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Gesundheitspolitik Editorial Gesundheit - kein Produkt wie jedes andere Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003 Chancen einer Gesundheitsreform in der Verhandlungsdemokratie Chronische Gesundheitsprobleme Was kann Deutschland lernen?

Gesundheit - kein Produkt wie jedes andere

Jutta Hoffritz

/ 9 Minuten zu lesen

An tief greifenden Reformen im Gesundheitswesen führt kein Weg vorbei. Trotz wachsenden Problemdrucks dürfe jedoch, so die Autorin, nicht aus dem Blick geraten, dass Gesundheit kein Produkt wie jedes andere sei.

Einleitung

Gesundheit ist ein Thema, über das die meisten erst nachdenken, wenn es irgendwo zwickt. Manche sträuben sich selbst dann noch, denn häufig verursacht eine Behandlung erst zusätzliche Schmerzen, bevor sie Linderung verschafft.

Ähnlich ist es mit der Gesundheitspolitik. Reformen sind schmerzhaft - und doch führt kein Weg an ihnen vorbei. Früher galt die Patientenversorgung hierzulande als beispielhaft - innovativ, gerecht und bezahlbar. Deutschland fungierte als "Apotheke der Welt". Deutsche Arzneien nährten die Hoffnung, dass irgendwann jedes Leiden heilbar sein würde. Wer Pharmazie oder Medizin studierte, hatte sein Glück gemacht. Gleichzeitig war die Gesundheitsversorgung für jedermann erschwinglich: Vor drei Jahrzehnten zahlte man in Deutschland nur acht Prozent seines Lohnes an die Krankenkasse. Kostenerwägungen waren in den Kliniken tabu.

Das war einmal. Seither stiegen die Krankenkassenbeiträge beständig: Inzwischen liegen sie bei über 14 Prozent. Und allen bisherigen Bemühungen zum Trotz öffnen sich immer wieder neue Finanzierungslücken. Zwar macht die Wissenschaft weiter große Fortschritte: Krebspatienten können heute gerettet, Herzen, Nieren und Lebern verpflanzt werden. Früher galt Aids als Todesurteil, inzwischen leben die Patienten oft Jahrzehnte mit dieser Diagnose. Das Virus hat viel von seinem Schrecken verloren. Und möglicherweise gibt es sogar bald eine Impfung gegen die Immunschwächekrankheit.

Allerdings stammen die Arzneien und Therapien, die all das ermöglichen, immer häufiger aus dem Ausland. Deutschlands Gesundheitssystem hat seine Innovationskraft eingebüßt. Es ist teuer und mittelmäßig geworden.

Und gerecht ist das System auch nicht, weil es die Arbeitenden einseitig belastet. Wer hauptsächlich von Miet- und Zinseinnahmen lebt, muss davon kaum etwas für die Gesundheit abgeben. Früher fiel das nicht ins Gewicht, weil es weniger Aktien- und Hausbesitzer gab. Inzwischen ist das anders. Außerdem zahlten in Zeiten der Vollbeschäftigung viele wenig für die Gesundheitsversorgung. Durch die hohe Arbeitslosigkeit dreht sich die Situation um. Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr bezahlen. Gleichzeitig wirken Kassenbeiträge - so, wie sie in Deutschland erhoben werden - wie eine Art Steuer auf Arbeit. Sie verteuern Jobs und belasten ihrerseits den Arbeitsmarkt: ein Teufelskreis.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen unseligen Kreislauf zu durchbrechen. Man könnte erstens die Krankenkassenbeiträge unabhängig vom Arbeitseinkommen erheben, wie dies etwa in der Schweiz praktiziert wird. Wenn jeder Bürger einen Beitrag für seine Gesundheitsversorgung leistete, wären Pro-Kopf-Pauschalen von etwa 200 Euro fällig. Für Kleinverdiener mit großen Familien wäre das allerdings ein Problem. Die kostenlose Mitversicherung von Ehegatten und Kindern, wie wir sie von den gesetzlichen Kassen gewohnt sind, ist dabei nicht vorgesehen. In diesem Fall müsste die Versicherung für Arme aus Steuermitteln subventioniert werden. Ökonomisch betrachtet ist das durchaus sinnvoll. Statt an zwei Stellen umzuverteilen und die Krankenkasse zur Außenstelle des Finanzamtes zu machen, würden die Wohltaten gebündelt und so die Verwaltung vereinfacht. Allerdings würde das bisher sich selbst tragende System der Gesundheitsversorgung zum milliardenschweren Budgetrisiko für die Regierung - eine Horrorvorstellung für jeden Finanzminister.

Eine zweite Reformalternative bestünde darin, das bisherige System nicht abzuschaffen, sondern durch eine Verbreiterung der Beitragsbasis zu stabilisieren. Dabei würde man Beamte, Selbstständige und "Besserverdiener", also alle jene, die bisher privat oder per Beihilfe versichert sind, nach und nach in die gesetzliche Krankenkasse einbeziehen. Das Resultat wäre eine "Bürgerversicherung". Auch dafür spräche einiges. So ist nicht einzusehen, wieso in unserem "solidarischen" Gesundheitssystem Arme für ganz Arme mitbezahlen, während sich die Stärksten der Gesellschaft aus der Solidarität verabschieden dürfen. Für die Privatversicherungen wäre bei dieser Variante kein Platz, was die Lobbyisten der Assekuranzbranche auf den Plan rufen dürfte.

So ist nicht schwer zu verstehen, warum sich die Politik mit der Entscheidung so schwer tut. Auf der einen Seite drohen gewaltige Budgetrisiken, auf der anderen Seite die Auseinandersetzung mit einer der mächtigsten Lobbygruppen der Republik. Interessanterweise drängte deshalb weder die Regierung noch die Opposition darauf, diese Finanzierungsfragen in die aktuellen Reformgespräche einzubeziehen. Beide delegierten diese Frage an Expertenkommissionen, die ihre Vorschläge erst vorlegen werden, wenn die aktuelle Reform längst abgeschlossen sein dürfte.

Dennoch spricht vieles dafür, sich mit diesen grundsätzlichen Dingen bald zu befassen. Denn alles, was das Gesundheitssystem momentan belastet, ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Probleme, die künftig wegen der demographischen Entwicklung drohen. Die Altersstruktur verändert sich; Deutschland vergreist. Nun ist es zwar das Ziel jedes Gesundheitssystems, den Tod hinauszuzögern. Andererseits belastet diese demographische Veränderung die Kassen. Die steigende Lebenserwartung, für den einzelnen Bürger erfreulich, wird für die Gesellschaft als Ganzes zur Belastung. Das Hauptproblem sind - anders als meist behauptet - nicht die Wehwehchen der Senioren. Wir werden nicht nur immer älter; wir bleiben auch länger fit. Und betrachtet man die gesamte Lebensspanne, so häufen sich die Leiden (und damit auch die Behandlungskosten) erst in den letzten sechs Monaten vor dem Tode - ob dieser mit 60 oder 90 Jahren eintritt.

Entscheidender ist der Einfluss der Vergreisung auf die Einnahmen des Gesundheitssystems, denn Rentnerinnen und Rentner zahlen bei den gesetzlichen Krankenversicherungen geringere Beiträge. Künftig wird also der Anteil derer wachsen, die wenig einzahlen. Gleichzeitig schrumpft durch den Geburtenrückgang die Zahl der Erwerbstätigen, die volle Beiträge leisten. Spätestens ab 2010 wird das deutsche Gesundheitswesen enorme Einnahmeprobleme zu bewältigen haben.

Bei den Leistungen gibt es schon jetzt Mängel. Soreklamiert der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen Defizite vor allem bei chronischen Krankheiten. Hierzulande sterben Frauen an Brustkrebs, weil Geschwüre nicht rechtzeitig erkannt werden. Zuckerkranke büßen Sehkraft oder sogar Gliedmaßen ein, weil Ärzte es versäumen, bei den Diabetikern routinemäßig auf Augen und Füße zu achten. Asthmatiker werden mit Erstickungsgefahr und Todesangst ins Krankenhaus eingeliefert, obwohl sich die schweren Anfälle durch den korrekten Umgang mit Arzneien und Messgeräten vermeiden ließen.

Herrscht also Unterversorgung? Die Statistiken sprechen eine andere Sprache. Deutschland leistet sich pro Bürger mehr Ärzte und Krankenhausbetten als fast jedes andere Land auf der Welt, doch offensichtlich werden die vorhandenen Kapazitäten nicht sinnvoll genutzt. Nach Angaben der OECD für das Jahr 2000 unterhielt Deutschland 6,5 Klinikbetten für je 1000 Einwohner. Damit liegen wir - zusammen mit Ungarn und der Tschechischen Republik - an der Weltspitze. In den USA sind es durchschnittlich 3,1 Betten, in der Schweiz4,4.

Auch bei den Ärzten (3,6 pro 1000 Einwohner) liegen wir weit vorn, überholt nur von Italien (6) und Österreich (3,9). Die Zahl der Ärzte allein sagt wenig aus. Zwar gilt für die meisten Branchen, dass die Produkte umso besser und die Preise umso niedriger sind, je mehr Anbieter sich am Markt tummeln. Doch die Krankenversorgung ist eben kein normaler Markt. Bei Dienstleistungen wie der des Friseurs entscheidet der Kunde, wie oft er sich die Haare schneiden lassen will. Wer krank ist, muss behandelt werden. Ob operiert wird und wie oft der Patient zur Nachuntersuchung kommt, bestimmt der Arzt. Anders als in anderen Branchen entscheidet nicht der Nachfrager, sondern der Anbieter über die Höhe der Nachfrage.

Und weil wir nicht wollen, dass jeder nur soviel Gesundheit bekommt, wie er Geld zur Verfügung hat, haben wir die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Die Gesundheitsbranche funktioniert über weite Strecken nach den Regeln einer Planwirtschaft. Die Preise für ärztliches Leistungen entstehen nicht durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage, sie werden kartelliert zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen ausgehandelt. Was die Behandlung eines einzelnen Patienten kostet, erfährt weder seine Kasse noch er selbst.

Soviel Intransparenz muss zu Ineffizienz führen. Tatsächlich ist neben der Unterversorgung auch die Überversorgung ein Problem. Mitte der neunziger Jahre befragte Friedrich Wilhelm Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover deutsche Ärzte nach Standards der Schulmedizin. Es ging um ganz alltägliche Eingriffe: um Bandscheiben- und Bypass-Operationen am Herzen, die Entfernung von gutartigen Geschwülsten an Prostata und Gebärmutter, also Eingriffe, die in Deutschland jedes Jahr tausendfach vorgenommen wurden. Das erstaunliche Ergebnis der Befragung: Über die Hälfte der Ärzte hätten bei sich selbst auf Bandscheiben- und Bypass-Operationen verzichtet. Über die Hälfte der Mediziner und Medizinerinnen hätten bei sich selbst gutartige Prostata- oder Gebärmuttergeschwülste nicht entfernen lassen. Die Studie lässt die Schlussfolgerung zu, dass Mediziner bei ihren Patienten großzügiger schneiden, als sie das am eigenen Leibe dulden würden.

Auch bei den Arzneien wird Überfluss gefördert. Zwar ist es sinnvoll, innovative Medikamente durch hohe Preise zu belohnen. Aus diesem Grund gibt es den Patentschutz. Dabei wird Erfindern für einige Zeit die exklusive Vermarktung zugesichert, damit sich die hohen Forschungsinvestitionen bezahlt machen. Doch andererseits sollen die Forscher in den Pharmafirmen auch einen Anreiz haben, weiter zu suchen. Nach Ablauf der Patentfrist dürfen deshalb andere Hersteller die Rezeptur nutzen, um Nachahmerpräparate herzustellen. Diese haben die gleiche Wirkung wie das Original, sind aber in der Regel billiger.

Für die Originalhersteller ist der mit dem Patentablauf beginnende Konkurrenzkampf besonders kritisch, wenn es den Forschern der Firma nicht gelingt, rechtzeitig etwas Neues erfinden. Dann versuchen die Hersteller häufig, bewährte Präparate zu optimieren. Damit wird das Problem der Konzerne zum Problem der Kassen. "Schritt-Innovation" nennt es die Arzneimittelindustrie, wenn der Patient sein bewährtes Medikament nur einmal statt dreimal am Tag einnehmen muss. "Schein-Innovation" klagen die Kassen, die der Pseudo-Fortschritt teuer zu stehen kommt. Statt auf billigere Nachahmerprodukte umzusteigen, lassen sich die Patienten weiter hochpreisige Pillenpackungen verschreiben.

Natürlich sind die deutschen Pharma-Manager nicht die einzigen, die solche Tricks kennen. Aber anderswo, etwa in den USA, müssen sich die Hersteller mehr Fragen gefallen lassen, dort werden Medikamente auch einer Kosten-Nutzen-Prüfung unterzogen. In Deutschland wird bei der Zulassung nur geprüft, ob das Medikament die versprochene Wirkung erzielt und ernste Nebenwirkungen vermeidet. Niemand fragt, ob die neue Arznei besser heilt als Altbewährtes. Seit einiger Zeit diskutieren die Gesundheitsexperten auch hierzulande, ob eine solche Zusatzprüfung nicht sinnvoll wäre. Die Industrie wehrt sich vehement. Zum Kreis der Unterstützer zählen - die Krankenkassen.

Doch so sehr die Kassen über hohe Kosten klagen: Sie sind Teil des Problems. Ärzten und Arzneimittelherstellern mögen sie Sparsamkeit predigen, gleichzeitig verbrauchen sie selbst immer mehr Geld. Inzwischen beschäftigen allein die gesetzlichen Krankenkassen rund 150 000 Mitarbeiter, mehr als fast jede Behörde der Bundesrepublik. Lange haben auch Politiker durch Ressort-Egoismen zur Ausbeutung der Kassen beigetragen. Wieder und wieder wurden in den vergangenen Jahren die Krankenversicherungsbeiträge für Rentner oder Arbeitslose abgesenkt. Welcher Minister auch für die Transfereinkommen zuständig war - wenn das Budget knapp wurde, mussten die Krankenkassen bluten. Dadurch gehen ihnen jedes Jahr mehrere Milliarden Euro Beiträge verloren.

Auch die Versicherten tragen Schuld. Sie verhalten sich wie Autobesitzer, die für ihren Wagen eine Vollkaskopolice abschließen und fortan stets zu dicht auffahren und immer knapp einparken. "Moral hazard" nennen Experten dieses Phänomen, wenn eine Versicherung den Versicherten zu verantwortungslosem Verhalten verführt.

Früher waren Polio und Pocken, Masern und Mumps Geißeln der Menschheit. Diese Krankheiten sind zurückgedrängt. Inzwischen richten sich die Wohlstandsbürger weitgehend selber zu Grunde. Sie rauchen, essen und trinken zu viel und bewegen sich zu wenig. Altersdiabetes ist inzwischen schon bei Kindern auf dem Vormarsch.

Schon heute strangulieren die chronischen Krankheiten die Kassen. Ein Fünftel der Versicherten verursacht vier Fünftel der Kosten. Eigentlich müsste es bei den Krankenkassen ähnlich wie bei der Autoversicherung verschiedene Risikoklassen geben, mit Rabatten für dünne Dauerläufer und Aufschlägen für Kettenraucher und Korntrinker. Darüber diskutieren die Versicherer zwar immer wieder, doch vor allem aus Marketinggründen, weil sie jung-dynamische Gutverdiener anlocken wollen. Niemand kann ernsthaft glauben, durch Boni einen Faulen zum Frühsport zu verlocken. Den Kassen selbst sind exakte Bonussysteme mit risikoadäquaten Beiträgen zu aufwändig. Denn dabei müssten sie ihren Mitgliedern Tag und Nacht hinterherschnüffeln.

Die Gesundheitsindustrie ist keine normale Branche. Wegen der vielen Intransparenzen diagnostizieren Ökonomen bei der Krankenversorgung ein Marktversagen. Nicht nur Ärzte, Arzneimittelhersteller und Kassen, auch die Patienten haben es sich im System allzu bequem gemacht. Deshalb ist die Politik gefragt. Mit mäßigem Erfolg: In Deutschland folgte in den vergangenen Jahrzehnten eine Reform der nächsten. Allerdings gibt es kein Land, das nicht danach strebt, seine Krankenversorgung besser und effizienter zu gestalten.

Das mag in der Natur der Sache liegen: Solange auf der Welt noch gestorben wird, kann kein Gesundheitsminister seine Aufgabe als erledigt betrachten.

Dipl.-Volkswirtin, geb. 1966; Redakteurin der Wochenzeitung Die Zeit.
Anschrift: Die Zeit, Speersort 1, 20095 Hamburg.
E-Mail: E-Mail Link: hoffritz@zeit.de

Zahlreiche Veröffentlichungen und Kommentare zur Wirtschafts-, insbesondere zur Gesundheitspolitik.