Eltern als Partner und Verdächtige zugleich: Kindergarten und Kinderschutz
Einleitung
Heute sind Kindertagesstätten Orte umfassender Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern zwischen null und sechs Jahren beziehungsweise im Hort bis zu zehn oder zwölf Jahren. Seit einigen Jahren tritt jedoch auch der Kinderschutz verstärkt in den Fokus. Dieser wird dabei als allgemeine, elementare gesellschaftliche und politische Aufgabe verstanden, das Wohl der Kinder zu garantieren.[1] In der aktuellen Diskussion um Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt gegen Kinder wird die Forderung nach einer Qualifizierung von Pädagoginnen und Pädagogen laut, die diese in die Lage versetzen soll, Anzeichen von Misshandlung und Gewalt gegen Kinder zu erkennen und so zu ihrem Schutz beizutragen.Für Erzieherinnen und Erzieher in Kindertageseinrichtungen ist eine solche Aufgabe bereits seit 2005 im Paragraf 8a Sozialgesetzbuch VIII festgeschrieben. Seit Beginn des Jahres 2012 ist der Kinderschutz aber auch als neue, zentrale Aufgabe von Kindergärten[2] im neuen Bundeskinderschutzgesetz verankert. Kindergärten erhalten damit eine Funktion (zurück), die ihnen bereits mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 und in allen nachfolgenden Jugend(schutz)gesetzen zugesprochen wurde, die aber in den vergangenen zehn Jahren angesichts der fachlichen und wissenschaftlichen Diskussionen um frühe Bildungsprozesse in der Praxis, in Aus- und Weiterbildung und in öffentlichen Diskursen zunehmend aus dem Blick geraten war. Erzieherinnen und Erzieher, die für die Kinder zuständigen pädagogischen Fachkräfte, werden nun zunehmend auch zu Fachkräften für Kinderschutz qualifiziert.
Angesichts der steigenden Gefährdung von Kindern durch die Folgen von Armut in den Familien, durch falsche, schlechte oder mangelnde Ernährung und nicht zuletzt aufgrund von Missbrauch durch (sexuelle) Gewalt ist diese Rückbesinnung auf eine für die Kinder existenziell wichtige Aufgabe zu begrüßen. Zu fragen ist aber, wie sich Erzieherinnen und Erzieher für diese neue alte Tätigkeit qualifizieren (können), wie sich ihr professioneller Alltag dadurch verändert und ob der Kindergarten wirklich ein guter Ort für die Prävention von Missbrauch und Gewalt ist. Schauen wir auf Fort- und Weiterbildungen zur Fachkraft für Kinderschutz, so treffen wir auf höchst unterschiedlichen Orientierungen, Strukturen, Prozesse und Ergebnisse. Unbekannt ist, wie sich das Wissen und die angestrebten Haltungen in die Praxis übertragen lassen, wie und ob Erzieherinnen und Erzieher ihren täglichen Umgang mit Kindern und Eltern verändert haben und ob sich diese neue Orientierung auf ihre Sicht auf kindliche Bildungsprozesse auswirken wird. Und: Es geht seit Langem einmal wieder um kindliche Sexualität - ein Thema, das in der Theorie wie in der Praxis kindlicher Bildungsprozesse allzu lange ausgeblendet wurde.
Kindergärten geraten allerdings mit der Stärkung und Formalisierung ihrer Präventivfunktion in eine in sich widersprüchliche Position gegenüber Kindern und ihren Familien, die der Realisierung eines effektiven Schutzes der Kinder unter Umständen sogar entgegensteht. Dieser Widerspruch bezieht sich zum einen auf das Bild vom Kind, das nun zwischen dem des kompetenten, sich selbst bildenden Subjektes und dem zu schützenden potenziellen Opfer changiert, und zum anderen auf das Verhältnis zwischen pädagogischem Personal und Eltern, da die Letzteren den Erzieherinnen und Erziehern als potenziell Verdächtige erscheinen (müssen), sie aber als "Bildungspartner" auf der Basis von Vertrauen gemeinsam Verantwortung für das Gelingen kindlicher Bildungsprozesse tragen (sollen).
Kinderschutz, Gender und Sexualität
Unklar ist, ob und wie im Kindergarten der Kinderschutz in die traditionellen und originären, auch rechtlich kodifizierten Aufgaben der Bildung, Erziehung und Betreuung kleiner Kinder integriert werden kann, welche Voraussetzungen hierfür gegeben sind, welche Herausforderungen, welche Probleme und welche Lösungswege sich zeigen. Dabei stehen Erzieherinnen und Erzieher, die sich zu Fachkräften für Kinderschutz weitergebildet haben, im Fokus unseres Interesses.[3] Es gilt herauszufinden, aufgrund welchen Wissens und welcher Handlungskompetenzen, mit welcher Haltung die Fachkräfte für Kinderschutz ihre Praxis gestalten und wo sie diese gesamten Kompetenzen erworben haben - konkret, was die entsprechende Weiterbildung zur Generierung dieser Ressourcen beigetragen hat.Kinderschutz richtet sich auf den Schutz der Kinder vor vielfältigen Gefährdungen ihrer Existenz und damit auf Möglichkeiten ihres Aufwachsens unter guten Bedingungen. In modernen Gesellschaften wird Gewalt gegen Kinder und insbesondere die sexuelle Gewalt gegen Kinder als etwas angesehen, was die Gesellschaftsordnung in besonders gravierender Weise stört und deswegen besonders harter Strafen bedarf. Doch die Erkenntnis, dass frühe (sexuelle) Misshandlungen von Kindern das Risiko lebenslanger Beeinträchtigungen der Persönlichkeit vergrößern, hat sich erst in den vergangenen Jahren gesellschaftlich weiterverbreitet. Kinderschutz und Kindeswohl sind nicht ohne die Kategorie Sexualität und ohne den Gender-Begriff zu denken, wobei mit dem Letzteren die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechterverhältnisse gefasst wird.
Sexualität zählt neben Klasse, Ethnizität, Schicht und Gender zu den Strukturkategorien, nach denen gesellschaftliche Ordnung reproduziert wird.[4] Gender wird als Oberbegriff für sozial konstruierte Geschlechterverhältnisse verwandt, der "den gesamten und fragwürdigen Bereich der sozialen Zuweisung von Geschlechtlichkeit umfasst. Gender bezeichnet also die psychischen, sozialen und kulturellen Aneignungen oder Überformungen der Geschlechtlichkeit".[5] Damit wird der Kategorie Gender die Auffassung unterlegt, Geschlecht werde durch Handeln (re)produziert (doing gender);[6]
Genderwissen bezeichnet also Wissen über gesellschaftliche Konstruktion(en) des Geschlechterverhältnisses. Wissen über Sexualität hingegen geht von einer angeblichen biologischen Faktizität aus, das heißt von physischem Handeln biologischer Körper mit eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit.[7] Sexualität wird dabei unterschiedlich definiert: von einem organischen Grundbedürfnis zu gesellschaftlich überformten Verhaltens- und Erlebensweisen[8] über die Biopsychosozialität (Einheit von biologischen, psychischen und sozialen Elementen) des Menschen[9] hin zu einer allgemeinen Lebensenergie.[10] Unter Sexualwissen wird also das Wissen über die Konstruktion(en) von Körper, Leiblichkeit und Sexualität zusammengefasst.
Über kindliches Sexualwissen liegen nur einige empirische Untersuchungen vor,[11] auch die Kenntnisse von Eltern über menschliche Sexualität im Allgemeinen und kindliches Sexualhandeln im Speziellen sind kaum erforscht.[12] Was Erzieherinnen und Erzieher über die Entwicklungen kindlicher Sexualität und kindlichen Sexualwissens wissen, bleibt - was empirische Daten angeht - bislang ebenso ein Desiderat der Forschung. Kindliche Sexualität ist im pädagogischen Diskurs so sehr marginalisiert, dass Fragen nach dem Charakter kindlicher Sexualität - etwa, ob sie der von Erwachsenen grundsätzlich gleicht oder nicht - kaum gestellt werden.[13] Nur latent kommt das Thema vor: Sexuelle Gewalt gegen Kinder wird zwar im Kontext generationaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse untersucht,[14] ohne aber kindliche Sexualität selbst zu thematisieren.[15] Kinderschutz wird definiert als Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen Älterer,[16] zunehmend aber auch als Schutz der Kinder vor Sexualität überhaupt.
Über kindliche Sexualität in ihren Ausformungen und Erscheinungsweisen in Verhalten und Erleben ist wenig bekannt. In der Praxis beobachten viele Eltern, Erzieherinnen und Erzieher kindliche Verhaltensweisen, die sexuell erscheinen (Masturbation, "Doktorspiele", Versuche des Geschlechtsverkehrs). Inwieweit diese Verhaltensformen auf sexuelle Wünsche, Bedürfnisse, Erlebnisse zurückgehen, ist bisher unbekannt. Innerhalb der Sexualitätsforschung zu kindlicher Sexualität stehen sich zwei Positionen gegenüber: die homologe und die heterologe. Die homologe Position geht davon aus, dass sich kindliche und erwachsene Sexualität im Verhalten nicht unterscheiden. Die heterologe Position bezieht aber individuelle Erlebnisse mit ein: Damit wird auf individuelle Motivation geblickt, die durchaus auch nicht sexuell sein kann. Insgesamt mag es sein, dass sexuelles Verhalten von Kindern nicht sexuell erlebt ist. Denkbar ist aber auch, dass sexuelles Verhalten von Kindern sexuell erlebt und empfunden wird. Weitere quantitative wie qualitative Arbeiten sind dringend vonnöten.[17]
Aus einer rein biologischen Position heraus bleibt die kindliche Sexualbetätigung folgenlos: Kinder sind (in der Regel) nicht geschlechtsreif. Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive heraus ist Kindern wahrscheinlich zu wünschen, sexuelle Erlebnisse zu haben: Sie können sexuelles Wissen erwerben, ihren Körper kennenlernen, ihre Lust kennenlernen, auch erfahren, was sie sexuell bevorzugen - und was eben nicht. Auch das mag zu Selbstbewusstsein und Resilienz beitragen. In der Praxis stehen Erzieherinnen, Erzieher und Eltern meist hilflos vor den Ausprägungen kindlicher Sexualität und reagieren möglicherweise mit Wegschauen, Verschweigen, Nichtstun, Ignorieren - auch aus Angst. Wünschenswert aber ist ein Hinschauen: Wer erlebt Sexualität mit wem und warum? Welche Kinder werden warum und von wem gewählt? Hinschauen ist wichtig, um spätere Opfererfahrungen möglichst frühzeitig zu unterbinden.[18]
Bis heute wird die Verschränkung von Macht, Herrschaft und Sexualität, wie sie die antiautoritäre Erziehung der 1960er Jahre mit dem Ziel ihrer Aufhebung postulierte, für den Elementarbereich der Bildung weitgehend ausgeklammert. Mangelnde Berücksichtigung kindlicher Sexualität in geduldeter Form ("Doktorspiele") als auch in unerwünschter Form (sexuelle Übergriffe unter Kindern), führt dazu, dass kindliche Sexualität trotz ihrer Relevanz für die kindliche Entwicklung und als eines ihrer grundlegenden Bildungsprojekte weitgehend missachtet wird. Kinder sind als sexuelle Akteure mit je eigenen sexuellen Verhaltens- und Erlebensweisen im pädagogisch-praktischen Diskurs kaum präsent,[19] theoretische Diskurse und systematische Untersuchungen fehlen nahezu vollständig.
Gender und Sexualität durchziehen als Phänomene aber alle gesellschaftlichen Bereiche. Auch die frühkindliche Lebensphase ist geprägt durch einen Entwicklungsprozess, in dem die Kinder eine geschlechtliche und eine sexuelle Identität sowie umfassendes Gender- und Sexualitätswissen erwerben müssen. In diesem Zusammenhang ist auf Gender als existentiell wichtiges Bildungsprojekt zu verweisen, das alle anderen Bildungsthemen durchzieht und ihnen zugrunde liegt.[20] Dabei wird Bildung als Selbstbildung und Konstruktion nicht nur der eigenen Geschlechtlichkeit, sondern auch der eigenen Sexualität aufgefasst. Während Geschlechtsbildung den Prozess der Auseinandersetzung mit den Spielräumen, aber auch mit den Vorgaben der gesellschaftlichen Norm, sich zu einem von zwei Geschlechtern zugehörig zu fühlen, umfasst, bleibt der Prozess sexueller Bildung eher unverstanden. Es geht dabei um die Ausbildung sexueller Identität, die Ausprägung sexueller Orientierung, die Entwicklung eines sexuellen Habitus und somit um sexuelles "Kapital". Es handelt sich demnach um hochkomplexe und zugleich vermischte Prozesse, die weder in ihren Teilen noch in ihrer Gesamtheit auch nur annähernd angemessen erforscht sind.
Gender und Sexualität als lebenslang unabgeschlossene Prozesse erlangen somit schon frühzeitig einen "Masterstatus" in Bezug auf Bildung, das heißt, Gender und Sexualität durchziehen alle anderen Bildungsprozesse und prägen diese zumeist unerkannt. Damit steht der Kindergarten (und mit ihm die in ihm arbeitenden Erzieherinnen und Erzieher) in einem Zwiespalt: Kindergarten als primär weibliches Genderterritorium ist ein Ort der Bildung. Gender, Bildung, kindliche Sexualität und ein pädagogisch angemessener Umgang mit kindlicher Sexualität stellen in den meisten Kindergärten heute aber immer noch eine terra incognita dar.
Im Zentrum der Kinderschutzidee steht allerdings implizit wie explizit eine enge und nahezu unauflösliche Beziehung zwischen kindlicher Sexualität und Machtmissbrauch bis hin zur Gewalt durch Erwachsene. In diesem Denkmodell wird das Kind als Objekt und Opfer betrachtet, gipfelnd in der Vorstellung, dass es sich um Wesen gänzlich ohne eigene Sexualität handelt. Da ist es schwierig, das Kind als Subjekt seiner Sexualität in das professionelle und pädagogische Kindbild zu integrieren. Zudem bedürfte es zur Entwicklung einer Vorstellung vom Kind, das Subjekt auch seiner sexuellen Bildungsprozesse ist, sowie eines angemessenen pädagogischen Umgangs damit nicht zuletzt der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Eltern. Dieses aber ist vermutlich durch die Einführung der Kinderschutzfunktion in den Kindergarten eher gefährdet als gefördert. Hier tun sich schwerwiegende, zum Teil paradoxe Anforderungen an das Handeln der Erzieherinnen und Erzieher auf.