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Die EU -Mittelmeerpolitik | bpb.de

Die EU -Mittelmeerpolitik Anspruch und Wirklichkeit

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Gute Regierungsführung und die Wahrung der Menschenrechte wollte die EU südlich und östlich des Mittelmeers fördern. In der Praxis bestimmen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen ihr Handeln.

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy – Deutschland und Frankreich waren sich uneinig über die künftige Mittelmeerpolitik der EU. (© picture-alliance/dpa)

Zu Beginn der 1990er Jahre nahmen die EU-Staaten den Mittelmeerraum vor allem als Bedrohung für die eigene Sicherheit wahr – wegen des wachsenden Migrationsdrucks und der Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus. Außerdem fürchteten Frankreich und die anderen südlichen EU-Mitglieder, in ihrer Sorge um die Länder jenseits des Mittelmeers im Stich gelassen zu werden. Die restlichen EU-Staaten – allen voran Deutschland – konzentrierten sich seinerzeit vornehmlich auf den Ausbau der Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern.

Die im November 1995 aus der Taufe gehobene Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP) erweiterte die bisher hauptsächlich bilaterale Zusammenarbeit mit den Mittelmeeranrainern sowohl um eine regionale Dimension – die Partnerstaaten wurden fortan als zusammenhängender Raum betrachtet – als auch um einen politischen und sozialen Kooperationsansatz. Die "Mittelmeerdrittländer" umfassten zu diesem Zeitpunkt Ägypten, Algerien, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien, die Palästinensischen Gebiete und Israel sowie Tunesien, Malta und Zypern. Gemäß der Erklärung von Barcelona zielte die EMP darauf ab, einen "gemeinsamen Raum des Friedens und der Stabilität" ebenso wie eine "Zone des gemeinsamen Wohlstands" zu errichten und das "gegenseitige Verständnis unter den Völkern" zu fördern.

Den rechtlichen Rahmen bildeten bilaterale Assoziierungsabkommen, die im Kern eine Liberalisierung des Güterhandels festschrieben. Die dafür in den Partnerländern erforderlichen Reformen sollten durch substanziell ausgeweitete finanzielle Mittel aus dem EU-Haushalt und Kredite der Europäischen Investitionsbank unterstützt werden. Die ambitionierten Ziele der EMP stellten sich jedoch rasch als schwer umsetzbar heraus. Die Gründe dafür reichten von der Stagnation des Nahost-Friedensprozesses über die Anschläge vom 11. September 2001 bis zu den strukturellen Problemen außenpolitischer Entscheidungsfindung in der EU und dem mangelnden Kooperationswillen der Regierungen der Mittelmeerländer. Darüber hinaus zeichneten komplexe Verhandlungsprozesse und widerstreitende Interessen dafür verantwortlich, dass die Ratifizierung der Assoziierungsabkommen wesentlich mehr Zeit in Anspruch nahm als ursprünglich erwartet. Somit fiel die für 2010 geplante Euro-Mediterrane Freihandelszone ins Wasser.

Im Zuge der Erweiterung um zehn neue Mitglieder im Jahr 2004 rief die EU mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) eine neue außenpolitische Initiative ins Leben, die nach einem anfänglichen Fokus auf die östlichen Nachbarn auf die Mittelmeerdrittländer ausgedehnt wurde. Die Umsetzung der ENP erfolgte anhand von Aktionsplänen, die zwischen der EU und jedem Nachbarland bilateral ausgehandelt wurden. Idealtypisch boten diese einen "maßgeschneiderten Reformkatalog" in unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Handel und Marktwirtschaft oder bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, Verkehr und Energie. Dafür veranschlagte die EU für den Zeitraum 2007 bis 2013 Hilfen im Umfang von über 11 Milliarden Euro, nebst zinsgünstigen Krediten der Europäischen Entwicklungsbank.

Sicherheit und Handelsliberalisierung statt euro-mediterraner Vision

Vergeben werden sollten die Mittel – ebenso wie die den Nachbarn prinzipiell in Aussicht gestellte, aber inhaltlich nie genau spezifizierte "Teilhabe" am europäischen Binnenmarkt – gemäß den Grundsätzen des "differenzierten Bilateralismus" und der "positiven Konditionalität". Da diese Prinzipien im Wesentlichen dem EU-Erweiterungsverfahren entlehnt sind, setzte die ENP noch stärker als die EMP auf Liberalisierung und Transformation im Sinne einer Anpassung an EU-Regeln – allerdings ohne den Nachbarländern eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Die Faktoren, die verhindert hatten, dass die EMP ihre Ziele erreichte, vermochte die Nachbarschaftspolitik damit jedoch nicht zu beseitigen.

Im Sommer 2008 wurde in Paris die Union für das Mittelmeer (UfM) ins Leben gerufen. Im Mittelpunkt dieser Initiative, der insgesamt 43 Länder angehören, stehen gemeinsame Projekte in Bereichen wie Umwelt, Bildung, Zivil- und Katastrophenschutz oder Transport und Energie, an denen sich die Mitglieder beteiligen können, aber nicht müssen. Im Vordergrund sollten konkrete Projekte stehen, etwa zur Reinigung des Mittelmeers, und nicht große politische Vorhaben wie die Umsetzung rechtsstaatliche Prinzipien. Die mit diesem Ansatz beabsichtigte "Depolitisierung der Kooperation" offenbarte sich jedoch rasch als Illusion. Dem steht der institutionelle Aufbau der UfM entgegen, der weiterhin dafür sorgt, dass die Zusammenarbeit primär von den Regierungen der Mitgliedsländer untereinander ausgehandelt wird. Zum anderen nahm das Sekretariat der Union, das die Projekte steuern soll, aufgrund politischer Querelen erst im Frühjahr 2010 die Arbeit auf.

Außerdem waren viele der mit der Gründung der UfM vorgelegten Projekte nicht neu. Sie reflektierten entweder frühere Initiativen der Europäischen Kommission, wie die Pläne, die Verschmutzung des Mittelmeers einzudämmen, oder nahmen Vorhaben wie das Wüstenstromprojekt Desertec auf, die unter deutschen und europäischen Exporteuren solcher Technologien schon länger diskutiert worden waren. Nach dem Verständnis der EU sollten Handelsliberalisierung und begleitende marktwirtschaftliche Reformen die Chancen der Mittelmeeranrainer für Wachstum und Entwicklung verbessern und auf lange Sicht auch eine Demokratisierung befördern. Entsprechend wurden in den Assoziierungsabkommen die Achtung von demokratischen Prinzipien und Menschenrechten als Ziele festgeschrieben und Handelserleichterungen und Finanzhilfen an deren Erfüllung gekoppelt.

Allerdings implizierten die Assoziierungsabkommen vornehmlich eine Öffnung der Märkte für die Konkurrenz aus der EU, da den Mittelmeerpartnern bereits in den 1970er Jahren zollfreier Zugang für ihre Industriegüterexporte auf den europäischen Markt gewährt worden war. Zugleich macht die Umsetzung solcher Handelsabkommen Reformen notwendig, die weit über den Handelsbereich hinausgehen. Die wirtschaftliche Liberalisierung beispielsweise kann zu Entlassungen führen und so neben den ökonomischen Kosten auch politische Risiken bergen. Dass sich die herrschenden Eliten in den vielfach durch Patronage und Klientelismus gekennzeichneten arabischen Mittelmeerländern auf solche Risiken einlassen würden, war von Beginn an wenig wahrscheinlich.

Daneben hat die EU nie mit konkreten Sanktionen gedroht, etwa eine Verletzung der Menschenrechte mit einer Suspendierung der Verträge zu ahnden – trotz zahlloser Verstöße. Maßnahmen der Demokratieförderung "von unten" konzentrierten sich auf eine nach Umfang und Finanzmitteln äußerst begrenzte Zusammenarbeit mit wenigen, von den Regimen geduldeten zivilgesellschaftlichen Gruppen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass der EU im Zuge des Arabischen Frühlings zur Last gelegt wurde, mit dem starken Fokus auf Handelsliberalisierung die sozioökonomischen Probleme der arabischen Staaten verschärft anstatt zu ihrer Lösung beigetragen zu haben.

Darüber hinaus warfen viele der Union vor, zu lange und zu intensiv mit den autoritären Regimen kooperiert zu haben, etwa bei der Terrorbekämpfung oder bei der "Eindämmung" illegaler Migration. Kurzum: Ende der 2000er Jahre schien die einst ambitionierte "euro-mediterrane Vision" einer völlig überdimensionierten Sicherheitskooperation gewichen zu sein, gepaart mit einer Liberalisierungspolitik, die überwiegend europäischen Wirtschaftsinteressen diente.

Die Offenbarung der EU-Interessen

Im Frühjahr 2011 wartete die Europäische Kommission mit neuen Strategiepapieren auf. Demnach soll in Zukunft im Zentrum der Bemühungen stehen, in der arabischen Welt Schritte hin zu einer "vertieften Demokratie" zu fördern. Auch soll die Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft verstärkt werden. Es gelte zudem, eine "nachhaltige und breitenwirksamere" soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Nachbarländern zu unterstützen. Dafür wurden "neue Anreize" in Aussicht gestellt: mehr Geld, mehr Markt und mehr Mobilität.

Während die EU die Nachbarschaftshilfen um zusätzliche Mittel aufstockte, deren Ausschüttung sich an tatsächlichen Reformfortschritten in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit orientieren sollte, beinhaltet "mehr Markt" im Kern die Absicht, mit ausgewählten Mittelmeeranrainern Verhandlungen über neue "tiefe und umfassende Freihandelsabkommen" aufzunehmen. "Mehr Mobilität" zielt auf bilateral auszuhandelnde Visaerleichterungen für zeitlich befristete Aufenthalte ab, insbesondere für Studierende, Wissenschaftler und qualifizierte Fachkräfte, die aber im Rahmen von "Migrations- und Mobilitätspartnerschaften" unter anderem an Abkommen zur Rückübernahme illegaler Einwanderer gebunden werden sollen. Bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass sich hinter den "neuen Anreizen" altbekannte Rezepte verbergen, die überdies kaum Erfolge verzeichnen konnten. Die EU tut sich schwer, in ihrer Regionalpolitik ausgetretene Pfade zu verlassen. Darüber hinaus haben die europäischen Reaktionen auf den Arabischen Frühling einmal mehr die mangelnde außenpolitische Handlungsfähigkeit der Union vor Augen geführt, als zum Beispiel Frankreich und Großbritannien, gestützt auf ein UN-Mandat, in Libyen militärisch eingriffen, während sich Deutschland bei der Abstimmung im Sicherheitsrat enthielt. Auch in Bezug auf den Bürgerkrieg in Syrien geht die Einigkeit unter den Mitgliedstaaten offenbar nicht über die Sanktionen hinaus, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gegen das syrische Regime verabschiedet wurden. 2015 führten die Debatten über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu keinem Ziel: die Bereitschaft der osteuropäischen EU-Mitglieder und Großbritanniens, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, war deutlich geringer als die der Regierungen in Deutschland oder Schweden. Ein Minimalkonsens der EU ist, der Türkei Geld zu zahlen bzw. in Aussicht zu stellen, damit diese dafür sorgt, dass weniger Flüchtlinge in die EU kommen. Über die "neuen Strategien" der EU hinaus beschritt die deutsche Regierung eigene Wege in den Beziehungen zu den Mittelmeerdrittländern. Mit Tunesien, Ägypten, Libyen, Marokko und Jordanien wurden 2011 sogenannte "Transformationspartnerschaften" vereinbart – sie sehen eine Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen und staatlicher Stellen vor, die am Übergang zu demokratischen Prozessen mitwirken. Trotz dieser und ähnlicher Initiativen beschränken sich die EU-Mitglieder seit 2011 immer mehr auf eine Art Zuschauerrolle in der arabischen Welt. Sie leisten zwar dringend notwendige Hilfen, so erhielten Jordanien und der Libanon bis Ende 2015 mehr als vier Milliarden Euro von der EU für die Betreuung von Flüchtlingen. Initiativen, die den Gang der Dinge in den arabischen Partnerstaaten maßgeblich beeinflussen, wurden aber seither von der EU und ihren Mitgliedern nicht auf den Weg gebracht. Die "alten Rezepte" einer wirtschaftlichen Öffnung gegenüber und rechtlichen Annäherung an die EU verlieren so zunehmend an Anziehungskraft. Will die EU in dieser Nachbarregion in Zukunft wieder stärker gestaltend mitwirken, wird sie nicht umhinkommen, ihre Partner- und Nachbarschaftspolitik grundlegend zu überdenken.

Dieser Artikel ist erschienen in: Gerlach, Daniel et al.: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Zeitbild, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 297-298.

Fussnoten