Die Deutschen und der Völkermord
Osmanisch-deutsche Allianzen
Jürgen Gottschlich
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Nicht nur für die Türken, auch für die entscheidenden deutschen Militärs waren die Armenier potentielle Kollaborateure mit dem Feind, schreibt Jürgen Gottschlich. Deshalb glaubte beispielsweise Marineattaché Hans Humann wie sein Freund Enver Pascha, die Armenier würden die Türkei auf Dauer schwächen. Und hielt den Massenmord für "hart, aber nützlich". Schließlich wollte die Reichsregierung keinen Ärger mit der türkischen Führung.
"Gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen"
Am 7. Juli 1915 schickte der damalige deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, einen Bericht nach Berlin. Aus diesem Bericht geht klar hervor: die deutschen Diplomaten und Militärs im Osmanischen Reich wussten, dass an der armenischen Minderheit ein Völkermord stattfindet.
"Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird", schrieb Wangenheim an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, zeigten, "dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten".
Dieser Bericht des Botschafters war aus drei Gründen bemerkenswert: zum einen weil er zugab, dass die Führung des Osmanischen Reiches, einer der wichtigsten deutschen Verbündeten im Ersten Weltkrieg, gerade einen Völkermord an der christlichen armenischen Minderheit durchführen ließ; zweitens, dass ausgerechnet Botschafter Freiherr von Wangenheim den Völkermord als solchen benannte – hatte er doch bis dahin die Maßnahmen der türkischen Führer gegen die Armenier immer verteidigt - und drittens, wegen der Konsequenzen, die Wangenheim aus seiner Erkenntnis zog, denn er machte Vorschläge wie verhindert werden könnte, dass das Image von Deutschland durch den Völkermord in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Vorschläge zur Rettung der Armenier machte er nicht.
Der Juli 1915 ist deshalb der entscheidende Zeitpunkt, ab dem das Deutsche Kaiserreich sich mitschuldig am Genozid an den Armeniern machte. Bis zum Juli 1915 konnte man noch davon ausgehen, dass die deutschen Vertreter in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) nicht wussten, was wirklich mit den Armeniern geschah. Offiziell war ja nur die Rede davon, die armenische Zivilbevölkerung aus kriegswichtigen Regionen zu deportieren, etwa entlang der Frontlinie zu Russland, oder aus den Küstengebieten am Mittelmeer, wo die deutschen und türkischen Kriegsplaner eine Landung der englischen und/oder französischen Flotte befürchteten.
Die türkische Führung und hohe deutsche Offiziere, die im Generalstab der osmanischen Armee an entscheidender Stelle über die Planung des Krieges mitbestimmten, gingen davon aus, dass die armenische Minderheit mit dem Feind sympathisierte wie übrigens die anderen christlichen Minderheiten der Griechen und Aramäer auch. Deshalb sollten sie in Gebiete gebracht werden, wo sie keinen "Schaden" anrichten würden. Die sogenannten Umsiedlungsaktionen der armenischen Zivilbevölkerung, also die Vertreibung aus ihren Häusern, Dörfern und von dem Land, auf dem sie seit Generationen lebten, begannen im April 1915.
Schon im Mai erreichten den Botschafter Berichte verschiedener Konsulate aus dem Osten und Süden des Landes, dass bei diesen Deportationen wenig Rücksicht auf die Menschen, zumeist Frauen, Kinder und ältere Männer, genommen würde. Der Vize-Konsul aus Erzerum, Max Erwin von Scheubner-Richter, berichtete von katastrophalen Zuständen auf dem Marsch der Vertriebenen nach Süden. Hungernde Frauen und Kinder hätten sich vor seinen Wagen geworfen und um Brot gebettelt. Die Vertriebenen konnten zumeist nur wenig mitnehmen und wurden darüber hinaus oft auch noch ausgeraubt. In Berichten aus Konsulaten im Süden hieß es, Leichen von Armeniern würden den Euphrat und Tigris hinab angeschwemmt, offenbar fanden während der Deportationszüge Massaker an den Armeniern statt. Diese Berichte verdichteten sich dann im Juni 1915 soweit, dass auch Botschafter Wangenheim schließlich nicht mehr umhin konnte festzustellen, dass es den türkischen Machthabern offenbar darum ging "die armenische Rasse" zu vernichten.
Nach heutigen Maßstäben hätte Wangenheim spätestens jetzt im Namen des Deutschen Reiches massiv gegen diesen Völkermord protestieren und notfalls Konsequenzen androhen müssen, wenn das Morden nicht gestoppt wird. Doch nichts dergleichen geschah.
Bis auf zwei Protestnoten, die, wie Wangenheim selbst zugab, vor allem dazu dienen sollten, später sagen zu können, man habe ja protestiert, passierte gar nichts. Im Gegenteil, hohe deutsche Militärs wie Generalstabschef Fritz Bronsart von Schellendorf, Admiral Wilhelm Souchon und Marineattache` Hans Humann, unterstützten die türkischen Machthaber ausdrücklich bei der Vernichtung der Armenier. Bronsart von Schellendorf nannte die Armenier "Blutsauger am türkischen Volkskörper", die schlimmer seien als die Juden; Admiral Souchon notierte in seinem Tagebuch, "für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat"; und Marineattaché Hans Humann, der mit einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord, Kriegsminister Enver Pascha, eng befreundet war, schrieb auf einen Bericht des deutschen Konsul in Mossul, der die Massaker an den Armeniern beklagte, das sei "hart aber nützlich".
Als dann doch noch ein deutscher Spitzendiplomat sich für die Armenier einsetzen wollte, wurde es ihm von höchster Stelle verboten. Nachdem Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim überraschend im Oktober 1915 an einem Schlaganfall gestorben war, kam im November mit Paul Graf Wolff Metternich ein neuer Botschafter nach Konstantinopel, dem das Schicksal der Armenier nicht gleichgültig war. Metternich forderte im Dezember 1915 in einem Bericht nach Berlin, die deutsche Öffentlichkeit müsse endlich erfahren, was mit den Armeniern im Osmanischen Reich passiert, und die deutsche Regierung müsse endlich ernsthaft mit Sanktionen drohen, um das Morden zu stoppen: "Um in der Armenier-Frage Erfolg zu haben", schrieb er nach Berlin, "müssen wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflößen". Geschähe dies nicht, bliebe nichts anderes übrig als "zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert".
Doch Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wollte davon nichts wissen. Kategorisch entschied er: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Krieg werden wir die Türken noch sehr brauchen." Man muss einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges werfen, um zu verstehen, warum das Deutsche Kaiserreich den Völkermord an den Armeniern geschehen ließ, ja warum einige deutsche Soldaten sich sogar aktiv daran beteiligten.
Das Osmanische Reich war nicht zufällig ein wichtiger Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Bereits Jahrzehnte vor Kriegsausbruch war das schwächelnde Imperium am Bosporus von deutscher Seite als strategischer Partner aufgebaut worden. Während England und Frankreich Kolonien besaßen und Russland im 19. Jahrhundert immer aggressiver nach Sibirien, in den Kaukasus und nach Zentralasien expandierte, stand Deutschland als zu spät gekommene Nation nach der Reichseinigung 1871 mit leeren Händen da. Das führte schon bald dazu, dass sich das ökonomisch rasant wachsende Deutschland auch nach einem "Platz an der Sonne" umschaute, wie Reichskanzler Bernhard von Bülow es 1897 formulierte. Um zu den anderen Kolonialmächten aufzuschließen, versuchte Deutschland zudem, seinen Einflussbereich im Orient zu erweitern, wenn auch nicht unbedingt als Kolonialmacht. Das riesige Gebiet des Osmanischen Reiches, das sich Ende des 19.Jahrhunderts noch vom Balkan über Anatolien und Mesopotamien bis nach Palästina und Ägypten erstreckte, konnte der Sultan allein nicht mehr halten. Um den Niedergang seines Reiches zu stoppen, bot Deutschland sich an, ihm unter die Arme zu greifen und dafür wirtschaftliche und militärische Vorzugskonditionen zu bekommen.
Ausdruck dieser Politik war eine ständig wachsende Anzahl von deutschen Militärberatern, die ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges auch aktive Posten im osmanischen Heer übernahmen, und der Bau der Bagdadbahn, mit der Deutschland eine durchgehende Bahnlinie von Berlin bis zum Persischen Golf schaffen wollte, um Güter und Truppen schnell in den Orient transportieren zu können und Rohstoffe nach Deutschland zu bringen.
Als dann der Krieg begann, war die Türkei für Deutschland aus mehreren Gründen wichtig: man wollte England vom Osmanischen Reich aus in Ägypten und in Persien angreifen und den Russen die Durchfahrt vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer sperren und damit die Verbindung zu den westlichen Alliierten kappen. Das Osmanische Reich war die geographische Grundlage für den deutschen Großmachtstraum, der letztlich darauf zielte, dass Deutschland zu einer gleichrangigen Weltmacht mit Großbritannien werden würde.
Dieser Großmachttraum war der eigentliche Grund für die deutsche Mithilfe zum Völkermord an den Armeniern. Die armenische Elite im Osmanischen Reich war über Jahrzehnte auf französische, englische oder amerikanische Missionsschulen gegangen und deshalb sehr auf diese Mächte orientiert. England, Frankreich und Russland hatten sich wiederholt – wenn auch letztlich ohne Erfolg – für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Armenier engagiert, nicht aber der deutsche Kaiser.
Nicht nur für die Türken, auch für die entscheidenden deutschen Militärs waren die Armenier deshalb potentielle Kollaborateure mit dem Feind. Selbst der Chef der deutschen Militärmission, Otto Liman von Sanders, der sich in seinem Befehlsbereich an der Ägäisküste für die dortige armenische Bevölkerung verwandt hatte und deshalb unverdächtig ist, ein Armenierhasser gewesen zu sein, schrieb später in seinem Buch "Fünf Jahre Türkei": "Die Handhabung zu den Ausweisungen (Deportationen) bot sich an vielen Stellen an, da die Armenier oft mit den eindringenden Russen gemeinsame Sache gemacht hatten und ihnen so manche Grausamkeiten gegen die mohammedanische Bevölkerung nachzuweisen war." Ohne eigene Erfahrungen über die Situation an der Ostfront gibt er damit die unter den deutschen Befehlshabern gängige Auffassung wieder. Engländer, Franzosen und Russen galten als Schutzmächte der Armenier, und als diese Schutzmächte bei Kriegsausbruch ihre Diplomaten aus Konstantinopel abziehen mussten, weigerte sich der deutsche Botschafter Wangenheim gegenüber dem armenischen Patriarchen als "einzige am Bosporus verbliebene christliche Macht" eine besondere Schutzfunktion für die Armenier zu übernehmen. "Wir würden sonst Gefahr laufen, wichtigere und uns näher liegende Interessen aufs Spiel zu setzen", kabelte er in einem Bericht nach Berlin im April 1915.
Das Osmanische Reich war bei Kriegsbeginn eine konstitutionelle Monarchie, in der die Macht Sultan Mehmets V. weitgehend beschränkt war. Die eigentliche Macht lag in den Händen eines Triumvirats bestehend aus Kriegsminister Enver Pascha, Innenminister Talaat Pascha und Marineminister Djemal Pascha. Vor allem Talaat und Enver Pascha waren es, die den Krieg nutzen wollten, um die "armenische Frage" endgültig zu lösen – also die Armenier systematisch zu töten oder aus dem Reich zu vertreiben.
Der deutsche Generalstabschef des türkischen Heeres, der preußische Generalleutnant Fritz Bronsart von Schellendorf, hatte mit dem Massenmord an den Armeniern schon deshalb kein Problem, weil er die Engländer hasste und die Armenier als Schutzbefohlene der Engländer sah. Er beteiligte sich an der Planung der Deportationen und ordnete wohl auch selbst Deportationen an. Auch Marineattaché Hans Humann glaubte wie sein Freund Enver Pascha, die Armenier würden die Türkei auf Dauer schwächen, deshalb hielt er den Massenmord für "hart aber nützlich".
Die Reichsregierung schließlich wollte keinen Ärger mit der türkischen Führung wegen einer Minderheit, die angeblich eher auf England und Frankreich, als auf Deutschland setzte. Dafür wollten sie keinen Bruch mit der Türkei riskieren, ein Bruch, der das Ende des Traums vom deutschen Orient und deutscher Weltmacht bedeutet hätte.
Literatur:
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Kieser, Hans Lukas, Schaller, Dominik (Hg), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoa, Zürich 2002.
Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Wien 1933.
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Jürgen Gottschlich, Auslandskorrespondent in Istanbul und Autor des Buches "Beihilfe zum Mord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier".
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