Johannes Lepsius - eine deutsche Ausnahme
Armenophilie als Lebenspraxis
Rolf Hosfeld
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Johannes Lepsius war die prägende Figur der proarmenischen Bewegung im Deutschland der 1890er Jahre. Im Sommer 1916 veröffentlichte Lepsius seinen berühmten dreihundertseitigen Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei. Darin beschreibt er deutlich, was ab Frühjahr 1915 vor allem in Anatolien geschah: eine staatlich geplante ethnische Säuberung, die unmittelbar, exekutiert von Organen eines jungtürkischen "tiefen Staats", in genozidale Maßnahmen umschlug.
Zur Person
Franz Werfel nannte ihn 1933 einen "Schutzengel der Armenier", und der britische Historiker George Peabody Gooch bezeichnete ihn 1927, ein Jahr nach seinem Tod, als "berühmten Armenophilen" mit substantiellem Urteilsvermögen. Über 30 Jahre lang stand das menschenrechtliche und humanitäre Engagement für die verfolgten Armenier des osmanischen Reichs im Zentrum der Aktivitäten von Johannes Lepsius. Es war, wie Werfel in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh schreibt, "seine irdische Aufgabe". Der Ende 1858 geborene Theologe, Philosoph und Orientalist war auf diesem Gebiet seit Ende des 19. Jahrhunderts eine der bekanntesten Persönlichkeiten des europäischen öffentlichen Lebens. 1896 gründete er im südostanatolischen Urfa die erste Niederlassung seines armenischen Hilfswerks. Der britische Liberale und zeitweilige Premierminister William Ewart Gladstone berief sich in seinen proarmenischen Kampagnen der später 1890er Jahre auf seine in mehrere Sprachen übersetzte Anklageschrift "Armenien und Europa", Eduard Bernstein zitierte ihn bei seiner berühmten proarmenischen Berliner Rede von 1902 als Autorität. Der amerikanische Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, der ihn während eines von Werfel geschilderten Besuchs am Bosporus im Sommer 1915 kennenlernte, nannte ihn einen bemerkenswerten "christlichen Gentleman". In den durch Krieg und Zensur beschränkten Grenzen wirkte Lepsius auch während des Krieges auf die öffentliche Meinung im Deutschen Reich. Am 11. Januar 1916 wurde der Berliner Reichstag mit der Anfrage des sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Liebknecht konfrontiert, ob dem Reichskanzler bekannt sei, "dass Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier" gesprochen habe. Der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger erwartete als Resultat der weite Kreise ziehenden Enthüllungen von Lepsius im Herbst 1916 eine große Armenierdebatte im Parlament. Sie blieb allerdings aus, weil die verlustreichen Kämpfe vor Verdun zu diesem Zeitpunkt alles andere überschatteten. Die bedeutendste Anklage gegen das im Osmanischen Reich begangene Staatsverbrechen während des Weltkriegs, so die New York Tribune Ende Juni 1919, kam von Johannes Lepsius, der 1916 an der Zensur vorbei über 20.000 Exemplare seines dreihundertseitigen Berichts über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei heimlich im Reich verteilen ließ. Nach dem Weltkrieg wurde seine unter dem Titel Deutschland und Armenien im Frühjahr 1919 publizierte Sammlung diplomatischer Akten zum Mitauslöser einer ersten großen Genoziddebatte in Deutschland.
Herkunft
Johannes Lepsius stammte aus dem gehobenen Berliner Bildungsbürgertum mit exzellenten Beziehungen in wichtige Kreise von Politik, Wissenschaft, Kirche und Hof. Seine Mutter, eine Tochter des Komponisten Bernhard Klein und der Schriftstellerin Lilly Parthey, unterhielt in der Bendlerstraße einen der letzten Berliner Salons von Rang. Sein Vater Carl Richard war in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Leiter einer vierjährigen preußischen Ägyptenexpedition und der eigentliche Begründer der deutschen Ägyptologie. Johannes Lepsius selbst ging nach vollendetem Theologiestudium 1884 als Hilfsprediger und Lehrer nach Jerusalem. Dort ist ihm zum ersten Mal die Realität des osmanischen Vielvölkerstaats begegnet, dessen Probleme sein Leben bestimmen sollten.
Die "Protestantische Internationale"
Dieses kulturelle Umfeld prägte Johannes Lepsius mehr noch als sein Elternhaus. In Jerusalem kam er in Kontakt mit Kreisen, die der Schweizer Orientalist und Historiker Hans-Lukas Kieser das informelle Netzwerk einer "Protestantischen Internationale" genannt hat. Von einem wiedergeborenen Nahen Osten sollte sich nach ihrer Vorstellung der Frieden weltweit ausbreiten. Politisch waren die Akteure meist angelsächsisch beeinflusste progressive Liberale. Ein funktionierender osmanischer Rechtsstaat, der auch den Christen und Juden bürgerliche Gleichheit und Sicherheit bot, sollte die Voraussetzung dafür sein, dass ihre Visionen in Erfüllung gehen konnten. Johannes Lepsius entwickelte sich, so Kieser, in diesem Milieu schnell zu einem "von der Protestantischen Internationale und ihrer Nahostmission inspirierten, neupietistischen und liberalen lutheranischen Christen". Das hieß, politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung im Zweifelsfall auch gegen nationale Obrigkeiten zu übernehmen.
‚J’accuse’ – Lepsius’ Anklage der europäischen Großmächte
Johannes Lepsius war die prägende Figur der proarmenischen Bewegung im Deutschland der 1890er Jahre. Sie wurde größtenteils von evangelischen Gemeinschaftskreisen und gebildeten liberalen Protestanten aus dem Kreis um Martin Rades Christliche Welt getragen und hatte eine stark christliche – im Fall Rades auch neukantianische – Note. Bereits 1896 war Lepsius‘ umfangreiches Buch "Armenien und Europa" erschienen – eine Bestandsaufnahme und politische Analyse der Armeniermassaker von 1894 bis 1896 mit weit über hunderttausend Toten. Es entfaltete eine erhebliche internationale Wirkung. Lepsius bezeichnete sein Buch als eine "Anklageschrift" gegen die europäischen Großmächte und kultivierte damit einen publizistischen Gestus, der zwei Jahre später in dem berühmt gewordenen J’accuse Émile Zolas seine klassische Wirkung entfalten würde.
Johannes Lepsius selbst ging es Mitte der 1890er Jahre zunächst darum, die Überlebenden der Massaker unter Sultan Abdul Hamid II. – meist Frauen und Waisenkinder – zu retten und so durch den Aufbau eines Hilfswerks die Grundlagen für eine Wiedergeburt des dezimierten armenischen Volks zu schaffen. Nicht in erster Linie, weil sie Christen waren, sondern weil das eigene Christsein – wie Rade in kantischer Terminologie sagte: "das moralische Gesetz in uns" – diese Verpflichtung gegenüber den Verfolgten zwingend machte.
Anstoß erregte Lepsius, aber, weil er sich nicht auf die karitative Linderung der Not vor Ort beschränkte, sondern zugleich die europäischen Großmächte vehement öffentlich kritisierte. Die evangelische Amtskirche, entsetzt über die Vorwürfe, die Lepsius‘ Publikationen und Vorträge erhoben, unternahm einen entscheidenden Schritt: Sie verweigerte ihm ein längeres Urlaubsgesuch für seine proarmenische Tätigkeit und handelte dabei, wie Martin Rade feststellte, durchsichtig politisch wie eine Staatsbehörde. Lepsius kündigte. Für den Rest seines Lebens standen nun das armenische Hilfswerk und die Beschäftigung mit der armenischen Frage – unter anderem in seiner Zeitschrift Der christliche Orient – ganz im Mittelpunkt seiner Aktivitäten.
Im August 1914 feierte Lepsius den Ausbruch des Weltkriegs nicht, wie die Mehrzahl der gebildeten Protestanten seiner Zeit, als ein nationales Pfingsterlebnis. "Niemals hatte ein Krieg weniger mit Religion zu tun als der gegenwärtige", schrieb er Anfang 1915. Die nationale Gehässigkeit der christlichen Nationen lasse es angeraten erscheinen, den Begriff "Christenheit" für ein künftiges Zeitalter aufzusparen und nach dem Krieg "die europäische Völkererziehung wieder bei dem ABC moralischer Grundbegriffe zu beginnen". Aber auch er betrachtete den Ausbruch der Feindseligkeiten als unvermeidlich, wenn das Volk Martin Luthers nicht untergehen wollte.
Lepsius musste jedoch erleben, wie die im Weltkrieg begangenen Verbrechen an den Armeniern zunehmend in Widerspruch gerieten zu seinen christlichen Grundüberzeugungen. Dort, wo moralisch-ethische Grenzsituationen und grundsätzliche Menschenrechtsfragen berührt waren, unterschieden sich diese Überzeugungen fundamental von denen seiner nationalprotestantischen Zeitgenossen. Deutschland, meinte er Anfang Dezember 1918, sei während des Krieges "durch Duldung und feige Untätigkeit mitschuldig an dem Untergange eines Christenvolks geworden".
Die deutsche Presse war während des Weltkriegs angehalten, offizielle osmanische Darstellungen zu veröffentlichen, oder sie enthielt sich durch Selbstzensur. Lepsius bediente sich aus diesem Grund Schweizer Zeitungen, die auch im Reich zugänglich waren. Am 5. Oktober informierte er im Reichstag die deutsche Presse, doch auf Anweisung des Auswärtigen Amts erschienen in den folgenden Wochen hauptsächlich betont antiarmenische Artikel. Repräsentanten der evangelischen und katholischen Kirche wandten sich auf Grund seiner Informationen an Reichkanzler Bethmann-Hollweg, der ihnen antwortete, man werde seinen Einfluss geltend machen, dass christliche Völker nicht ihres Glaubens wegen verfolgt würden, wohl wissend, dass dies keine Glaubensverfolgung, sondern eine innenpolitisch motivierte "ethnische Säuberung" war.
Im Sommer 1916 veröffentlichte Lepsius seinen berühmten dreihundertseitigen "Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei" mit einer präzisen Darstellung der Zeitabläufe und der regionalen Ereignisse sowie genauen Statistiken und einer ausführlichen, Historiker nach wie vor herausfordernden Analyse der Ursachen. Selbst seine engsten Freunde von der Deutschen Orient-Mission votierten nach langem Zögern und einer Intervention des Berliner Oberhofpredigers Ernst von Dryander gegen eine Veröffentlichung des Berichts, vor allem weil er in eindeutiger und unmissverständlicher Weise die politische Schuldfrage thematisierte und so einen militärischen Bündnispartner öffentlich bloßstellte. Er selbst aber lehnte die "Pflicht des Schweigens, die mir zugemutet wurde", aus prinzipiellen ethischen Gründen bewusst ab.
Bevölkerungsstatistische Phantasien
Die zentrale Aussage seines Buchs – nach Ulrich Trumpener für Jahrzehnte "das beste synthetische Werk über diesen Gegenstand" – besteht darin, dass ab Frühjahr 1915 vor allem in Anatolien eine staatlich geplante ethnische Säuberung stattfand, die unmittelbar, exekutiert von Organen eines jungtürkischen "tiefen Staats", in genozidale Maßnahmen umschlug. Lepsius hatte, auch in seinen Äußerungen nach dem Krieg, stets die rechtsnationalistische Modernität und Systematik dieses Genozids im Auge. 1921 verglich er die tödlichen "bevölkerungsstatistischen Phantasien" der Jungtürken mit denen der pangermanisch und antisemitisch ausgerichteten alldeutschen Bewegung, die sich Anfang der 1920er Jahre zunehmend radikalisierte. Insofern war dieser "Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben", für ihn ein gefahrverheißendes Modell.
Nach dem Krieg hat Lepsius 1919 einen vom Auswärtigen Amt selbst ausgewählten Teil der deutschen Dokumente und des Schriftwechsels zu den Ereignissen in der Türkei während des Krieges unter dem Titel Deutschland und Armenien in seinem Potsdamer Tempel-Verlag veröffentlicht. Es war – trotz einiger durch den Nachkriegszustand des Archivs und Eingriffe des Auswärtigen Amts bedingter Lücken – die erste systematische Dokumentation diplomatischer Quellen zum jungtürkischen Völkermord an den Armeniern überhaupt. Die Analysen seines Berichts von 1916 fand er durch die Aktenlage in vollem Umfang bestätigt.
Der Prozess Talaat Pascha
1921 trat Lepsius in dem Prozess gegen den armenischen Attentäter des ehemaligen osmanischen Großwesirs und Hauptverantwortlichen für den Völkermord, Talaat Pascha, als Hauptgutachter auf. Politischer Druck bewirkte, dass die Prozessdauer auf zwei Tage beschränkt wurde. Man wollte seitens des Auswärtigen Amts unter allen Umständen vermeiden, dass sich die Verhandlung zu einem "politischen Mammutfall" auswachsen und "die ganze Frage der aus dem Kriege bereits unliebsam bekannten Armeniergreuel" wieder zur Diskussion gestellt würde. Man hatte zudem Bedenken, "wenn im Laufe des Prozesses eingehender auf die allgemeine politische Rolle Talaat Paschas und seiner Stellung zu Deutschland eingegangen würde." Doch das ließ sich kaum vermeiden.
Der Prozess begann am 2. Juni 1921 vor dem Landgericht Berlin-Moabit in der Turmstraße.Die Verhandlung bescherte Lepsius noch einmal internationale Aufmerksamkeit. "Die entscheidende Phase dieses dramatischen Prozesses”, so die New York Times in einem langen Bericht, "begann, als Professor Lepsius offizielle türkische Dokumente vorlegte, die bewiesen, dass die Führer der türkischen Regierung in Konstantinopel – und besonders Talaat selbst – unmittelbar dafür verantwortlich waren, dass die Deportationen zu einem Blutbad wurden.” Die Geschworenen kamen in dieser Stimmung zu der einstimmigen Auffassung, dass der Angeklagte, der armenische Student Soghomon Tehlirjan, zum Zeitpunkt der Tat im Affekt und in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit gehandelt hatte, und plädierten erfolgreich auf Freispruch.
Die Vorbereitung der von Lepsius ausgewählten Verteidiger war so gut, dass Johannes Werthauer – der zu den großen Anwälten der Weimarer Zeit gehörte und der im August 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nationalsozialisten stand – schon wenige Tage nach dem Attentat der Gewissheit Ausdruck verlieh, er habe "nicht den geringsten Zweifel", dass der Prozess mit einem Freispruch für den Attentäter enden werde.
Die Hauptaufgabe der Verteidiger, meinte Lepsius, werde es dabei sein müssen, "nachzuweisen, dass Talaat in erster Linie für die Deportationen und Massaker verantwortlich ist". Genau dies nachzuweisen gelang zweifellos durch das Gutachten von Lepsius. Der Prozess gegen Talaat Pascha schrieb Rechtsgeschichte. Raphael Lemkin, der geistige Vater der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, berief sich immer wieder – selbst nach der Shoah, der 49 Mitglieder seiner Familie zum Opfer fielen – auf dieses paradoxe juristische Ereignis als dem entscheidenden Impulsgeber für sein Lebenswerk.
Besonders traf Lepsius der Vertrag von Lausanne 1923 nach dem Sieg der Nationalbewegung Mustafa Kemals, durch den ganz Anatolien einschließlich der ehemaligen armenischen Kernsiedlungsgebiete türkisch wurde. Er besiegelte das Ende aller armenischen Hoffnungen nach dem Ersten Weltkrieg und sanktionierte durch die Vertreibung von über einer Million kleinasiatischer Griechen nach seinen Worten die neue Methode der Evakuierung ganzer Völker durch "internationalen Vertragszwang". Ein fataler Präzedenzfall für die Zukunft war für ihn damit in die Welt gesetzt, wie sich im weiteren Verlauf des Zwanzigsten Jahrhunderts bestätigen sollte.
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Dr. Rolf Hosfeld ist Historiker und wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses Potsdam.
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