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Über die Demokratie in Europa

Andreas Voßkuhle

/ 15 Minuten zu lesen

Es wäre fatal, wenn wir auf dem Weg zur Rettung des Euro die Demokratie verlieren. Denn unter allen denkbaren Herrschaftsformen bleibt die Demokratie trotz aller Unzulänglichkeiten die mit Abstand beste.

Einleitung

Im Jahre 1835 veröffentlichte der französische Philosoph Alexis de Tocqueville seine berühmte Schrift "Über die Demokratie in Amerika". In diesem Buch sucht er nach Antworten auf eine europäische Grundfrage. Denn in Europa war eine "große demokratische Revolution (...) im Gange". Deren Ausgang war noch ungewiss. Deshalb richtete er seinen Blick auf die bereits gefestigte Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika. Dort begegnete ihm das erste Beispiel repräsentativ-demokratischer Herrschaft in einem großen Flächenstaat.

Tocquevilles optimistische Erzählung von der neuen Staatsform wurde in der bürgerlichen Revolution von 1848 mit Begeisterung aufgegriffen. Auch die Abgeordneten im ersten frei gewählten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche beriefen sich auf seinen Bericht. Der Paulskirchenversammlung wiederum verdanken wir einen Verfassungsentwurf, dessen Ideen bis heute im Grundgesetz nachwirken und den wir als Grundstein für eine zwar durchaus gebrochene, letztlich aber doch erfolgreiche parlamentarisch-demokratische Traditionslinie in Deutschland ansehen dürfen.

Denkt man rund 200 Jahre nach Tocqueville über die Demokratie nach, dann ist festzustellen, dass es sich international betrachtet um ein echtes Erfolgsmodell handelt. Rund um den Erdball gab es zu keinem Zeitpunkt eine größere Anzahl demokratischer Staaten als heute. Die enorme Anziehungskraft der Demokratie haben zuletzt die Ereignisse des "Arabischen Frühlings" verdeutlicht. Gleichzeitig mehren sich aber Stimmen, welche die Funktionsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems vor dem Hintergrund vielfältiger globaler Herausforderungen und der politischen Koordinierungszwänge in einem europäischen Mehrebenensystem in Zweifel ziehen. Sie erfahren Unterstützung durch diejenigen, die schon seit längerem mit dem demokratischen Alltag in der Bundesrepublik aus unterschiedlichen Gründen hadern. So wirft Alexandra Borchardt die Frage auf, ob sich unsere repräsentative parlamentarische Demokratie nicht vielleicht schlicht überlebt hat, wie "ein abgetragener Mantel, der in den Altkleidersack gehört. War mal schick, hat mal gewärmt und geschützt, aber jetzt gibt es etwas Besseres." Noch drastischer formuliert Dirk Schümer: "(G)ut zwanzig Jahre nach dem triumphalen Beitritt junger Demokratien wie Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien befindet sich der Kontinent in einer schweren Verfassungskrise. (...) Das Projekt Europa als friedlicher Zusammenschluss unabhängiger Nationen ist gerade dabei, sich abzuschaffen. Es genügt ein Blick in die Stammländer der Demokratie. So haben Griechenland und Italien demokratische Regierungen, doch die Ministerpräsidenten gehören zu keiner Partei, haben keinen Wahlkampf geführt, haben auch im Amt nicht vor, politische Bewegungen zu bilden und damit je um die Zustimmung der Bevölkerung zu werben. Es handelt sich um bloße Notstandsverwaltungen, die Reformen beschließen, Einsparungen durchsetzen, Personalentscheidungen treffen, zu denen über viele Jahre die demokratisch gewählten Regierungen der Parteien nicht fähig waren." Sollten wir also nach anderen Möglichkeiten der demokratischen Herrschaftsausübung suchen, etwa einer "Internet-Demokratie" oder einer liquid democracy? Oder leben wir bereits in einer nachdemokratischen Zeit, in einer "Postdemokratie", wie Colin Crouch sie beschreibt?

Grundlagen der repräsentativen Demokratie

Alle diese Fragen geben Anlass, sich der Grundlagen unserer repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik und in Europa kritisch zu vergewissern. Demokratie als Thema ist ein sehr weites Feld. Folglich kann es nur um exemplarische "Probebohrungen" gehen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ohne lebendige parlamentarische Demokratie sind die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht zu bewältigen. Gerade in einer Zeit, in der ein globales Krisenszenario auf das nächste folgt und weit reichende politische Entscheidungen getroffen werden müssen, bedürfen die handelnden Akteure einer ausreichenden Legitimationsgrundlage. Dazu brauchen wir bis auf Weiteres die nationalen Parlamente. Ohne die demokratische Zustimmung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger werden wir das europäische Haus nicht erhalten und weiter bauen können.

Demokratie meint "Volksherrschaft": Sie beruht auf der Idee einer durch die Beteiligung aller Bürger legitimierten Herrschaft auf Zeit, die durch die Mehrheit getragen wird. Das Grundgesetz hat sich für die repräsentative parlamentarische Demokratie entschieden: Die Bürgerinnen und Bürger realisieren ihre Herrschaft in erster Linie über die Wahl des Parlaments. Die Wahl stellt den "grundlegenden Legitimationsakt dar", sie "bildet das wesentliche Element des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und damit zugleich die Grundlage der politischen Integration". Der Wahlakt gibt uns die Möglichkeit, mit extrem wenig Aufwand enorm viel Einfluss auszuüben, nämlich auf die Zusammensetzung des Parlaments und damit auf das zentrale Verfassungsorgan, das die Gesetze beschließt. Zugegeben: Der Einfluss einer einzelnen Stimme auf das Wahlergebnis insgesamt ist rein quantitativ betrachtet äußerst gering. Das wird aber durch einen anderen großen Vorteil aufgewogen: Grundsätzlich hat bei einer Wahl jede Stimme das gleiche Gewicht. Der Wert des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2011 aus Anlass der Entscheidung zur Fünfprozentklausel im Europawahlrecht betont: Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger. Aus ihm folgt, dass alle Wähler mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Die Fünfprozentsperrklausel im Europawahlrecht war deshalb für verfassungswidrig zu erklären: Sie bewirkt bei einer Verhältniswahl ohne ausreichende Rechtfertigung eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen: Ungefähr 2,8 Millionen Stimmen - mithin etwa zehn Prozent der gültig abgegebenen Stimmen - hatten bei der Europawahl 2009 keinen Erfolgswert, also keinen Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Europaparlament. In dem Prinzip, dass alle Stimmen gleich zählen, manifestiert sich das Ideal gleicher Freiheit und Würde. Es kommt grundsätzlich allen Bürgern, den aktiven, aber auch den unpolitischen, gleichermaßen zugute.

Die Gleichheit der Wahl musste mühsam erkämpft werden. Am Ende dieses Kampfes stand die Einführung des Frauenwahlrechts. Das freie und gleiche Wahlrecht ist alles andere als selbstverständlich, es ist, so das Bundesverfassungsgericht, "der wichtigste vom Grundgesetz gewährleistete subjektive Anspruch der Bürger auf demokratische Teilhabe" und letztlich "in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert". Es verdient daher unsere ganz besondere Wertschätzung. In der abnehmenden Wahlbeteiligung in allen europäischen Ländern spiegelt sich diese Wertschätzung allerdings nicht wider: Während in der Bundesrepublik im Jahre 1972 noch 91,1 Prozent der Bürger zur Wahl gingen, waren dies im Jahre 2009 nur noch 70,8 Prozent. Seit Ende der 1980er Jahre geht in der Bundesrepublik, aber nicht nur dort, das Schlagwort von der "Politikverdrossenheit" um. Gründe für diese Politikverdrossenheit gerade auch der jüngeren Generation scheint es viele zu geben: nicht gehaltene Wahlversprechen, Trivialisierung der Medienberichterstattung, Selbstbedienungsmentalität und mangelnde Vorbildfunktion von Politikern, fehlende Bildung, der Mangel an politischen Alternativen, schrumpfende politische Entscheidungsspielräume. Nach meiner Einschätzung beruht Politikverdrossenheit aber auch zu nicht geringen Teilen auf Fehlvorstellungen über die Funktionsweise des demokratischen Prozesses und auf zu hohen Erwartungen, was die Durchsetzung eigener, individueller Interessen angeht.

Nach dem Grundgesetz ist der Deutsche Bundestag der Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation und der institutionelle Mittelpunkt des politischen Lebens. Er wird als einziges Verfassungsorgan direkt gewählt und besitzt damit unmittelbare personelle demokratische Legitimation. Auch im Hinblick auf den Prozess der europäischen Integration ist die zentrale Rolle des Bundestages vom Bundesverfassungsgericht mehrmals bestätigt worden. Vor allem in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon und zuletzt auch im Urteil zum Euro-Rettungsschirm wurde die besondere "Integrationsverantwortung" des Bundestages betont, der danach den Entwicklungsprozess der EU aktiv zu begleiten hat.

In einer repräsentativen Demokratie neigt das Parteiensystem dazu, oligarchisch-elitäre Strukturen auszubilden. Die Macht ist dann konzentriert in den Händen weniger Spitzenfunktionäre. Damit einhergehen können Nepotismus und der Verlust der Fähigkeit zum politischen Wandel. Als wirksames Gegenmittel wird häufig die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene gefordert. Nun würde es zu weit führen, an dieser Stelle die breite Diskussion über Vorzüge und Nachteile plebiszitärer Elemente erneut aufzurollen. Eine Fehlannahme sollte man aber vermeiden: Plebiszite sind nicht demokratischer als die repräsentative Demokratie. Die spezifische Rationalität des parlamentarischen Verfahrens besteht darin, dass dort an einem von allen Bürgerinnen und Bürgern beobachtbaren, stetigen Ort kontinuierlich Kompromisse ausgehandelt und öffentlich vermittelt werden müssen und man als Abgeordneter und Politiker für die jeweiligen Ergebnisse dieses Prozesses spätestens bei der nächsten Wahl verantwortlich gemacht werden kann. Genau dies können Volksbefragungen und Volksentscheide nicht leisten. Sie reduzieren die Bewältigung komplexer politischer Herausforderungen auf singuläre Ja/Nein-Entscheidungen, für deren politische Anschlussfähigkeit und Umsetzung andere verantwortlich sind.

Das Gegenmodell zum Parlamentarismus ist die Expertokratie. Innerhalb der Bevölkerung genießt die Expertokratie durchaus Sympathie. Statt Politikern vertrauen die Bürgerinnen und Bürger häufig lieber "Experten", wie sie angesichts der Euro-Krise jetzt auch in Italien und Griechenland regieren. Ja, sogar die Politiker selbst verschanzen sich gerne hinter Expertenmeinungen, und wenn wir nach Brüssel schauen, dann tritt uns mit der Europäischen Kommission eine expertokratisch orientierte Institution gegenüber, die sich irgendwo im Übergang vom neutralen administrativen Gestalter zu einer politischen Regierung befindet und als Ersatz für Demokratie gerne "unpolitische Politik" in Form wissensbasierter Governance-Programme anbietet.

Experten können Politik und Demokratie aber nicht dauerhaft ersetzen, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens haben die Erfahrungen mit wissenschaftlicher Politikberatung zu einem nicht unerheblichen Vertrauensverlust in die Problemlösungskompetenz sogenannter Experten geführt. In den einschlägigen Entscheidungs- und Politikarenen besitzt jede "Richtung" ihre eigenen Experten, die sich häufig gegenseitig zu widersprechen scheinen, und wenn sie es nicht tun, dann finden sie kein Gehör mehr. Für zusätzliche Irritation sorgen zweitens grundsätzliche Zweifel an der Reichweite unseres Wissens, die durch den Hinweis der Wissenschaftssoziologie gestützt werden, dass selbst naturwissenschaftliche Erkenntnisse Resultat eines vielschichtigen Selektionsprozesses sind, der jedenfalls zum Teil auf ungesicherten Annahmen, persönlichen Vorverständnissen, speziellen Forschungsbedingungen und anderen externen Faktoren beruht.

Das dritte Bedenken gegen expertokratische Politik gründet auf dem Umstand, dass sich gerade auch auf europäischer Ebene verlässliches oder besser gesagt konsentiertes Wissen über die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer politischen Initiative nur sehr schwierig gewinnen lässt. Daher greifen die politischen Akteure bei ihrer Vermittlung der avisierten Lösung in vielen Bereichen gerne auf formal objektiviertes Wissen zurück. So werden zum Beispiel Benchmarking-Prozesse zwischen Mitgliedstaaten der EU bei der Formulierung europäischer Politiken immer wichtiger. Das gilt zum Beispiel für die im Europäischen Rat von Lissabon 2000 entwickelte "offene Methode der Koordinierung". Dabei werden umfangreiche Statistiken über den Erfolg nationaler Politiken erstellt und verglichen, etwa im Bereich der Arbeitsmarkt-, Bildungs- oder Umweltpolitik. Zahlenbasierte Handlungsorientierung ist zuletzt auch in den Diskussionen über die Reform der Finanzmarktregulierung deutlich geworden: Wenn man die Risiken von Finanzunternehmen und das erforderliche Eigenkapital nur "richtig" berechne, dann sei die Stabilität des Marktes gesichert.

Die Abbildung der Wirklichkeit durch verrechenbare Indikatoren erweist sich bei näherem Hinsehen als äußerst problematische Konstruktion, die auch historisch gesehen Tür und Tor öffnet für Manipulationen und symbolische Politik. Gerade die Qualität öffentlicher Dienstleistungen lässt sich nur sehr schwer in Zahlen fassen. Gänzlich ohne statistische Grundlagen lassen sich heute aber politische Entscheidung über die einschlägigen Realbereiche nicht mehr treffen. Daher müssen wir stärker als bisher versuchen, eine Kultur der reflektierten Zahl zu entwickeln, die numerische Grundlagen zum Ausgangspunkt politischer Argumentation nimmt, die Zahlen aber gleichzeitig hinterfragt und die einschlägigen Indikatoren einem stetigen Lernprozess aussetzt. Dazu brauchen wir nicht zuletzt eine europäische Öffentlichkeit. Einmal mehr zeigt sich: "Demokratie lebt zuerst von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung." Von einer solchen funktionsfähigen öffentlichen Meinung ist man auf europäischer Ebene jedoch noch weit entfernt. In ihrem Weißbuch "Über eine europäische Kommunikationspolitik" hat die Europäische Kommission deshalb im Jahre 2006 Vorschläge vorgelegt, wie durch verschiedene Maßnahmen auf die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit hingewirkt werden kann.

Europa steht auf zwei demokratischen Säulen

Viele Bürgerinnen und Bürger befürchten im Zeitalter der Internationalisierung, dass die Demokratie ihre Wirkungskraft verliert. Die eigentliche Entscheidungsmacht scheint abzuwandern in überstaatliche Zusammenhänge. Immer häufiger, so die Sorge, werden wesentliche Entscheidungen entweder im anonymen Dickicht der Brüsseler Bürokratie, in nächtlichen Sitzungen des Europäischen Rates oder sonst wo ausgehandelt, ohne dass sie hinreichend öffentlich diskutiert und beeinflusst würden.

In der Tat werden 20 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht viele Regelungen nicht mehr im nationalen Alleingang getroffen. Das ist trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten zunächst einmal gut und richtig so. In der von Jürgen Habermas schon vor über einem Jahrzehnt in einem berühmten Diktum als "postnationale Konstellation" bezeichneten Lage der globalisierten Welt gibt es oft keine andere Möglichkeit als die Schaffung gemeinsamer Regelungen, wenn man überhaupt imstande sein möchte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen politisch zu gestalten.

Das Grundgesetz befürwortet die hierfür notwendige Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene. In der Präambel hieß es von Beginn an, dass sich das Volk "kraft seiner verfassunggebenden Gewalt" das Grundgesetz gegeben habe und es dabei "von dem Willen beseelt" sei, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Hinzu kommt der heutige Artikel 23 Absatz 1 GG. Beide Vorschriften enthalten einen "Verfassungsauftrag" an die deutschen Staatsorgane und sonstigen staatlichen Stellen, durch die Mitwirkung an der Entwicklung der EU zur Verwirklichung eines vereinten Europas beizutragen. Das Grundgesetz will also die europäische Integration und eine internationale Friedensordnung - es ist, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heißt, nicht nur völkerrechtsfreundlich, sondern auch "europarechtsfreundlich".

Das Grundgesetz verlangt und gewährleistet jedoch auch, dass die Ausübung der dem europäischen Staatenverbund übertragenen Hoheitsgewalt demokratisch legitimiert wird. Die Legitimation der hoheitlichen Gewalt der EU ist eine sogenannte "duale Legitimation". Sie verläuft über zwei Stränge. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon spricht insoweit von einem "primären repräsentativ-demokratischen Legitimationszusammenhang". Dieser geht von den Bürgern der Mitgliedstaaten aus und ist Quelle der Unionsgewalt. Hinzu kommt ein zweiter Zusammenhang, der auf der europäischen Ebene selbst zu erzeugen ist. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die EU - was den zweiten Strang ihrer Legitimation betrifft - einen bemerkenswerten Demokratisierungsprozess durchlaufen hat. So kann das Europäische Parlament seit seiner ersten Direktwahl im Jahr 1979 einen kontinuierlichen Bedeutungsanstieg verzeichnen. Seit dem Vertrag von Lissabon ist es der mit dem Rat zusammenwirkende Gesetzgeber. Es begründet heute als "unmittelbar von den Unionsbürgern gewähltes Vertretungsorgan der Völker" eine "eigenständige zusätzliche Quelle für (die) demokratische Legitimation" der EU.

Das hat das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum Vertrag von Maastricht so gesehen und in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon bestätigt. In einem wesentlichen Punkt freilich bleibt diese Legitimation unvollkommen: Die Gleichheit der Wahl ist auf europäischer Ebene nicht gewährleistet. Es fehlt nach dem Vertrag von Lissabon an "einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens". Stattdessen sieht der Lissabon-Vertrag (Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 1 Satz 3 EUV) für das Europäische Parlament eine degressiv proportionale Zusammensetzung mit mitgliedstaatlichen Kontingentierungen vor, die das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit mit dem demokratischen Prinzip der Wahlrechtsgleichheit kombiniert. Das führt dazu, dass das Gewicht der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaates etwa das Zwölffache des Gewichts der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaates betragen kann.

Die Zukunft wird zeigen, inwieweit die Union "mit zusätzlichen neueren Formen transparenter oder partizipativ angelegter politischer Entscheidungsverfahren nach eigenen Wegen demokratischer Ergänzung" suchen wird. Solche Elemente partizipatorischer Demokratie können den auf Wahlen und Abstimmungen zurückgehenden Legitimationszusammenhang zwar nicht ersetzen; sie können aber "ergänzende Funktion bei der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt übernehmen" und eine europäische Öffentlichkeit etablieren. Die Entwicklung des supranationalen Legitimationszusammenhangs bedeutet nach alledem keineswegs, dass die parlamentarische, auf den Nationalstaat bezogene Demokratie überholt wäre. Bis auf Weiteres hängt die demokratische Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt in ganz zentraler Weise von den nationalen Demokratien ab.

Damit behält der Deutsche Bundestag seine Schlüsselfunktion für die demokratische Legitimation der deutschen und der europäischen Hoheitsgewalt. Von ihm geht der primäre Legitimationszusammenhang der EU aus. Er besitzt - wie bereits erwähnt - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere "Integrationsverantwortung". Diese ist allerdings keine Einbahnstraße, sondern sie verlangt vom Parlament eine wohlwollende Begleitung des Integrationsprozesses. Bei alledem schützt das Grundgesetz die Wahlberechtigten vor einem Substanzverlust ihrer Herrschaftsgewalt. Dem Deutschen Bundestag müssen - das hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon und zuletzt in der Entscheidung zum Euro-Stabilisierungsmechanismusgesetz vom 7. September vergangenen Jahres deutlich gemacht - "Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben".

Die Übertragung von Hoheitsrechten findet eine Grenze im "materiellen Identitätskern der Verfassung", der durch die "Ewigkeitsgarantie" in Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist. In der Entscheidung vom 7. September 2011 hat das Bundesverfassungsgericht diesen Identitätskern näher beschrieben. Danach dürfen Kompetenzen des Deutschen Bundestages nicht in einer Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens unmöglich macht. Die Bürger sollen nicht eines Morgens aufwachen und feststellen, dass diejenigen, die sie gewählt haben, nichts mehr zu entscheiden haben.

Gerade das Budgetrecht stellt ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung des Volkes dar. Die gewählten Abgeordneten müssen deshalb auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidung behalten. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden.

Überdies muss gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Europäische Staatskommissare und europäische Wirtschaftsregierungen mit weit reichenden Kompetenzen in Bezug auf nationale Haushalte sind deshalb aus Sicht der Demokratie nicht ungefährlich, solange kein von den Unionsbürgern allein demokratisch legitimierter europäischer Bundesstaat mit entsprechenden Institutionen existiert.

Es wäre tragisch und geradezu fatal, wenn wir auf dem Weg zur Rettung des Euro und mehr Integration die Demokratie verlieren. Denn unter allen denkbaren Herrschaftsformen bleibt die Demokratie trotz aller Unzulänglichkeiten die mit Abstand beste. Gerade in Krisenzeiten empfinden wir demokratische Verfahren und die zwingend damit einhergehende Verrechtlichung der Politik als lästig. Auch unsere europäischen Nachbarn würden sich mitunter mehr spontanes politisches Engagement in manchen Fragen wünschen. Doch gerade uns Deutschen lehrt die jüngere Geschichte: Demokratie ist nicht alles, aber ohne Demokratie ist alles nichts.

Gekürzte Fassung eines Vortrags beim Politischen Forum Ruhr am 6. Februar 2012 im Konzerthaus Dortmund.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika [De la démocratie en Amérique] (1835), Stuttgart 1986, S. 15f.

  2. Vgl. Hasso Hofmann/Horst Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 169f.

  3. Vgl. Charlotte A. Lerg, Amerika als Argument, Bielefeld 2011, S. 28.

  4. Alexandra Borchardt, Wir sind die Klicks, in: Süddeutsche Zeitung vom 17./18.12.2011.

  5. Dirk Schümer, Europa schafft sich ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.1.2012.

  6. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008; eine ähnliche Parlamentarismuskritik bereits bei Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1923.

  7. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 3.3.2009, 2 BvC 3/07 u.a., Rn. 108.

  8. BVerfG, Urteil vom 9.11.2011, 2 BvC 4/10 u.a., Wahlprüfungsbeschwerden gegen Fünfprozentklausel im Europarecht.

  9. Entscheidungen des BVerfG (BVerfGE) 123, 267 (340).

  10. BVerfGE 123, 267 (341).

  11. Statistik online: www.bundeswahlleiter.de/de/bundestags
    wahlen/fruehere_bundestagswahlen (29.2.2012).

  12. Vgl. Kai Arzheimer, Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs, Opladen 2002.

  13. Statt vieler Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 199520, Rn. 574. Zum funktionalen Mehrwert des Parlaments vgl. auch Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi et al. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, Zürich 1999, S. 149ff.

  14. BVerfGE 123, 267 (356ff.). Vgl. dazu Andreas Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Die Verwaltung. Beiheft 10, (2010), S. 229ff.

  15. Statt vieler vgl. Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 201016, §23 II 3.

  16. Christoph Möllers, Demokratie - Zumutungen und Versprechen, Berlin 2008, Rz. 126.

  17. Kritisch bereits Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, Tübingen 2006, S. 235f.

  18. Zu ihrer historischen Dimension vgl. Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, sowie Andrea Brickmann, Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren. Die Studiengruppe für Systemforschung, Berlin 2006. Zur aktuellen Situation vgl. z.B. Svenja Falk/Dieter Rehfeld/Andreas Römmele/Martin Thunert (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, Wiesbaden 2006; stärker auf die juristische Perspektive abstellend Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Heidelberg 20053, §43.

  19. Vgl. dazu den prägnanten Literaturbericht von Bernd Kleimann, Das Dilemma mit den Experten - Ein Expertendilemma?, in: Heinz-Ulrich Nennen/Detlef Garbe (Hrsg.), Das Expertendilemma, Berlin 1996, S. 183ff.

  20. Näher dazu Andreas Voßkuhle, Verwaltung und Expertise, in: Hans-Heinrich Trute et al. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht - Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 649ff.

  21. Näher dazu Marcus Göbel, Von der Konvergenzstrategie zur offenen Methode der Koordinierung, Baden-Baden 2002; Yves Jorens (ed.), Open Method of Coordination, Baden-Baden 2003.

  22. Robert Salais, On the Correct (and Incorrect) Use of Indicators in Public Action, in: Comparative Labor Law & Policy Journal, 27 (2006), S. 237-256.

  23. Besonders intensiv widmet sich die ökonometrische Forschung der Berechnung so genannter systemischer Risiken, vgl. hierzu etwa die viel beachteten Modelle von Tobias Adrian/Markus K. Brunnermeier, CoVaR, Federal Reserve Bank of New York staff report, 2009, und Andrew G. Haldane, Rethinking the financial network, 2009. Zur "Illusion der Messbarkeit von Risiken" hingegen Martin Hellwig, Capital Regulation after the Crisis: Business as Usual? Working Paper/MPI für Gemeinschaftsgüter 2010-31, Berlin 2010, S. 6ff.; Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi, Gutachten Nr. 03/10. Reform von Bankenregulierung und Bankenaufsicht nach der Finanzkrise, Berlin 2010, S. 19ff.

  24. So bereits Andreas Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: Gunnar Folke Schuppert/ders. (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008, S. 23ff.

  25. Vgl. dazu Katharina Benderoth, Europäisierungstendenzen der medialen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Kassel 2010; Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, Baden-Baden 2004.

  26. BVerfGE 123, 267 (358).

  27. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998.

  28. BVerfGE 123, 267 (346f.).

  29. BVerfGE 123, 267 (344ff.; 347).

  30. BVerfGE 89, 155 (184).

  31. BVerfGE 123, 267 (369).

  32. BVerfGE 123, 267 (349).

  33. BVerfGE 123, 267 (363ff.)

  34. "Direktwahlakt" - Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Beschluss des Rates vom 20.9.1976, BGBl 1977 II, S. 733.

  35. BVerfG, Urteil vom 9.11.2011 (Anm. 8).

  36. BVerfGE 123, 267 (368) unter Verweis auf BVerfGE 89, 155 (184f.).

  37. Vgl. BVerfGE 123, 267 (373f.).

  38. BVerfGE 123, 267 (369).

  39. BVerfGE 123, 267 (356).

  40. Vgl. BVerfG v. 7.9.2011, 2 BvR 987 u.a. (Ls. 1).

Dr. iur., geb. 1963; Universitätsprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br., Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie; Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe. E-Mail Link: ahofmann@bundesverfassungsgericht.de