Jede Revolution hat ihre Besonderheiten. Ging es im China der 1990er Jahre um die Meinungsfreiheit der Intellektuellen und nicht etwa die der Massen, und ging es im Iran 2009 um das Ende der politischen Korruption und nicht etwa um einen Systemwechsel, so ging es im Arabischen Frühling zunächst vor allem um die Inklusion der ökonomisch Benachteiligten – und nicht so sehr um Demokratie. Die Selbstverbrennung eines tunesischen Gemüsehändlers trat die Revolution in Tunesien los, und der Streik der Textilarbeiter im Nildelta im Jahre 2008 wird als ein Wegbereiter für den Umsturz in Ägypten betrachtet. Diese Ereignisse waren vor allem auch ein Kampf um ein gerechtes ökonomisches System, um Teilhabe an Chancen und Ressourcen und um die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Das sowohl im Westen als auch in den arabischen Ländern selbst weitverbreitete Missverständnis, es ginge vor allem um politische Reformen und nicht um ökonomische, ist dann vielleicht auch der Grund dafür, dass viele Problembereiche erst gar nicht angegangen wurden: Die Hauptgründe für die Fehlentwicklungen in der arabischen Welt sind der ungenügend herausgebildete private Wirtschaftssektor, ein unzureichender Binnenmarkt sowie die mangelnde regionale Integration der nationalen Ökonomien.
Das Wesen des gegenwärtigen arabischen polit-ökonomischen Systems gleicht einer Staatswirtschaft mit dominantem öffentlichem Sektor und aufgeblähter Verwaltung. Der private Sektor ist schwach und vom öffentlichen Sektor abhängig, viele wirtschaftliche Aktivitäten finden im informellen Bereich statt, ohne Arbeitsverträge und jegliche Form der sozialen Absicherung. Der Staat tritt in einer fatalen Doppelfunktion in Erscheinung, die nicht auflösbar erscheint: Er muss für Investitionen sorgen, weil private Unternehmen fehlen, gleichzeitig behindert er aber durch seine Dominanz und durch die Selbstprivilegierung der Eliten eine Weiterentwicklung der Ökonomie durch private Initiativen. In früheren Entwicklungsländern wie Taiwan und Südkorea, die dieses Dilemma überwanden, mussten deshalb der Staat und seine Elite erst entmachtet werden, damit sich ein privater Sektor entwickeln konnte – und auch offenere, demokratischere Strukturen, um diese ökonomische Teilhabe abzusichern. Wie wichtig diese Transformation ist, erkennt man beim Vergleich von Südkorea und Ägypten: Bis 1960 hatten beide Länder ein gleich hohes Bruttoinlandsprodukt, während davon heute keine Rede mehr sein kann.
Die arabische Welt hatte auch keine erfolgreichen »Modernisierungsdiktatoren«, die ökonomische Reformen mit autoritären Mitteln umsetzten, wie Augusto Pinochet in Chile, Lee Kuan Yew in Singapur oder Deng Xiaoping in China. Stattdessen unterblieben in der arabischen Welt weitgehende ökonomische und politische Reformen: Die Wirtschaftspolitik zielte vor allem darauf ab, die herrschende Staatsklasse und ihr nahestehende Unternehmer zu bevorzugen, während kritische Gruppen isoliert oder kooptiert, also in das System eingebunden wurden unter der Maßgabe, den Widerstand aufzugeben. Die daraus resultierende politische und ökonomische Stagnation ließ Beobachter im Westen an eine fast schon genetische Disposition der Araber zum Despotismus glauben, eine Wahrnehmung, die sich gut in den rassistisch gefärbten Diskurs vom »Kampf der Kulturen« einordnete. Diese Lähmung war allerdings auch der Unterdrückung progressiver Strömungen in den arabischen Ländern geschuldet, durch die im Kalten Krieg die Ausbreitung des Kommunismus verhindert werden sollte – mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Mächte.
Zäune statt Handelswege
Gleichzeitig betrachteten Nationalbewegungen die Unternehmer in der Regel nicht als Verbündete; die sozialistische Rhetorik in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit belegt dies. Die Epoche des Nationalismus hat den arabischen Wirtschaftsraum zerrissen und die Märkte fragmentiert: Die Möglichkeiten des Warenverkehrs sind heute geringer als zur Zeit des Osmanischen Reichs. Die alten Eisenbahnlinien und Handelswege zwischen Medina, Damaskus und dem Mittelmeer wurden durch Grenzen unterbrochen, die für Wirtschaftstreibende unüberwindliche oder zumindest kostspielige Hindernisse darstellen. Jüngstes Beispiel ist der Oman, der nun seine Grenze zum Jemen mit einem Zaun sichern will. Der Handel, den die arabischen Länder untereinander treiben, ist deshalb bedeutungslos – er liegt gerade einmal bei zehn Prozent des Außenhandels. Das Resultat dieser Entwicklung ist niederschmetternd. Die Anzahl der registrierten Unternehmungen per 1.000 Einwohner beträgt im Mittleren Osten nur etwa ein Drittel derer in Osteuropa und Zentralasien. Selbst dort, wo private Aktivitäten florieren wie am Persischen Golf, sind diese kaum als völlig privat zu betrachten: Die Grenzen zwischen dem Staatsapparat und den wirtschaftlichen Eliten sind fließend, sodass sich in der gesamten arabischen Welt eine dünne Schicht von Akteuren mit überproportionalem Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen herausgebildet hat. Dadurch bleibt die wirtschaftliche Ungleichheit hoch und die soziale Mobilität gering. Die vorhandenen Unternehmen haben zudem größte Schwierigkeiten, sich extern zu finanzieren. In der Region erhalten kleine und mittlere Unternehmen nicht einmal acht Prozent des gesamten vergebenen Kreditvolumens. Selbst im vergleichsweise reichen Algerien gab die Hälfte der Firmen an, Schwierigkeiten bei der externen Finanzierung zu haben.
Darüber hinaus ist eine Schattenökonomie entstanden, die jene wirtschaftlichen Aktivitäten umfasst, die vom Staat weder reguliert noch besteuert werden, dies betrifft oft den Straßenhandel oder kleinere Handwerksbetriebe. Dieser Sektor hat signifikante Ausmaße erreicht – in Jordanien sind 26 Prozent der Arbeitsplätze in diesem Bereich entstanden, in Marokko 44 Prozent. Der Internationale Währungsfonds erklärt diese starke Rolle der Schattenwirtschaft in der arabischen Welt vor allem mit bürokratischen Hürden bei Firmengründungen und den »exzessiven« Arbeitsmarktregelungen: So führe unter anderem der Kündigungsschutz in vielen arabischen Ländern zu informellen und fragilen Anstellungsverhältnissen beziehungsweise fragiler Selbstständigkeit. Infolge sind die Betroffenen den Schikanen ihrer Arbeitgeber oder öffentlicher Stellen ausgesetzt.
Das Ende des Anfangs: Unruhen und ökonomischer Niedergang
Zudem kann die Schattenwirtschaft einen fehlenden leistungsfähigen privaten Sektor und Binnenmarkt nicht kompensieren, da sie von technologischen Innovationen und Investitionen abgeschnitten ist. Im informellen Sektor verdienen die Arbeiter häufig so wenig, dass sie den Binnenkonsum nicht ankurbeln können. Dazu kommt die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Diese Fehlentwicklungen konnten bisher nur durch den Export von natürlichen Ressourcen kompensiert werden. Ölexporte machen den Großteil der Exporteinkommen aus – und wo kein Öl vorhanden ist, treten ausländische Hilfszahlungen an diese Stelle: Pro Einwohner gerechnet, beziehen die Staaten der arabischen Welt die weltweit höchste Summe an Entwicklungshilfe. Die Lage der arabischen Wirtschaft wurde durch die politischen Umstürze nicht verbessert. Im Gegenteil: Erfahrungen aus anderen Ländern, die solche Prozesse durchlaufen haben, versprechen auch in der nächsten Zeit eine negative wirtschaftliche Entwicklung. Das BIP dürfte in den ersten fünf Jahren nach den Umstürzen um eins bis sieben Prozent schrumpfen. Dies gilt vor allem für die Revolutionsländer, während die Wirtschaftsleistung in weniger turbulenten Ländern wie Jordanien und Marokko ungefähr gleich blieb. Die Arbeitslosigkeit stieg in den ersten beiden Jahren nach Ausbruch der Unruhen im Schnitt um jeweils etwa 1,5 Prozent und dürfte erst um etwa 2020 wieder auf dem vorrevolutionären Niveau ankommen. Eine rasche Erholung ist nicht in Sicht, auch weil die externe Nachfrage – etwa aus Europa – schleppend ist.
Paradoxerweise wären Reformen zur Stärkung des privaten Sektors und zur Integration wohl weniger kostspielig als die Stützung des bisherigen Zustands. Diese Reformen scheinen bislang aber weder von den arabischen Regierungen noch von ihren Unterstützern im Westen angestrebt zu werden. Auch die Vergrößerung der Märkte muss ein Ziel sein. Tatsächlich scheint es aber bisher die Strategie der WTO und der Weltbank zu sein, die Länder einzeln in den Welthandel einzubinden. Es gibt allerdings keinen Beweis dafür, dass eine derartige Integration bessere Ergebnisse erzielt als eine regionale, also eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der arabischen Staaten etwa durch die Vereinbarung niedrigerer Zölle oder gar die Schaffung eines regionalen Binnenmarktes.
Die Eliten in der Region haben allerdings kein Interesse an einer regionalen Integration. Denn diese erfordert ein gewisses Maß an Transparenz, und das würde ihre Korruptionseinnahmen gefährden. Auch die Fortführung der bestehenden Entwicklungshilfeprogramme stärkt diese Eliten, sie kommen in erster Linie den von ihnen kontrollierten Staatshaushalten zugute. Im Vordergrund von Reformen müssten aber die Stärkung des privaten Sektors und des nationalen Binnenmarkts stehen, etwa durch die Verbesserung der finanziellen und wettbewerbspolitischen Situation der kleinen und mittleren Unternehmen. Gleichzeitig muss die Unter- und Mittelschicht vor steigenden Nahrungsmittel- und Rohstoffpreisen geschützt werden.
Neben den wirtschaftspolitischen Problemen gibt es noch ein zweites großes Thema: Der arabische Bildungssektor produziert zumeist Abschlüsse, die für den privaten Sektor irrelevant sind. Stattdessen sollte praktisches betriebswirtschaftliches, technologisches und soziales Wissen punktgenau aufgebaut werden: Ohne Veränderungen im Bildungssystem kann eine Umwälzung der Wirtschaft nicht funktionieren.
Dieser Artikel ist erschienen in: Gerlach, Daniel et al.: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Zeitbild, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 44-47.