Auch wenn nach der Ermordung Theo van Goghs in einigen deutschen Kommentaren von einem plötzlichen Ende der multikulturellen Gesellschaft die Rede ist, wurde in den Niederlanden selbst schon seit Beginn der 1990er Jahre deutliche Kritik an der multikulturellen Integrationspolitik geübt.
Intention und Realität: Wachsende Kritik innerhalb der Niederlande seit den 1990er Jahren
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1991 war der spätere EU-Kommissar Frits Bolkestein einer der ersten scharfen Kritiker der niederländischen Integrationspolitik, der mit dem Ausspruch "Meine Toleranz reicht nicht bis zu den Intoleranten" eine Argumentationslinie vorzeichnete, die auch Pim Fortuyn zehn Jahre später übernahm. Aber auch Wissenschaftler wiesen im Laufe der 1990er Jahre auf die hohe Arbeitslosigkeit unter ethnischen Minderheiten, ihre schlechten Schulleistungen und ihre miserablen Wohnumstände und damit auf ein "Integrationsproblem" hin. Der Anthropologe Jan Rath (1997) machte beispielsweise darauf aufmerksam, dass die niederländische Minderheitenpolitik die Mitglieder von Minderheitengruppen als kulturell andersartig, damit als sozialkulturell nicht konform und nicht in die westliche Kultur passend begreife. Laut Rath führt die eigentlich geplante Besserstellung von Minderheiten durch ihre gesonderte Förderung zu dem genau gegenteiligen Effekt. Migranten würden durch diese Politik als besonders hilfsbedürftig oder unwissend, selten jedoch als gleichwertige Partner verstanden. Auch der Publizist Paul Scheffer betont in seinem Artikel "Het multiculturele drama" (2000) die schlechte sozioökonomische Situation der Einwanderer in den Niederlanden. Laut Scheffer hat die im Namen der Minderheitenpolitik hoch gehaltene Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und ihrer anderen Lebensweise letztendlich dazu geführt, dass die niederländische Öffentlichkeit die schlechte sozioökonomische Situation einer Vielzahl der in den Niederlanden lebenden Migranten nicht wahrgenommen habe. So fordert der Publizist, Konflikte nicht nur zu tolerieren, sondern auch auszutragen.
Diesen Ruf nach einem "ehrlicheren Umgang" mit durch das Zusammenleben von Einheimischen und Migranten entstehenden Problemen, charakterisiert die niederländische Philosophin Baukje Prins (2002) als "New Realism". Der "New Realism" durchbricht gezielt bestimmte Tabus und stellt sich gegen die dominierende Political Correctness. Vertreter des "New Realism" greifen die "Sorgen des Volkes" auf und verstehen sich als dessen "Sprachrohr". In der kurzen Zeit, in der Pim Fortuyn zuerst in der Lokalpolitik Rotterdams und dann im nationalen Wahlkampf bis zu seiner Ermordung kurz vor den Parlamentswahlen 2002 aktiv war, hat er diesen "New Realism" in der niederländischen Integrationsdiskussion "salonfähig" gemacht. Als bekennender Homosexueller, der sich gegen die homophoben Äußerungen eines radikalen Rotterdammer Imams wehrte, verfügte der umstrittene Politiker Fortuyn über eine gewisse Legitimität, wenn er "keine Toleranz gegenüber den Intoleranten" forderte.
Ines Michalowski ist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster und am Centre de Sociologie des Organisations (Sciences-Po/CNRS), Paris.
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