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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik der Schweiz | bpb.de

Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik der Schweiz

Thomas Gerlinger Renate Reiter

/ 5 Minuten zu lesen

Bilanz der Krankenversicherungsreform 1996

Krankenschwester im Berner Inselspital bei der Arbeit. (© picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Die Reform des schweizerischen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) verfolgte im Wesentlichen drei Ziele:

  • die Stärkung der Solidarität,

  • die Sicherung einer hochwertigen Versorgung vor allem durch die Einführung von Managed Care,

  • eine wirksame Kostendämpfung.

Welche Bilanz lässt sich nach einem guten Jahrzehnt ziehen?

Solidarcharakter der Krankenversicherung

Die Verabschiedung des KVG ist in der Schweiz überwiegend positiv bewertet worden. Betont wird vor allem, dass mit der Einführung einer bundesweiten Versicherungspflicht, mit der Vereinheitlichung des Leistungskatalogs und mit der Schließung von Lücken im Leistungsrecht (siehe Abschnitt Interner Link: "Finanzierung des Gesundheitswesens der Schweiz") der Solidarcharakter des schweizerischen Gesundheitssystems gestärkt worden sei. Gleichwohl führen die gesetzliche Franchise, der zehnprozentige Selbstbehalt sowie die Kosten für zahnärztliche Behandlung und eine Krankengeldversicherung dazu, dass die privat zu tragenden Kosten im Krankheitsfall im internationalen Vergleich sehr hoch sind. Zudem werden die sozial schwächeren Gruppen durch die einkommensunabhängige Kopfpauschale erheblich belastet. Das System der Prämienverbilligung, in deren Genuss 2006 28,8 Prozent der Bürgerinnen und Bürger bei einem Gesamtvolumen von 3,3 Milliarden Franken kamen (Bundesamt für Statistik 2007, S. 28), soll hier Abhilfe schaffen, wird aber oftmals als unzureichend kritisiert:

  • Die staatlichen Zuschüsse sind gerade in den Kantonen mit hohen Prämien oftmals recht niedrig.

  • Manche Kantone versuchen, die Zuschüsse zur Prämienverbilligung für sozial Schwache niedrig zu halten, und nehmen daher nur eine reduzierte Prämienverbilligung vor.

Darüber hinaus zeigte sich, dass die Möglichkeit zur Prämienreduktion durch die Wahl einer erhöhten Franchise vor allem von Gesunden genutzt wird. Dies führt zu einer weiteren Umverteilung der Lasten auf die Schultern von Kranken. Gleichzeitig kann der Risikoausgleich den Anreiz zur Risikoselektion durch die Krankenversicherer nicht ausschalten, weil er auf die Parameter Alter und Geschlecht beschränkt ist und die Morbidität der Versicherten nicht erfasst. Schließlich ist auch die regionale Solidarität durch die kantonale Begrenzung des Risikoausgleichs nur schwach ausgeprägt. In der Gesamtbilanz hat sich der Anteil der privaten Kostenbeteiligung in der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKPV) seit 1996 deutlich erhöht.

Managed Care

Quelle: Bundesamt für Statistik 2007, S. 181
Interner Link: Infografik als PDF-Download

Die Einführung von Managed Care hat die hoch gesteckten Erwartungen bei der Verabschiedung des KVG bisher nicht erfüllt. Neue Versicherungs- und Versorgungsformen haben bisher nur eine geringe Verbreitung erreicht. 2006 waren 18 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in eine Versicherung mit eingeschränkter Wahl eingeschrieben (siehe Tabelle "Versichertenbestand nach Versicherungsformen in der Obligatorischen Krankenversicherung 1999 und 2006"). Allerdings hat sich dieser Anteil zwischen 2004 und 2006 nahezu verdoppelt. Jedoch ändert dies wenig an der enttäuschenden Zwischenbilanz für die Gesamtschweiz.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig:

  • Erstens sind sie aufseiten der Versicherer zu suchen. Zwar hat die Einführung der freien Wahl des Krankenversicherers zu einem verschärften Wettbewerb unter den Finanzierungsträgern geführt; aber der Zuschnitt der Wettbewerbsordnung und insbesondere der unzureichende Risikoausgleich (siehe oben) machen es für sie weitaus interessanter, Konkurrenzvorteile durch das Anlocken guter Risiken als durch effizientere Versorgungsmodelle zu erzielen. Zwar kann die Konkurrenz um Mitglieder ein prinzipielles Interesse der Kassen an der Entwicklung solcher Modelle begründen, allerdings müssten sie auch befürchten, mit ihnen die schlechten Risiken anderer Krankenversicherer anzulocken, deren hoher Behandlungsaufwand die möglichen Einspareffekte effizienter Versorgungsformen überkompensieren könnte.

  • Zweitens ist die Realisierung solcher Vorhaben für Ärztinnen und Ärzte häufig nicht sonderlich attraktiv. Zum einen ist die im Rahmen der Regelversorgung praktizierte Einzelleistungsvergütung für sie weit lukrativer als eine Vergütung auf der Grundlage von Kopfpauschalen, auf die sie bei Managed-Care-Modellen in der Regel umsteigen müssten. Zum anderen sind Managed-Care-Modelle aus ärztlicher Perspektive durch ein hohes Maß an Fremdkontrolle gekennzeichnet. Sie müssen sich hier in weit stärkerem Maße als bisher Behandlungsleitlinien und einem betriebswirtschaftlichem Controlling unterwerfen.

  • Drittens dürfte die mit Managed-Care-Modellen verbundene Einschränkung der freien Arztwahl bei zahlreichen Versicherten nur auf eine geringe Resonanz stoßen, weil das recht der freien Arztwahl ein hohes Gut darstellt (Klingenberger 2002). Zudem ist das Versicherungsangebot für die Patientinnen und Patienten insgesamt recht intransparent, und es mangelt an einschlägigen unabhängigen Beratungsstellen für Versicherte.

Außerdem ist unklar, inwieweit Health Maintenance Organizations (HMOs) tatsächlich Einsparungen und Qualitätsverbesserungen mit sich gebracht haben. Die verfügbaren Daten lassen darüber keine verlässlichen Angaben zu. Zwar liegen einzelne Untersuchungen vor, denen zufolge Einsparungen ohne Qualitätsverlust möglich sind. Allerdings ist ungeklärt, inwieweit diese Effekte auf die geringere Morbidität des Versichertenkreises zurückzuführen sind. Denn üblicherweise ist der Anteil von Gesunden an derartigen Versorgungs- und Versicherungsformen gemeinhin überdurchschnittlich hoch. Deshalb ist es auch möglich, dass die Ausgabensenkungen auf den ohnehin geringeren Behandlungsbedarf der im Durchschnitt gesünderen Versicherten zurückzuführen sind. Weitgehend im Dunkeln liegen bisher auch die Qualitätseffekte von Hausarztnetzen.

Ausgabenentwicklung

Das wohl wichtigste Ziel für die KVG-Reform 1996 war die Dämpfung des starken Ausgabenanstiegs in der Krankenversicherung. In dieser Hinsicht fällt die Bilanz negativ aus. Seit 1996 konnte die Ausgabendynamik nicht gebremst werden, sondern hat sich eher noch beschleunigt (siehe Tabellen "Ausgaben in der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKPV) 1996 bis 2006" und "Durchschnittliche Prämien in der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKPV) 1996 bis 2008"). Erst in jüngster Zeit zeichnet sich ein Rückgang des jährlichen Ausgabenzuwachses ab – wobei keineswegs sicher ist, ob er von Dauer sein wird. Auch der Prämienanstieg hat sich 2007 und 2008 abgeflacht. Allerdings spielten hier auch die Anhebung der Jahresfranchise und des Selbstbehalts eine gewisse Rolle Hinter dem geringeren Prämienanstieg versteckt sich also nicht ein vergleichbarer Rückgang der Krankenversicherungsausgaben, sondern zumindest zum Teil eine stärkere finanzielle Belastung der Patientinnen und Patienten. Die marktorientierten Reformmaßnahmen haben in der Schweiz also keineswegs zu einer Dämpfung der Ausgabenentwicklung geführt, sondern gingen vielmehr mit einem anhaltend hohen Zuwachs der Krankenversicherungskosten einher.

Jüngere Reformen

Seit seinem Inkrafttreten ist das KVG Gegenstand neuerlicher Reformbemühungen. Sie stellen keine grundsätzliche Neuorientierung, sondern Korrekturen am beziehungsweise Ergänzungen zum Konzept dar, an dem sich die Schweizer Gesundheitspolitik mit dem KVG orientiert hat. Wichtigster Anlass waren die hohen Prämien- und Ausgabensteigerungen in der OKPV. Daneben spielten aber auch andere Probleme und Fehlsteuerungen eine Rolle.

Eine erste Teilrevision des KVG trat im Jahr 2001 in Kraft. Sie enthielt unter anderem die Möglichkeit für den Bundesrat, Zulassungsbeschränkungen für Gesundheitsberufe vorzunehmen. Der Bundesrat machte von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch und erließ einen Zulassungsstopp für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Dies geschah in der Erwartung, mit der Begrenzung der Arztzahlen auch die Ausgabendynamik in der OKPV eindämmen zu können.

2004 und 2005 folgte eine umfassende Reform der bisherigen Franchise-, Selbstbehalt- und Rabattregelungen. Sie sollte zum einen den starken Prämienanstieg in der OKPV eindämmen, zum anderen negative Auswirkungen auf den Solidarcharakter des Systems begrenzen. Vor diesem Hintergrund traten die oben beschriebenen Bestimmungen in Kraft (siehe Abschnitt Interner Link: "Finanzierung des Gesundheitswesens in der Schweiz")

Die Anhebung der Franchise auf 300 Franken (vorher: 230 Franken) und des maximalen Selbstbehalts auf 700 Franken (vorher: 600 Franken) sollte dazu beitragen, den Prämienanstieg zu drosseln. Zum anderen sollte die Einführung von Mindestprämien und Höchstrabatten zum 1. Januar 2005 die Umverteilung zulasten von Kranken, die mit der Wahl einer erhöhten Franchise einherging, begrenzen. Denn die bisherigen Erfahrungen hatten gezeigt, dass sich fast ausschließlich Junge und Gesunde, also Personen, die ohnehin nicht oder nur in geringem Umfang Krankenversorgungsleistungen in Anspruch nehmen, für eine erhöhte Franchise entschieden und sich auf diese Weise von der Finanzierung der Krankenversicherung entlasteten.

Quellen / Literatur

Achtermann, Wally/Berset, Christel (2006): Gesundheitspolitiken in der Schweiz – Potential für eine nationale Gesundheitspolitik, Bd. 1: Analyse und Perspektiven. Bern

Bundesamt für Statistik (2007): Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens 2005. Neuchâtel

Klingenberger, David (2002): Health Maintenance Organizations in der Schweiz – Darstellung und Kritik – (IDZ-Information Nr. 1/2002). Köln

Kocher, Gerhard/Oggier, Willy (Hrsg.) (2007): Gesundheitswesen Schweiz 2007 - 2009. Eine aktuelle Übersicht. Bern

Obinger, Herbert (1998): Politische Institutionen und Sozialpolitik in der Schweiz. Der Einfluß von Nebenregierungen auf Struktur und Entwicklungsdynamik des schweizerischen Sozialstaates. Frankfurt am Main

Rosenbrock, Rolf/Gerlinger, Thomas (2006): Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Bern

Wirthner, Adrian/Ulrich, Volker (2003): Managed Care. In: Zenger, Christoph A./Jung, Tarzis (Hrsg.): Management im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik. Kontext – Normen – Perspektiven, Bern u. a., S. 255 - 267

Fussnoten

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.

Dr. Renate Reiter, Institut für Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen