Der Völkermord an den Armeniern im Schulunterricht
Martin Stupperich
/ 11 Minuten zu lesen
Link kopieren
Der Völkermord an den Armeniern ist in keinem bundesrepublikanischen Lehrplan explizit als verpflichtendes Thema enthalten. Es liegt am Engagement der Lehrer, das Thema trotzdem im Unterricht zu setzen. Dabei stoßen sie laut Martin Stupperich allerdings immer wieder auf massiven Widerstand türkischer Eltern. Wie kann eine schulische Bearbeitung des Themas funktionieren?
Der Lehrer einer deutschen Schule, der sich im Unterricht mit der Thematik des Armeniergenozids befassen möchte, steht vor mehreren Problemen:
Fast überall in Deutschland stellen die Kinder von Migranten und insbesondere türkischstämmige Schülerinnen und Schüler einen erheblichen Prozentsatz der Klassenpopulation dar. Sie und vor allem ihre Eltern folgen zu einem signifikanten Anteil (so die Einschätzung des Autors; Anm. d. Red.) der offiziellen türkischen Staatsdoktrin, der zufolge es niemals einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe.
Der Völkermord an den Armeniern ist in keinem bundesrepublikanischen Lehrplan explizit als verpflichtendes Thema enthalten – entweder, weil man in den Lehrplankommissionen bereits gemäß der oben skizzierten Problemlage die Schere im Kopf hatte, oder aber, weil über das Thema in Deutschland generell wenig Wissen existiert. Das Thema Armeniergenozid kann somit nur auf der Basis eines persönlichen Engagements der Lehrkraft in den Unterricht eingebracht werden. Da aber türkische Eltern sich bisweilen nicht scheuen, Lehrern, die diesen Inhalt in den Unterricht tragen, offen zu drohen – was eigene Erfahrungen und die anderer belegen – ist die Bereitschaft unter Lehrern, den Armeniergenozid dennoch zu unterrichten, gering.
Die durch ein gegensätzliches Nationalempfinden geprägten Voraussetzungen eines Unterrichts zum Thema "Völkermord an den Armeniern" sind eine starke Hemmschwelle für die Unterrichtenden.
Der Unterricht über den Holocaust trifft unter den Schülerinnen und Schülern aus Migrantenfamilien oft auf den Vorbehalt, diese Thematik gehe sie nichts an, der Völkermord an den Juden betreffe nur die Deutschen. Ein Unterricht, der den türkischstämmigen Schülern ein Wissen darüber vermittelt, dass auch am Anfang ihrer Nationalgeschichte ein Völkermord steht, läuft Gefahr, zur inneren Abschottung dieser Schüler zu führen und somit erfolglos zu bleiben.
Die türkische Staatsdoktrin zum Schicksal der Armenier als Unterrichtshindernis
Bereits in der Zeit der türkischen Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg wurde durch Mustafa Kemal "Atatürk"die Parole ausgegeben, den Völkermord an den Armeniern habe es nie gegeben. Er wusste, dass es sich anders verhielt, glaubte jedoch den nationalen Zusammenhalt der Türken als Staatsvolk zu gefährden, wenn bereits an der Wiege der neuen türkischen Nation eine schwere Hypothek in Gestalt eines kollektiven Verbrechens stehe. Die offizielle These der türkischen Führung enthielt die Behauptung, das Volk der Armenier habe mit dem russischen Feind kollaboriert und sich beim Aufstand von Van 1915 mit Waffengewalt gegen die türkische Armee gestellt (tatsächlich handelte es sich damals um einen Akt der Selbstverteidigung). Die armenischen Toten dieser Kämpfe seien somit Kriegsgefallene und die Deportation aller Armenier infolgedessen eine Kriegsnotwendigkeit gewesen. Die im Verlauf der Deportationsmärsche Gestorbenen, seien lediglich Krankheiten oder Unfällen zum Opfer gefallen.
Sofern die Menschen später nichts anderes erfuhren, musste diese Version einleuchten. Da die türkische Position unter Atatürk zur Staatdoktrin weiterentwickelt wurde, erhielten auch die türkischen Schulen die lehrplanmäßige Anweisung der Schülerschaft die offizielle Version zu vermitteln, einen Völkermord an den Armeniern habe es nie gegeben. Allenfalls sei dies Gräuelpropaganda der Feinde von ehedem. Mit dieser offiziellen Version in den Köpfen zogen schon die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland. Da auch ihre Kinder im Schulunterricht nichts zum Armeniergenozid erfuhren, konnten sie bei den von den Eltern vermittelten Voreinstellungen bleiben, die je länger, desto unerbittlicher hafteten.
Der Armeniergenozid in deutschen Lehrplänen und Schulbüchern
Ohne die strikte Pressezensur durch die Reichsregierung und die Oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, ist das bis heute in Deutschland verbreitete Nichtwissen zum Völkermord an den Armeniern, dem erst in den letzten Jahren teilweise entgegengewirkt werden konnte, nicht erklärbar. Selbst die Forderung des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Graf Wolf-Metternich, die türkischen Gräueltaten an den Armeniern in der deutschen Presse öffentlich anzuprangern, wurde durch Reichskanzler von Bethmann Hollweg zurückgewiesen. Dieser wollte unter keinen Umständen dem Kriegsverbündeten mit Anklagen in den Rücken fallen, selbst wenn dadurch Armenier zugrunde gingen. Lediglich die von Martin Rade herausgegebene Zeitschrift "Die Christliche Welt" veröffentlichte die Berichte von Pfarrer Johannes Lepsius über die Mordaktionen gegen die Armenier, die doch immerhin christliche Glaubensbrüder seien. Kurzzeitig erregte der Prozess gegen den armenischen Attentäter Salomon Tehlirjan in Deutschland Aufsehen, doch auch dieses Ereignis vermochte es nicht, das vorherrschende Nichtwissen bzgl. des Völkermordes in Deutschland dauerhaft zu durchbrechen. Demgegenüber wusste Adolf Hitler viel über den Völkermord an den Armeniern, Max Erwin von Scheubner-Richter, einer seiner engsten Mitstreiter aus der Zeit der frühen Zwanzigerjahre (erschossen beim Marsch auf die Feldherrnhalle 1923), war einer der deutschen Konsuln im Osmanischen Reich gewesen, die regelmäßig aus erster Hand über den Völkermord berichtet hatten. Hitler scheint bei der Planung der Judenvernichtung aus dem Schweigen über den Armeniermord geschlossen zu haben, dass auch bei der Ermordung der Juden geschwiegen werde.
Tatsächlich führte der Holocaust dazu, dass das Mordgeschehen im Osmanischen Reich 1915 vollends überdeckt wurde, ein Zustand, der bis in die 1990er Jahre anhielt. Erst das deutsch-französische Geschichtsbuch von 2008, das von einer hochkarätigen Kommission aus beiden Ländern erarbeitet wurde, brachte den Völkermord an den Armeniern, wenn auch in recht knapper Form, für den Geschichtsunterricht auch in deutschen Schulen wieder zu Bewusstsein. Das Buch wurde aber nur in wenigen Schulen eingeführt.
Brandenburg war das einzige Bundesland, das den Genozid an den Armeniern in den Lehrplan aufgenommen hatte. Auf Druck des türkischen Botschafters, der es sich nicht nehmen ließ, beim brandenburgischen Ministerpräsidenten persönlich zu intervenieren, wurde der Völkermord an den Armeniern jedoch bald wieder aus dem Lehrplan verbannt. Heute heißt es lediglich noch allgemein, im Unterricht soll über Völkermorde gesprochen werden. Welches Beispiel der Lehrer dabei wählt, bleibt ihm überlassen. Es führte damals zwar zu einigem Aufsehen und auch öffentlichen Anklagen, der Ministerpräsident sei den Türken gegenüber "in die Knie gegangen", um deutsche Wirtschaftsinteressen nicht zu gefährden. Erleichtert aber wurde der Vorgang dadurch, dass die Bundesrepublik Deutschland noch nicht zu den Ländern gehörte, die den Armeniergenozid offiziell als Völkermord eingestuft hatten. Als Ersatz beeilte sich das Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg (LISUM) eine Handreichung für Lehrer zu erstellen, die die entstandene Lücke wieder füllte.
Der Völkermord an den Armeniern im Unterrichtsvollzug
Dass türkische Eltern oft schon im Vorfeld eines geplanten Unterrichts über den Völkermord an den Armeniern Druck auf Lehrer ausüben, wird vielfach bestätigt. Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinden in Deutschland, verlangte im September 2015 vom Land Brandenburg die Bezeichnung der Massaker an den Armeniern als Genozid aus dem Lehrplan streichen zu lassen. Dies gefährde den "inneren Frieden". Außerdem wollte er 2009 eine in Potsdam geplante Gedenkstätte für Johannes Lepsius, der die erste große Dokumentation des Völkermordes an den Armeniern veröffentlichte, verhindern.
Lehrer, die sich trotz all dieser Widerstände an das Thema Genozid an den Armeniern im Unterricht wagen, werden in Klassen mit einer teilweise türkischstämmigen Schülerschaft auf ein unterschiedliches Nationenverständnis stoßen. Während in Deutschland die Aufarbeitung des Nationalsozialismus über Jahrzehnte sowohl auf institutioneller als auch gesellschaftlicher Ebene zu einem distanzierten Verhältnis zur eigenen Nation geführt hat, verhält es sich in der Türkei fast umgekehrt: Das Nationenverständnis ist auf das Engste verwoben mit der Staatsgründung; dabei ist das – vor allem staatlich vermittelte – Selbstbild der eigenen Nation fast durchweg positiv besetzt. Kritische Stimmen, auch aus der Türkei, finden daher keinen mehrheitlichen Zuspruch. Dies spiegelt sich dann meist auch in den Schulen bei Türken der dritten Generation wider: Die Überzeugung, ein Völkermord durch Angehörige der eigenen Nation sei regelrecht undenkbar. Wer also den historischen Befund, es habe sich 1915 um einen Völkermord gehandelt, türkischstämmigen Schülern gegenüber feststellt, muss damit rechnen, auf massive Zurückweisung zu stoßen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht leicht, zwischen den verschiedenen Erinnerungskulturen Brücken zu bauen.
Diese Situation stellt Lehrerinnen und Lehrer vor ein schwer lösbares Problem. Als Autoritätsperson mit dem üblichen "Wissensvorsprung" stellt er die ablehnend reagierenden Schüler vor die Aussicht, die eigenen Eltern könnten im Fall des Völkermords an den Armeniern womöglich im Unrecht sein. Schüler reagieren auf diese "überwältigende" Erkenntnis mit Hilflosigkeit und Verstockung. Genau dieses Vorgehen aber ist Lehrern verboten, seit der sog. Beutelsbacher Konsens von 1976 die Überwältigung von Schülern untersagt. Überrumpelte Schüler werden nicht zur Selbstreflexion und zur kritischen Distanz geführt, sondern suchen Wege des Selbstschutzes. Die Eltern, die ihnen am nächsten stehen, werden die Leugnung des Genozids dann erneut befestigen und vermutlich in offener Empörung bei der Lehrkraft vorstellig werden, um sich eine weitere Behandlung dieses Stoffes im Unterricht zu verbitten. Dies könnte der psychosoziale Hintergrund der Berichte über Elternproteste türkischstämmiger Eltern in den Schulen bei Behandlung des Genozids an den Armeniern im Unterricht sein.
Empfehlung eines schulischen Weges in einen deutsch-türkischen Völkermordkonsens
Natürlich ist es richtig, im Geschichtsunterricht die Quellen sprechen zu lassen. Diese Quellen liegen glücklicherweise in einer für alle zugänglichen Form vor. Der Interner Link: Publizist Wolfgang Gust hat den auf den Völkermord an den Armeniern bezogenen Teil des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes ausführlich veröffentlicht. Hier finden sich sehr beeindruckende, aber z. T. auch insbesondere für Jugendliche sehr schwer verdauliche Texte, die den Lehrer zur gezielten Auswahl nötigen. Diese Quellen, die den Leser u. U. innerlich erschlagen, sollten nicht unvorbereitet im Unterricht eingesetzt werden.
Stattdessen wäre die Völkermordthematik zunächst in einen größeren Rahmen zu stellen. Die Leitfrage könnte sein: Wie gehen Menschen in Deutschland mit der Tatsache um, dass eines der größten kollektiven Verbrechen der Menschheitsgeschichte, der Holocaust, durch Deutsche in von Deutschland besetzen Gebieten verübt wurde? Welche Reflexionen stellen Deutsche heute darüber an? Kann es unter solchen Umständen überhaupt eine ungebrochen affirmative Haltung gegenüber der eigenen Nation geben? Kann man "stolz" sein auf Gewalt? Muss sich Identifikation mit dem eigenen Land nicht in einem ganz anderen Feld einstellen? Dieses identitäre Suchen aber kann nicht auf Kosten der klaren Anerkennung des historischen Befundes geschehen, der mit dem Begriff ‚Holocaust’ bezeichnet wird. Der ‚Stolz’ auf das eigene Land könnte heute vielmehr darin bestehen, dass seine Bewohner den Mut gefunden haben, sich zur historischen Wahrheit zu bekennen. Erst das Bekenntnis zur eigenen Schuld und der Verzicht auf jegliche Form der Geschichtsklitterei und Schönfärberei führen in die Freiheit eines unverstellten Bekenntnisses zum eigenen Land.
Im ersten Schritt ginge es also darum, den Weg Deutschlands vom selbstheroisierenden zum selbstkritischen Nationenverständnis nachzuzeichnen. Sollte es dem Lehrer gelingen, seine Schüler in dieses Selbstverständnis der Mehrheit heutiger Deutscher einzuführen, wird der anschließende Unterricht der nachstehenden Argumentationslinie folgen können: "Wenn wir jetzt über eine Phase der türkischen Geschichte in der Zeit des Ersten Weltkriegs sprechen, werden wir feststellen, dass unsere beiden Völker, Deutsche und Türken, eine enge Kooperation pflegten. Nicht nur waren Deutsche im Osmanischen Reich als Offiziere und Kombattanten anwesend, sondern auch die zahlreichen Gräueltaten dieser Zeit geschahen unter den Augen der von deutschen Offizieren mitgeführten osmanischen Armee. Beide Länder sind also in das Geschehen verwickelt. Und so wie die NS-Verbrechen aufgearbeitet wurden, sollte auch hier die historische Wahrheit beim Namen genannt werden: Es gibt eine deutsche Mitverantwortung für das, was 1915 mit den Armeniern geschah." Auch könnte die Frage nach dem Verhältnis des Genozids an den Armeniern zum Holocaust betrachtet werden, der von vielen Wissenschaftlern als eine Vorstufe, gleichsam als Blaupause des Holocaust gesehen wird.
Zielsetzung im Unterricht sollte es sein, für die Akzeptanz historischer Wahrheit zu werben – unabhängig davon, in welcher Erinnerungskultur sich der jeweils denkende Mensch bewegt bzw. von welcher er geprägt wurde und wird. Die Quellenbasis dieser historischen Wahrheit ist erdrückend, darüber sollte es endlich zu einem "transnationalen" Konsens kommen – eine Zielsetzung, die unbestritten hohe Anforderungen an die Lehrkraft stellt.
Auf dieser Grundlage könnte begonnen werden, die Quellen gemeinsam zu studieren, Fragen zu stellen, Hintergründe zu suchen; aber auch Entlastungen wären zu entdecken, z. B. in den großen Vorbehalten mancher Türken, die sich gegen den grausamen Umgang mit den Armeniern verwahrten. Die Zusammenführung zweier gegensätzlicher Narrative auf der Basis freier Erkenntnis, nicht der Indoktrination, kann gelingen, setzt aber eine erhebliche pädagogische und didaktische Anstrengung voraus. Noch immer sind die Hindernisse auf beiden Seiten groß. Auch die deutsche Seite ist nicht ohne weiteres frei; der Holocaust bleibt das alles beherrschende Thema, und bzgl. des Genozids an den Armeniern ist der eigene Kenntnisstand oft noch zu gering. Zudem fehlen die notwendigen Grundlagen im curricularen Bereich und auf dem Lehrbuchsektor, die erforderlich wären, der Thematik des Genozids an den Armeniern zu breiterer Entfaltung im Unterricht zu verhelfen.
Es ist Zeit, dass diese curricularen Voraussetzungen geschaffen werden, denn die "qualifizierte Mitverantwortung Deutschlands" (Hans-Lukas Kieser) führt zu einer ethischen Verpflichtung Deutschlands den Armeniern gegenüber. Damit wird die ethische Verpflichtung den Juden gegenüber und die besondere Bedeutung des Holocaust in keiner Weise geschmälert.
Nicht weniger als "das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen" wollte Franz Werfel mit seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" erreichen.…
Burak Çopur setzt sich mit den Hauptfaktoren für den jungtürkischen Genozid an den Armeniern auseinander. Von der Türkei fordert er in seinem Essay: Sie muss ihren Gründungsmythos infrage stellen…
Die armenische Literatur ist kein Forum geworden für die Reflexion der traumatischen Verletzungen und Verluste. Die Literatur war vielmehr immer ein Forum der kritischen Auseinandersetzung mit Fragen…
Öffentliche Erinnerung ist Teil der politischen Kultur zivilisierter Gesellschaften. Dazu gehört auch das Erinnern an schlimme Ereignisse – und das Eingeständnis historischer Schuld. Ob…
Anfang der 1970er Jahren kamen viele Armenier aus verschiedenen Teilen der Türkei nach Istanbul. Damit war der frühere Heimatboden zu einer Arena geworden, auf der sich die Traumata der Opfer wie…
1869 wurde Komitas Vardapet im Osmanischen Reich geboren. In einer Zeit, in denen es den Armeniern bei Strafe verboten war, ihre eigene Sprache zu sprechen. Mit seinem Schaffen wurde er zur…
Dr. Martin Stupperich ist Gymnasiallehrer und Oberstudiendirektor im Ruhestand.