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Kommentar: Olaf Scholz’ Kanzlerschaft und die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen | bpb.de

Kommentar: Olaf Scholz’ Kanzlerschaft und die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen

Dr. Piotr Andrzejewski Posen West Institut Piotr Andrzejewski

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Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen gelten als unabhängig von der Politik und werden sich weiter vertiefen. Allerdings könnte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dies teilweise verändern.

Beginn der Arbeiten am Neubau einer Eisenbahnbrücke über die Oder für eine schnellere Verbindung zwischen Deutschland und Polen, November 2021. (© Patrick Pleul)

Als im vergangenen Jahr der 30. Jahrestag des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit begangen wurde, fanden in Polen eine Reihe von Veranstaltungen und Diskussionen statt, in denen die letzten drei Jahrzehnte der bilateralen Zusammenarbeit bilanziert wurden. Obgleich man einige Aspekte der deutsch-polnischen Beziehungen kritisch beurteilte oder Veränderungen erwartete, wurde praktisch auf jeder Konferenz und jedem Podium eines unterstrichen: Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen sind ein Erfolg. Die Zusammenarbeit trug deutlich zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beider Staaten sowie zur Reduzierung der Entwicklungsunterschiede bei. Dank steigender Umsätze im Warenaustausch veränderte sich auch die Rolle Polens, das zu einem der Hauptpartner Deutschlands sowohl im Import als auch Export wurde. Ungeachtet dieser positiven Trends charakterisiert die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten immer noch eine Asymmetrie der Potentiale. Doch es steht zu erwarten, dass in den nächsten Jahren der Trend zum Abbau der Asymmetrie anhalten wird.

30 Jahre Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen führten auch dazu, dass sich die Wirtschaft beider Länder strukturell anglich. Viele aktuelle Herausforderungen betreffen – wenn auch nicht in demselben Maße – sowohl Polen als auch Deutschland. Zu nennen wären die alternde Gesellschaft, der Fachkräftemangel, der zurückgehende Anteil an den globalen Wertschöpfungsketten oder der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit zugunsten außereuropäischer Akteure. Das eröffnet einen Raum zur strategischen Stärkung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen.

Im letzten Jahrzehnt hat sich der deutsch-polnische Handelsumsatz verdoppelt und erreichte 123 Milliarden Euro. Polen belegte damit Platz 5 der wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands und ließ u. a. das Vereinigte Königreich und Italien hinter sich. Das Polnische Wirtschaftsinstitut (Polski Instytut Ekonomiczny  –PIE ) sowie das West Institut (Instytut Zachodni  –IZ ) veröffentlichten Statistiken zum Handelsaustausch zwischen Deutschland und der Visegrád-Gruppe (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn), die zeigen, dass er größer ist als der Handel zwischen Deutschland und China oder Deutschlands mit Frankreich und Italien. Gleichzeitig stellt Piotr Arak, Direktor desPIE , fest, dass sich der polnische und der deutsche Konjunkturzyklus zunehmend auseinanderentwickeln, was ein Beleg für die größer werdende Selbständigkeit der polnischen Wirtschaft im Verhältnis zu Deutschland sei.

Hervorzuheben ist der Tenor in den Debatten zum 30-jährigen Jubiläum, und zwar dass die Wirtschaftsbeziehungen gewissermaßen neben der Welt der Politik aufgebaut wurden und unabhängig davon waren, ob die Beziehungen als gut oder kühl bewertet wurden. Das heißt, dass eine Veränderung auf dem Posten des Bundeskanzlers aus Sicht der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von nicht so großer Bedeutung ist und dass die Märkte eine fortschreitende Vertiefung der Kooperation erwarten, insbesondere nach der COVID-19-Pandemie und mit Blick auf Bemühungen, Lieferketten nach Europa zu verlegen.

Was die polnische Seite an der Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen besonders interessierte, ist die Tatsache, dass diese den fiskalischen Gürtel lockern wird. In den polnischen Medien wurde viel über das Regierungsprojekt des Klima- und Transformationsfonds geschrieben, der Gelder für Investitionen in Klimaschutz und Maßnahmen zur Transformation der deutschen Wirtschaft bereitstellt, wobei diese nicht auf die Staatsverschuldung angerechnet werden sollen. Aufmerksam verfolgt wurde auch die Haltung Berlins im Zusammenhang mit der Auszahlung von EU-Mitteln und dem Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit in Polen.

Eine sprunghafte Verschlechterung der Bewertung von Bundeskanzler Olaf Scholz in Polen erfolgte im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Ende Februar 2022. Insbesondere wurde das deutsche Zögern gegenüber entschiedener Hilfe für den überfallenen Staat kritisiert. Auf der Suche nach Ursachen für die Haltung Deutschlands haben polnische Kommentatoren wie Marcin Kędzierski die berühmte Aussage über Preußen, das eine "Armee, die einen Staat besitzt" gewesen sein soll, abgewandelt. Das gegenwärtige Deutschland sei eine "Wirtschaft, die einen Staat besitzt". Aus polnischer Sicht ist für die fehlende deutsche Aktivität der zu große politische Einfluss der deutschen Konzerne und des deutschen Handels verantwortlich. Eindeutig prorussisch, zögen sie Russland den Staaten Mittel- und Osteuropas vor, lautet die Einschätzung. Ein großes Echo in Polen rief in diesem Zusammenhang ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden von BASF, Martin Brudermüller, hervor, wonach sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf billige Energiequellen aus Russland gründe. Solche Aussagen bestätigten die in Polen dominierende negative Meinung, dass deutsche Wirtschaft und Politiker zu sehr von Russland abhängen.

Trotz der in Polen zunehmenden negativen Urteile wurde die Tätigkeit von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wahrgenommen, der intensiv daran arbeitet, die deutsche Energieabhängigkeit von Russland aufzuheben. Eine sehr wichtige Rolle spielt die potentielle Zusammenarbeit zwischen dem Hafen in Danzig (Gdańsk) und der Raffinerie in Schwedt bei Öllieferungen und -ankäufen. Nicht gerade wenig Verwunderung ruft jedoch in Polen die Entscheidung hervor, in Deutschland den Ausstieg aus der Kernenergie weiter voranzutreiben, trotz der Probleme im Energiesektor, die der russische Angriff auf die Ukraine nach sich zieht.

Insgesamt lässt sich erwarten, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Polen und Deutschland auch in Zukunft weiterentwickeln und intensivieren werden. Neue Handlungsfelder für Zusammenarbeit ergeben sich im Zusammenhang mit der Verkürzung der Lieferketten und der sich am Horizont abzeichnenden wirtschaftlichen Rivalität mit China. Allerdings kann man nicht zur Tagesordnung übergehen angesichts der fehlenden Reaktion Deutschlands auf den russischen Angriff auf die Ukraine. In Polen wird dies sehr kritisch gesehen. So wird der Krieg an der EU-Außengrenze einerseits eine Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten beiderseits der Oder, insbesondere im Energiesektor, bewirken, andererseits kann er auch zu einem Vertrauensverlust in strategischen Bereichen wie etwa Fragen der Verteidigung führen. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass die polnische Regierung vielleicht lieber Waffen und schweres militärisches Gerät einkauft, das nicht aus deutschen Lieferungen stammt.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

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Dr. Piotr Andrzejewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am West Institut (Instytut Zachodni) in Posen (Poznań) sowie am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Nauk – PAN). Sein Forschungsgebiet ist die Politik der deutschsprachigen Länder, insbesondere Deutschlands und Österreichs.