Die zivile Integration ist zuerst in den Niederlanden entstanden, und zwar als Reaktion auf das Unvermögen der früheren multikulturellen "Minderheitenpolitik"
Die Niederlande
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Da in den 1990er Jahren durch Familienzusammenführung und Asylsuche die Zuwanderung ungelernter Arbeitskräfte überwog, ergaben sich gerade bei Migranten hohe Arbeitslosenquoten und Abhängigkeit von Sozialleistungen: Die Arbeitslosigkeit war bei Zugewanderten viermal höher als bei Einheimischen; fast die Hälfte aller Empfänger von Sozialleistungen waren nicht-westliche Migranten
In diesem soziodemografischen Kontext erfolgte in den 1990er Jahren ein Umschwung, der weg vom Multikulturalismus und hin zur zivilen Integration führte. Ein ebenso wichtiger Faktor für diesen Wandel ist ferner in der politischen Entwicklung zu suchen: Bei der Wahl 1994 wurden die Christdemokraten (CDA) als Regierungspartei abgewählt – zum ersten Mal seit einhundert Jahren. Die CDA galt als traditionelle Verfechterin des Säulensystems (verzuiling) zur Integration verschiedener sozialer Gruppen. In diesem System konstituierten Katholiken, Calvinisten und Nicht-Religiöse (Liberale und Sozialisten), später dann auch (intern nach ethnischer Herkunft differenzierte) Zuwanderer jeweils einen eigenen gesellschaftlichen Bereich (eine "Säule"), der zahlreiche öffentliche Einrichtungen umfasste (z. B. Gewerkschaften, Medien, Bildungsinstitutionen) und die Beteiligung der jeweiligen Gruppe am politischen Entscheidungsprozess strukturierte. Die neue sozialdemokratische Regierungspartei, die dem Säulensystem traditionell weniger verbunden war, drängte unmittelbar auf eine Förderung der Beteiligung von Migranten an etablierten Institutionen (später als "gemeinsame Staatsbürgerschaft" – shared citizenship – bezeichnet) sowie auf "Autonomie" der Zuwanderer, die durch Niederländisch-Kenntnisse und Integration in den Arbeitsmarkt erreicht werden sollte. Das Grundgerüst dieses neuen Ansatzes bildete das Gesetz zur zivilen Integration von Neuankömmlingen von 1998 (Wet Inburgering Nieuwkomers, WIN). Durch WIN wurden nicht-westliche Zuwanderer verpflichtet, an zwölfmonatigen Integrationskursen teilzunehmen. Diese sahen 600 Stunden Niederländischunterricht, Staatsbürgerkunde und Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt vor.
Schon bei ihrer Einführung 1998 waren diese Kurse verpflichtend, wurden jedoch auch als Chance für Zugewanderte betrachtet. Nichtteilnahme wurde mit finanziellen Strafen sanktioniert, die allerdings niedrig waren und von den verantwortlichen Behörden kaum durchgesetzt wurden. Insgesamt konnte von einem staatlich finanzierten Angebot mit unbestreitbar positiven Zielen gesprochen werden: Migranten sollten Zugang zu bezahlter Arbeit und Hilfe beim Erlernen der niederländischen Sprache bekommen, womit sie zu funktionierenden Mitgliedern der niederländischen Gesellschaft werden sollten.
Nach der Ermordung des populistischen Politikers Pim Fortuyn im Jahr 2002 und dem darauf folgenden Rechtsruck in der niederländischen Politik rückte der Zwangscharakter der zivilen Integration jedoch in den Vordergrund. Die neue CDA-geführte Regierung (seit 2002 im Amt), welche die Arbeiterpartei nach achtjähriger Regierungszeit wieder ablöste, gab ihr Eintreten für die pluralistische Verzuiling zugunsten einer eher nationalkonservativen Haltung auf. In einer Regierungserklärung im Mai 2003 wurde prompt eine restriktive Überarbeitung des Integrationsgesetzes angekündigt, durch die sichergestellt werden sollte, dass Neuankömmlinge die "niederländischen Werte kennen und dass sie sich an die Normen des Landes halten".
Das neue Gesetz zur zivilen Integration, das 2006 nach konfliktreichen Debatten endlich in Kraft trat, weist eine Reihe restriktiver Maßnahmen auf. In einem scheinbaren Widerspruch zieht sich der niederländische Staat danach einerseits aus dem Integrationsprozess zurück, zeigt andererseits aber gleichzeitig ein höheres Maß an Präsenz. So wird das der zivilen Integration zugrunde liegende Konzept der "Autonomie" bzw. "Autarkie" (zelfredzaamheid) auch auf das Kursangebot übertragen: Migranten müssen für die Integrationskurse, die von privaten Vertragspartnern durchgeführt werden, in vollem Maße finanziell aufkommen. Die staatliche Beteiligung am ganzen Prozess reduziert sich auf die Durchführung von standardisierten Abschlusstests.
Im Gegensatz zu dieser Privatisierung von Integrationskursen nimmt in anderen Bereichen der staatliche Einfluss erheblich zu. So müssen sich nicht nur Neuankömmlinge, sondern auch bereits langansässige Migranten (sog. oudkomers) dem Integrationstest unterziehen. Daraus ergibt sich für die Behörden eine enorme logistische Aufgabe, da die gesamte Einwandererbevölkerung des Landes identifiziert, verpflichtet und kontrolliert werden muss.
Eine entscheidende Entwicklung ist die Verknüpfung der bislang getrennten Bereiche Zuwanderungskontrolle und Zuwandererintegration durch die Kopplung von Aufenthaltsgenehmigungen an das erfolgreiche Bestehen des Integrationstests. Dies hat den Blick auf die Integration von Zuwanderern völlig verändert. Bislang wurde ein sicherer Aufenthaltsstatus als Instrument zur besseren Integration betrachtet; nun kann mangelnde Integration eine Versagung der Aufnahme bzw. der Aufenthaltsverlängerung zur Folge haben. Somit wird Integration tendenziell den Erfordernissen der Zuwanderungskontrolle untergeordnet.
Am deutlichsten wird diese neue Verknüpfung von Integrations- und Migrationspolitik am Beispiel der Richtlinien zur "Integration im Ausland". Danach müssen sich Personen, die qua Familiennachzug eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande erhalten wollen, bereits bei einer niederländischen Botschaft im Herkunftsland dem Integrationstest unterziehen. Da es im Ausland jedoch keine vom niederländischen Staat unterstützten niederländischen Sprachkurse gibt, drängt sich die Vermutung auf, dass "Integration im Ausland" vor allem ein Mittel ist, um "ungewollte" Zuwanderung zu vermeiden. Familiennachzügler sind in der Regel weniger qualifiziert als andere Migranten und werden daher nicht als wertvolle Ergänzung für die niederländische Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet. Prompt hat sich der Umfang des Familiennachzuges seit Inkrafttreten der neuen Richtlinie erheblich verringert.
Diese Reserviertheit gegenüber der Familienzusammenführung muss auch vor dem Hintergrund bestimmter Heiratspraktiken unter Muslimen betrachtet werden, die überall in Westeuropa die große Mehrheit der Familiennachzügler bilden. Innerhalb der zweiten Generation von türkischen und marokkanischen Zuwanderern in den Niederlanden wählen mehr als 50 % einen Ehepartner aus ihrem Herkunftsland. Heiratsmigration verstärkt somit die Selbstabschottung vieler muslimischer Gemeinden und schreibt diese über Generationen fort. Die Forderung nach stärkeren Integrationsanstrengungen – in den Niederlanden ebenso wie in anderen Ländern – gründet nicht zuletzt auf dieser soziodemografischen Tatsache.
Dr. Christian Joppke ist Professor für Politikwissenschaft an der Graduate School of Government, The American University of Paris.
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