afghanischen "blutenden Wunde" Hundert Milliarden gesparte Dollar für die Modernisierung der Wirtschaft gehabt hätte. Vielleicht wäre es gelungen, auf evolutionärem Wege aus dem Kommunismus herauszukommen, nach chinesischem Muster, bei Erhalt der Macht in den Händen der Partei, ohne das externe Imperium zu verlieren und ohne Zusammenbruch der UdSSR?"

Die längste Mission

Wenige Jahre nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan wurde das von Moskau gestützte Regime gestürzt. Es brach ein Bürgerkrieg aus, der im Jahr 1996 zur Machtübernahme der Taliban, islamischer Fundamentalisten, führte. Infolgedessen kamen die polnisch-afghanischen Beziehungen praktisch zum Erliegen. Durch die Angriffe von Al-Kaida, der Verbündeten der Taliban, auf die USA am 11. September 2001 veränderte sich die Situation radikal. Polen engagierte sich zusammen mit anderen westlichen Ländern aufseiten der USA im Krieg gegen die Taliban, die für mehrere Jahre die Kontrolle über den deutlich größeren Teil Afghanistans verloren und einen Partisanenkampf gegen die Streitkräfte der NATO und der afghanischen Regierung führten. Polen beschloss, sich in größerem Maße militärisch in Afghanistan zu engagieren, um sein Bündnis mit den USA sowie seine Position im Rahmen der NATO zu stärken. Zudem wollte es seinen Status des glaubwürdigen loyalen Bündnismitglieds bestätigen, das seinerseits in Zukunft ebenfalls auf die Solidarität der anderen Mitgliedsstaaten wird zählen können. Das "Polnische Militärkontingent Afghanistan" war von 2002 bis 2021 dort eingesetzt. Von 2002 bis 2014 diente es im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force  – ISAF), die ab 2003 der NATO unterstand. In den Jahren 2014 bis 2021 engagierte sich das Polnische Militärkontingent in einer weiteren NATO-Operation, Resolute Support . Anfangs gehörten dem Kontingent gut 100 Soldaten an, zu Spitzenzeiten (2010/11) waren es knapp 2.600. Insgesamt nahmen an dem Einsatz in Afghanistan ca. 33.000 Soldaten und Militärangehörige teil. Zum Vergleich: Im Irak waren zwischen 2003 und 2011 mehr als 15.000 polnische Soldaten und Militärangehörige eingesetzt. Während der Afghanistanmission kamen 43 Soldaten und ein weiterer Militärangehöriger ums Leben. Die meisten Todesopfer gab es in den Jahren 2008 bis 2011. Auf der Grundlage der zugänglichen Daten lassen sich die Kosten des Einsatzes der polnischen Soldaten in Afghanistan auf knapp zwei Milliarden Euro schätzen. Dabei sind allerdings nicht die Kosten für die Betreuung der Veteranen berücksichtigt. Während der Afghanistanmission war das Polnische Militärkontingent größtenteils zusammen mit den US-amerikanischen Truppen in der Provinz Ghazni stationiert. Sie agierten dort als polnisch-amerikanische Task Force White Eagle . Im Jahr 2012 wurde begonnen, den Afghanen die Verantwortung für die Provinz Ghazni zu übergeben. Ab Oktober 2012 nahm die polnische Militärmission einen Schulungs- und Stabilisierungsstatus ein. Die Aktivitäten des Polnischen Militärkontingents konzentrierten sich vor allem auf Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung vor Ort sowie Beratung und Schulung der afghanischen Polizei und Armee, verbunden mit gemeinsamen Operationen afghanischer und polnischer Spezialkräfte gegen Rebellenführer. Im Mai 2013 wurde den Afghanen offiziell die volle Verantwortung für die Provinz Ghazni übertragen. Das Polnische Militärkontingent trat in die Phase des Rückzugs aus Afghanistan ein. Dieser wurde im August 2013 durch den größten Angriff in der knapp 20-jährigen Geschichte des Kontingents durch einige Hundert Taliban gestört. Der Angriff wurde abgewehrt, knapp 20 Rebellen kamen ums Leben, die Verluste bei den Bündnispartnern beliefen sich auf zehn verletzte Polen (ein Schwerverletzter) und einen getöteten US-Amerikaner. Dem Polnischen Militärkontingent wurde zwar bis Dezember 2014 der Rückzug befohlen, jedoch beschloss Polen die Fortsetzung der Militärpräsenz in Afghanistan im Rahmen der NATO-Schulungsmission Resolute Support . Der ersten Ablösung gehörten ca. 120 Soldaten an. Die größte Anzahl erlangte das Polnische Militärkontingent in seiner Schulungsmission Mitte 2018, als es auf 350 Soldaten und Militärangehörige erhöht wurde. Es blieb bis August 2021, als die Taliban endgültig den Bürgerkrieg gewannen.

Auch wenn die knapp 20-jährige Mission des Polnischen Militärkontingents Afghanistan nicht den Sieg der Taliban verhinderte, muss sie als positiv für Polen bewertet werden. Die wichtigsten positiven Aspekte waren die groß angelegte Zusammenarbeit der polnischen Streitkräfte mit Bündnispartnern unter den Bedingungen des Kampfeinsatzes, die Beschleunigung der Modernisierung der polnischen Streitkräfte sowie die außerordentlichen Erfahrungen während der Militäroperation. Dies führte dazu, dass die Schulungsprogramme angepasst und verbessert wurden.

Die Evakuierung aus Afghanistan und die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze

Im August 2021 musste Polen außer dem Abzug seiner Soldaten die größte Evakuierungsaktion in seiner neuesten Geschichte durchführen. Um die polnischen Bürger und die Mitarbeiter der polnischen Einheiten und der diplomatischen Dienste, die sich in Afghanistan aufhielten, zu evakuieren, wurde die Transportluftfahrt der Luftstreitkräfte zum Flughafen in Kabul geschickt. Dazu gehörten drei Militärtransportflugzeuge. Die Evakuierungsflüge verliefen über die Stecke Warschau – Tiflis (Georgien) – Navoi (Usbekistan) – Kabul. Die Hauptbasis der Transportgruppe war der usbekische Flughafen; von dort gingen die Flüge nach Kabul ab. Die evakuierten Personen wurden aus Navoi über Tiflis nach Warschau geflogen; gechartert wurden die Boeing 787 Dreamliner und die Embraer 195 von der polnischen Zivilfluggesellschaft LOT. Im Rahmen der Evakuierungsaktion, die vom 17. bis 27. August 2021 durchgeführt wurde, fanden 30 Militärflüge und 14 Zivilflüge statt. Insgesamt wurden knapp 940 Afghanen (Mitarbeiter der militärischen Einheiten und diplomatischen Dienste Polens, Tschechiens, Estlands, Litauens, Deutschlands, der Vertretung der Europäischen Union, Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds, des Internationalen Olympischen Komitees sowie deren Familien) und über 300 Bürger anderer Staaten nach Polen gebracht. Die polnische Regierung erklärte, dass alle evakuierten Afghanen das Recht haben, in Polen zu bleiben, und den Flüchtlingsstatus oder einen anderen Schutzstatus sowie das Recht auf ständigen Aufenthalt erhalten. Neben afghanischen Staatsbürgern, die aus Afghanistan evakuiert wurden, stellten im Jahr 2021 (Januar bis September) rund 800 Afghanen in Polen Asylanträge. Die Ankunft der evakuierten Afghanen hat die sehr kleine afghanische community in Polen deutlich vergrößert. Mitte 2021 besaßen gut 230 Afghanen in Polen den legalen Flüchtlingsstatus, eine Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte oder den subsidiären Schutzstatus. Im ersten Halbjahr 2021 erhielten weniger als 25 Afghanen eine Arbeitserlaubnis in Polen. Auf der anderen Seite hat sich in den letzten Jahren der Bevölkerungsanteil der Nationen, die in Afghanistan leben, aber aus den Nachbarländern (Usbekistan, Tadschikistan, Iran, Pakistan, Turkmenistan) kommen und gegenwärtig in Polen leben, deutlich vergrößert und ist deutlich größer als der Anteil der Afghanen. Mitte 2021 lebten knapp 5.000 Bürger der genannten Staaten mit einem geregelten Aufenthaltsstatus in Polen (fast die Hälfte von ihnen stammt aus Usbekistan). Knapp 7.000 erhielten im ersten Halbjahr 2021 eine Arbeitserlaubnis (darunter ca. zwei Drittel aus Usbekistan), hier kann man einen weiteren Anstieg erwarten. Während der polnische Staat eine sehr restriktive Politik betreibt, was die Einbürgerung und die Daueraufenthaltskarte betrifft, zeichnet er sich in der Europäischen Union durch eine liberale Arbeitsmigrationspolitik aus. Die wachsende Präsenz der befristeten Arbeitsmigranten aus Zentralasien in Polen hat zur Folge, dass die Situation in Afghanistan und deren Einfluss auf die Nachbarländer weiterhin Bedeutung für Warschau haben, auch wenn die polnischen Streitkräfte Afghanistan verlassen haben.

Die polnische Politik der Wirtschaftsmigration unterscheidet sich radikal von der Asylpolitik Polens. Polen gehört zu den Ländern der Europäischen Union mit dem höchsten Faktor abgelehnter Asylanträge – deutlich höher als beispielsweise in Deutschland. Fragen der Asylpolitik wurden in Polen besonders wichtig im Zusammenhang mit der humanitären Krise an der polnisch-belarussischen Grenze. Diese trat gleichzeitig mit der Evakuierungsaktion aus Afghanistan ein. Afghanistan trat hier als einer der Staaten in Erscheinung, aus dem Flüchtlinge kamen, die versuchten, illegal die polnisch-belarussische Grenze zu übertreten. Die polnische Regierung wiederum spielt die islamfeindliche Karte gegenüber diesen Personen aus und bezieht Afghanistan dabei mit ein.

Die humanitäre Krise an der polnisch-belarussischen Grenze wurde vom diktatorischen Regime des belarussischen Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko ausgelöst. Er beschloss, Druck auf die EU auszuüben, indem er Flugzeuge mit Bürgern verschiedener asiatischer und afrikanischer Staaten ins Land holte, um sie anschließend an die Grenze zu Lettland, Litauen und Polen zu führen. Vom 1. Januar bis 14. Oktober 2021 verhinderte der polnische Grenzschutz 18.000 Versuche, die polnisch-belarussische Grenze illegal zu übertreten, allein 7.000 Versuche waren es im Oktober. Als Reaktion auf das Vorgehen Lukaschenkos begann Polen bereits im August, entlang der Grenze Stacheldraht zu ziehen. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament verurteilten einmütig das Vorgehen Belarus’, riefen Polen aber auf, in Übereinstimmung "mit dem EU-Recht, in voller Achtung der grundlegenden Menschenrechte und unter Gewährung eines wirksamen Zugangs zu Asylverfahren" zu handeln. Die polnischen Behörden hinderten jedoch die Mehrheit der Ausländer, welche die Grenze übertraten, einen Asylantrag zu stellen, womit sie gegen internationales und europäisches Recht sowie die polnische Verfassung verstießen. Der polnische Grenzschutz und die Armee übten sog. Pushbacks aus, das heißt, die Ausländer wurden nach Belarus zurückgedrängt. Berichten von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten zufolge wurden jene teilweise von den polnischen Funktionären geschlagen und schlecht behandelt. Am schlimmsten ist, dass mindestens sieben Personen infolge von Hunger, Erschöpfung und Unterkühlung im polnischen Grenzgebiet zu Tode kamen. Nach Nichtregierungsorganisationen, die sich auf Aussagen von Augenzeugen stützen, kann die Zahl der Todesopfer deutlich höher liegen. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich insbesondere auf das Dorf Usnarz Górny, wo mehr als anderthalb Monate eine Gruppe von 30 Personen aus Afghanistan kampierte; die Mehrheit war in sehr schlechter Verfassung. Ihre Rückkehr nach Belarus verhinderte der belarussische Grenzschutz, während die polnischen Grenzschützer nicht erlaubten, dass sie weiter nach Polen vordrangen. Festzuhalten ist allerdings, dass unter allen Personen, die von den polnischen uniformierten Diensten im Grenzgebiet aufgehalten wurden, die Afghanen deutlich in der Minderzahl waren.

Am 2. September verhängte Polen zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems den Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus und verlängerte ihn am 30. September um 60 Tage. Die große Mehrheit der Opposition stimmte im Parlament gegen diese Entscheidung. Sie war auch gegen die Gesetzesnovelle, welche die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, für diejenigen ausschließt, die illegal die polnische Ostgrenze übertreten. Die Novelle verstößt damit gegen polnisches, europäisches und internationales Recht. Mitte Oktober 2021 stimmte der Sejm – wieder ohne Unterstützung des größten Teils der Opposition – für den Bau einer speziellen Mauerbefestigung an der Grenze zu Belarus.

Ähnliche Maßnahmen wie Warschau trafen verschiedene EU-Staaten an ihren Grenzen, unlängst auch Litauen und Lettland. Allerdings bestehen hier grundlegende Unterschiede. In Litauen und Lettland kam es nicht zu Todesfällen unter den Ausländern. Zudem wurde kein Ausnahmezustand verhängt, der die Anwesenheit von Journalisten und Aktivisten humanitärer Organisationen und anderer NGOs im Grenzgebiet verbietet. Im Unterschied zu Polen forderten Litauen und Lettland Beamte von FRONTEX an ihre Grenzen an und verabschiedeten auch keine Gesetzesnovelle zum Asylverfahren. Sie beschlossen auch nicht, eine Mauer zu bauen, sondern lediglich einen Zaun zu errichten. Am wichtigsten ist aber wohl, dass die polnische Regierung ihre Aktivitäten mit einer Hasskampagne gegenüber Moslems verband und darauf zählte, dass sie damit ihre Unterstützung in der polnischen Gesellschaft vergrößert, denn das Niveau der Islamfeindlichkeit ist in Polens eines der höchsten in der EU. Ein Detail dieser Kampagne war, dass auf einer Regierungspressekonferenz öffentlich ein privates Fotos eines Afghanen in Uniform gezeigt wurde (dieses Vorgehen war abermals ein Rechtsbruch), und zwar in der Uniform der afghanischen Armee, also des Verbündeten der polnischen Streitkräfte in Afghanistan. Sein Militärdienst ist ein starkes Argument für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, da er ein potentielles Opfer der Repressalien der Taliban ist. Jedoch wurde er als ernstzunehmende Gefahr für die Sicherheit Polens dargestellt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das antiislamische Vorgehen der polnischen Regierung nicht negativ auf das Verhältnis vieler Polen zu den nach Polen evakuierten Afghanen auswirkt. Wenn Polen sie integrieren möchte, findet es in der Vergangenheit viele Inspirationsquellen, die es wiederzuentdecken gilt.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Weitere Inhalte

Adam Balcer ist Programmdirektor des Jan Nowak-Jeziorański-Osteuropakollegs in Breslau (Kolegium Europy Wschodniej im.Jana Nowaka-Jeziorańskiego w Wrocławiu) und Dozent am Osteuropastudiengang der Universität Warschau (Studium Europy Wschodniej, Uniwersytet Warszawski) sowie Autor von Büchern, Berichten und Artikeln u. a. zur Geschichte des Islam in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan.