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Pop Star Wars | Musik und Gesellschaft | bpb.de

Musik und Gesellschaft Editorial Mozarts Frieden: "Nicht von dieser Welt" Wie den Frieden in Töne setzen? Vom ersungenen Frieden in Opernwelten Musik in einem unfriedlichen Zeitalter Pop Star Wars Musik als Medium der politischen Bildung Musik in nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Pop Star Wars

Dietrich Helms

/ 16 Minuten zu lesen

Die Anschläge vom 11. September 2001 erschütterten auch die Popmusikszene. Hunderte von Songs wurden in den Monaten danach über die Attentate geschrieben.

Einleitung

Nichts wird mehr so sein, wie es war". Unter den Erinnerungstrümmern, welche die mediale Bilderflut nach dem 11. September 2001 hinterlassen hat, findet sich dieser eine Satz in allen Medien, an Stammtischen, aber auch in Songs, die in den Tagen danach entstanden sind: wörtlich in Titel und Refrain eines Tracks des deutschen Rappers Curse, in Variationen bei Alan Jackson (Where Were You [When The World Stopped Turning]) und in kaum zufälliger Ähnlichkeit beim deutschen Schlagersänger Christian Anders (Der Tag, an dem die Erde stillstand) oder bei Ethan Daniel Davidson, der sich allerdings mit der Globalisierung der Katastrophe nicht zufrieden gab (The Day the Universe changed).

Hinter der banalen Weisheit, dass man auch schon vor "9/11" nicht zweimal in denselben Fluss steigen konnte, verbirgt sich noch eine andere Erkenntnis: Katastrophen sind nach dem ursprünglichen griechischen Wortsinn Momente der Wende, der Umkehr. Es sind Zeitpunkte, an denen man sich umschaut, sich plötzlich der Gegenwart bewusst wird. Wie ein Filmriss katapultiert die Katastrophe den Beobachter in eine andere Welt. Der Fluss der Zeit ist unterbrochen, der Blick zurück sucht nach Ursachen und Anhaltspunkten für einen wahrscheinlichen Fortgang der Geschichte. Wie der Filmriss lenkt auch die Katastrophe den Blick auf die sonst unsichtbare Mechanik, die den Lauf der Geschichte produziert. Manches, so wurde mit dem Einsturz der Zwillingstürme deutlich, hatte schon lange vor "9/11" nicht mehr so funktioniert, wie man es in der Wahrnehmung immer noch gern vorausgesetzt hatte. Hinterher ist man immer klüger, oder, wie Fanny van Dannen in seinem Lied 11. September schrieb: "Das soziale Klima war immer schon eigentlich viel zu kühl. / Also ich hatte schon vor dem 11. September oft ein Scheißgefühl."

Das historische Ausmaß der Katastrophe ist kaum an der Höhe von Opferzahlen und Schadenssummen zu messen. Deutlicher wird die Bedeutung der Katastrophe an der Zahl der Lebensbereiche, die tatsächlich zum Blick zurück, zur Neubewertung oder erneuten Bestätigung der Werte gezwungen wurden. Den Bereich von Kunst und Kultur hatten in den hundert Jahren vor "9/11" nur die großen, globalen Katastrophen berührt: die Weltkriege vor allem und der Vietnamkrieg. Eines der vertrauten Weltbilder, die am 11. September 2001 erschüttert wurden, war die von vielen, besonders älteren Popfans gern gehegte Vorstellung, die populäre Musik oder doch zumindest gewisse Genres würden sich für den Frieden engagieren. Das Gegenteil war zunächst der Fall.

Von der Countrymusic hatte man den Ruf zu den Waffen wahrscheinlich noch am ehesten erwartet: Noch im September 2001 hielt die Charlie Daniels Band mit This ain't no rag, it's a flag die Fahne hoch und verkündete, dass schon bald der amerikanische Adler auf seine Feinde niederstoßen würde. Wesentlich deutlicher wurde Toby Keith in Courtesy of the Red White & Blue: "We'll put a boot in your ass, it's the American way." Nahezu prophetisch, wenn auch sicherlich nicht ganz im Sinne des Autors, lesen sich heute zumindest im alten Europa die Verse der anschließenden Strophe: "And the eagle will fly, and there's gonna be Hell / When you hear Mother Freedom start ringing her bell!" Keine neuen Töne für die Country music, die bereits zu Zeiten des Vietnamkriegs die Verteidigung der Freiheit durch die Entfesselung der Hölle propagiert hatte.

Der gute alte Rock aber war bisher immer auf der anderen Seite gewesen. Für den traditionsbewussten Rockfan kam der Augenblick der Wahrheit, als Neil Young im November 2001 mit Let's Roll in die gleiche Kerbe schlug. Ausgerechnet Young, Woodstock-Veteran und Vietnamkriegs-Gegner, forderte indirekt in seiner Musik und deutlicher in Interviews zur bewaffneten Aktion auf. Die Friedenstaube war längst und unbemerkt zum Falken mutiert: "Let's roll for freedom, / Let's roll for love, / Goin' after Satan, / On the wings of a dove."

"Are you guys ready? Let's roll." In diesen letzten an Ground Control übermittelten Worten des Buchhalters Todd Beamer, der den Widerstand gegen die Entführer an Bord des Flugs United Airlines 93 anführte und bewirkte, dass die Maschine nicht in das Weiße Haus, sondern in einen Acker irgendwo in Pennsylvania stürzte, hallt das Idiom des Rock 'n' Roll wider. In einem guten Dutzend Songs pflanzte sich dieses Echo fort, verstärkte sich und machte die Worte zu einem Symbol für den Widerstand gegen den Terrorismus. Für einige Wochen stand die Front von Country über Rock bis hin zum HipHop. Der Geist von Woodstock, der immer noch in vielen Köpfen spukte, die Idee, dass Rock für ein friedliches Miteinander steht, war endgültig als weltferner Wunschtraum entlarvt.

Betrachtet man die Geschichte der populären Musik, so haben Songs mindestens genauso häufig für den Krieg Stellung bezogen wie dagegen. Von den "jingo songs" der englischen Music halls zu Zeiten des Krimkrieges (1853 - 1856) über die deutschen Marschschlager der Jahre vor den beiden Weltkriegen, die zuverlässig anzeigten, dass die Berliner Luft, Luft, Luft wieder dicker wurde, über die vielen Lieder von süßen Pralinésoldaten (Musik: Oscar Straus, 1908) und Treuen Husaren (Musik: Heinrich Frantzen, 1924) bis hin zu Freddys Hundert Mann und ein Befehl (1966) und jetzt Youngs Let's Roll kann man eine ununterbrochene Tradition konstruieren, auch wenn sich zwischen Kaiserreich und Gegenwart die Motivationen verschoben.

"Der Soldate, der Soldate / Ist der schönste Mann im Staate. / Drum schwärmen auch die Mädchen sehr / für das liebe, liebe, liebe Militär." So sexy wie in dem von Walter Kollo vertonten Lied Der Soldate aus dem "vaterländischen Volksstück" Immer feste druff (1914) ist der moderne Krieger in der populären Musik schon lange nicht mehr. In Deutschland gab Freddy in Eine Handvoll Reis (1966) die Marschrichtung für das Thema Krieg als politische Notwendigkeit in der populären Musik nach 1945 vor: "Wir kämpften in uns'rer Kolonne / für Freiheit und Demokratie." Dass Freddy der einzige Interpret blieb, der das Thema im bundesdeutschen Schlager aufgriff, zeigt, wie sehr der Krieger nach 1945 an Erotik verloren hatte. Ausdruck einer Friedensbewegung ist das Fehlen von Kriegsliedern jedoch noch lange nicht, sondern nur Zeichen einer Verdrängung. Das industrialisierte Abschlachten der beiden Weltkriege hatte sehr deutlich gemacht, dass der Krieger nicht mehr zum gesellschaftlichen Leitbild taugte.

Mit dem Frieden verhält es sich genau entgegengesetzt. In den Kriegs- und Vorkriegszeiten, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu großen Teilen ausmachten, hatte das Wort vom Frieden den garstigen Ruch des Politischen. Die Suche nach entsprechenden Stücken im Repertoire der deutschen Unterhaltungsmusik bleibt ziemlich erfolglos. Bezeichnend: Der Texter Willy Pager schrieb den Refrain seines während des Ersten Weltkrieges komponierten Schlagers Alles kommt einmal wieder (Musik: Rudolf Nelson, 1915) um und die Zeile "Singt man erst Friedenslieder" heraus. Schließlich geht es in den Strophen nur darum, dass die "Schlachtmusik und wieder mal Krachmusik" möglichst bald wieder den unterhaltsameren, unpolitischen Klängen der Friedenszeit weicht, dem Tango, der Polka, "dem Lafulana". Von politischem Frieden mochte nicht die Rede sein, wenn es darum ging, dass bald "jubelnd Fanfaren / blasen Deutschland voran in der Welt": Was träumt Berlin hieß die Revue, in der das Lied von Käthe Erlholz gesungen wurde.

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint das Wort "Frieden" gelegentlich in Schlagertexten, z.B. in der letzten Strophe von Zarah Leanders Wenn der Herrgott will "... dann herrscht ewig Frieden" (Michael Jary, 1950), wobei sich der Wille Gottes allerdings mit dem kleinen Frieden einer verschneiten Winternacht und einem in einem Baum schlafenden Bärchen zu bescheiden scheint. Ein wenig deutlicher wird 1952 der Karnevalshit von Jupp Schmitz "Wir kommen alle in den Himmel". Texter Kurt Feltz klappt in seinen Strophen das Buch der Geschichte mit seinen unschönen Kapiteln zu. Wer was getan hat, ist nicht mehr wichtig, alle sind brav, alle kommen in den Himmel. Frieden ist, wenn man vergisst: "Wenn aus dem Lied man die Lehren zieht. / Dann werden Freund und Feinde vereint, / bis einst die Sonne des Friedens scheint." Ansonsten geht es dem Schlager meist um den "Feierabendfrieden" (Alte Lieder, traute Weisen, 1952), um das eskapistische, weltferne Sei zufrieden (Lukas-Trio, 1957), den Frieden des Unbeteiligten, nicht Betroffenen, den man erreicht, wenn man sich hingibt, aufgibt, abschaltet, alles um sich herum vergisst. Diese Art Frieden allerdings ist für die populäre Musik wie auch für alle anderen Unterhaltungsmedien selbstverständlich. Ein guter Song, ein guter Film, ein spannendes Buch wollen genau das und nichts anderes: die totale Aufmerksamkeit der Konsumenten, die sie in eine Parallelwelt entrückt, die mit ihrem Alltag nichts gemeinsam und außer der verbrauchten Lebenszeit keine Konsequenzen für die Realität hat.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurde diese Haltung allerdings ernsthaft herausgefordert - auch in und mit der populären Musik. Plötzlich erschienen Begriffe in den Texten erfolgreicher Lieder, die zuvor den Song zu einem sicheren Ladenhüter gemacht hätten: Frieden, Freiheit, Gleichheit. Das (I can get no) satisfaction (Rolling Stones, 1965) löste für einige Jahre die Zufriedenheit weltvergessenen, behaglichen Konsums ab. Die Paradoxa, die entstanden, prägen bis heute die Rockgeschichtsschreibung. Der Schrei der Sehnsucht nach Zufriedenheit löste unweigerlich Unfrieden aus. Die Forderung von Frieden wurde zur Kriegserklärung, die Weltflucht in Unterhaltung und Rausch zur politischen Aussage.

Auch wenn es der Schlager gern so gehabt hätte: Man konnte nach dem Zweiten Weltkrieg eben doch nicht mehr einfach dort weitermachen, wo man vorher aufgehört hatte. Als das große Aufräumen beendet war, wurden plötzlich Stimmen sozialer Gruppen auch musikalisch vernehmbar, deren Existenz man zuvor kaum wahrgenommen hatte. In den USA fanden die Afroamerikaner im Civil Rights Movement zusammen. In allen westlichen Industriestaaten begann sich eine soziale Gruppe abzugrenzen, die zuvor nur als Altersgruppe existiert hatte: die Jugend. Wachsender Wohlstand und längere Ausbildungszeiten hatten die Jugend mit Geld und Freizeit beschert. Bald war eine ganze Industrie damit ausgelastet, den neu entdeckten Teens bei der Suche nach einer Identität mit der Bluejeans von der Stange und dem Massenhit auf Singleschallplatte auszuhelfen. Neue soziale Gruppen entstehen immer durch Konflikte, in denen sie sich vom Rest der Gesellschaft abgrenzen. Der Kampf um das, was Jugend definiert, wurde auf dem Gebiet der Freizeit geführt, der Freizeitbetätigung (Provokation "Gammeln"), der Freizeitkleidung (Provokation "Bluejeans"), der Freizeitmusik (Provokation "Rock 'n' Roll"). Die technologische Entwicklung machte es möglich, dass erstmals auch Unterhaltungsmusik produziert werden konnte, die provozierte. Die Provokation konnte dabei nur durch den Sound geschehen: nicht durch ungewohnte Harmonik oder Melodik, sondern durch das Schreien, Stottern, Kieksen des Sängers, das Peitschen des Basses, das Kreischen der Gitarren, das Hämmern des Schlagzeugs oder gar ganz außermusikalisch durch die Persönlichkeit des Interpreten - und all das in einer Brillanz und Unmittelbarkeit, die nur die neusten Medien, die neusten Aufnahmeverfahren ermöglichten. Mit dem Rock 'n' Roll entstand die erste Unterhaltungsmusik, die Aufmerksamkeit erzwingt. Der Zwang zur Aufmerksamkeit provoziert die Stellungnahme: Man muss sie lieben oder hassen. Populäre Musik wurde zu einer Waffe im Generationenkonflikt, politisch wurde sie dadurch nicht.

Erst Jahre später entwickelte sich die Forderung nach selbstbestimmter Freizeit zu einem Politikum. Verschiedene Entwicklungen kamen zusammen. Der Rock 'n' Roll war von Anfang an sowohl Kultur zur Definition von Jugend als auch Produkt zur Erschließung neuer Märkte gewesen. Als die Lawine erst einmal rollte, waren selbst die Krawalle in Kinos und Konzertsälen immer auch Marketing. Vor allem intellektuelle Jugendliche wandten sich bald gegen den Ausverkauf und die Fremdbestimmung von "Jugendlichkeit". Jugend definierte sich weiterhin als Freizeitkultur, doch durch die Politisierung der Freizeit ergab sich die Möglichkeit, die Verflechtung von Freizeit und Markt zu durchbrechen - für kurze Zeit. Man grenzte sich ab durch die Vereinnahmung der Musik von Ausgegrenzten: den Folk und die Arbeiterlieder der weißen Unterprivilegierten und den Blues, den Jazz und den Gospel der afroamerikanischen Minderheit. Die Anteile der "kommerziellen" Unterhaltungsmusik wurden (und werden bis heute) aus der Rockgeschichte herausgeschrieben. Mit dem neuen Bewusstsein von den neuen "Roots" kam das Verständnis von Freizeitbeschäftigung als gesellschaftspolitischer Aktivität. Mit dem Hören von Musik konnte man sich zugleich abgrenzen, sich mit den Ausgegrenzten solidarisieren oder ein Statement gegen die Ausgrenzung abgeben. Folk und Rock 'n' Roll verschmolzen zu einer neuen Einheit, als am 25. Juli 1965 Bob Dylan, zuvor die große Nachwuchshoffnung des Folk-Revival, auf dem Newport Festival mit elektrischer Gitarre und Rockband auf die Bühne trat. Für die Folk-Gemeinde war dies ein Fanal ihrer Kommerzialisierung, für den Rock ein Signal des Aufbruchs gegen die Kommerzialisierung. Texte mit Anspruch und Aussage waren danach Pflicht. Selbst Megastars wie die Beatles konnten nicht mehr mit "Yeah, Yeah, Yeah!" weitermachen.

Der Vietnamkrieg, der 1965 mit dem massiven militärischen Eingreifen der USA eskalierte, lieferte ein geeignetes Thema, das sowohl politisch war als auch als Werkzeug zur Abgrenzung gegen die Welt der Erwachsenen dienen konnte. Im Rock wurde der Vietnamkrieg zum Krieg der Alten gegen die Jugend im eigenen Land umgedeutet. "You're old enough to kill, but not for voting / You don't believe in war, but what's that gun your're toting?" sang Barry McGuire in Eve of Destruction (1965), dem größten Folk-Rock-Hit der frühen Kriegsjahre. Im selben Jahr ergänzte Bob Dylan in I Ain't Marching Anymore (1965): "It's always the old, to lead us to war / And always the young to fall." Am 3. Mai 1970 lösten Soldaten der Nationalgarde eine Demonstration von Studenten gegen die Ausweitung des Vietnamkriegs auf Kambodscha an der Kent State University, Ohio, gewaltsam auf. Vier Demonstranten wurden getötet. Eine Untersuchungskommission des Präsidenten stellte später fest, die Nation sei gezwungen worden "to use the weapons of war upon its youth". Wenig später erreichte Neil Youngs Song Ohio, gesungen von Crosby, Stills, Nash and Young die amerikanischen Top-40: "Tin soldiers and Nixon's coming / We're finally on our own / This summer I hear the drumming / Four dead in Ohio."

Bei allem politischen Engagement waren die Proteste gegen den Vietnamkrieg immer auch Foren zur Definition von Jugendlichkeit. Und so konnten die Songs sowohl von den Kriegern für den Frieden auf den Demonstrationen daheim als auch auf den Schlachtfeldern in Vietnam gehört werden. Jimi Hendrix' Widmung seines Stücks Machine Gun kann auch ganz ohne Ironie verstanden werden: "I'd like to dedicate this one to the draggin' scene that's goin' on - all the soldiers that are fightin' in Chicago, Milwaukee and New York - oh yes, and all the soldiers fightin' in Vietnam."

Zum Höhepunkt und Endpunkt des dreijährigen "Summer of Love" hat die Rockgeschichte das Woodstock Festival ernannt. Die Vision von Frieden jedoch, als deren Verkörperung die "three days of peace and music" vom 15. bis 18. August 1969 auch heute noch gern gefeiert werden, war letztlich nur eine ausgeflipptere Variante der Schlagerzufriedenheit. Woodstock war perfekte Unterhaltung, die Verschiebung eines regendurchnässten Ackers im Bundesstaat New York mitsamt 450 000 Menschen in ein Paralleluniversum, in dem die Gesetze der Alltagswelt nicht galten: Rausch, Traum, Musik und vielleicht sogar ein wenig "freie" Liebe. Woodstock hatte viel weniger mit politischem Engagement zu tun, als die filmische Dokumentation dies suggeriert, durch die das Image von Woodstock erst geschaffen wurde. Als zu Beginn des Festivals der Schrei des schwarzen Sängers Richie Havens nach Freedom ertönte, ersehnten die meisten Besucher noch einen freien Parkplatz oder freie Fahrt auf dem New York State Thruway. Als das Festival endete, um 9 Uhr morgens, einen Tag später als geplant, verhallte Jimie Hendrix' Demontage der amerikanischen Nationalhyme Star Spangled Banner ähnlich ungehört. Wer noch nicht abgereist war, steckte tief im Sumpf des durch Regen aufgeweichten Ackers, des organisatorischen Chaos oder des eigenen Katers. Woodstock war friedlich, weil die Außenwelt draußen blieb.

Mit der Eskalation der Gewalt auf den Demonstrationen und der Flucht in den Untergrund bzw. in eine psychedelische, weltferne Innerlichkeit zerfiel die Koalition von politischer Jugendbewegung und Rock. Die populäre Musik spaltete sich auf in immer mehr Stile, definierte nicht mehr "Jugend", sondern nur noch Fangruppen. Punk war der letzte Versuch, die Fiktion der Musik in den Alltag herüberzuholen, Musik zu leben. Der "Summer of hate" 1976 wurde auch als Reaktion auf die Weltferne der Jugendkultur dieser Zeit und besonders der Hippies propagiert. Ihr Verhältnis zur Alltagswelt war jedoch sehr ähnlich. Das "no future" und die Provokation um der Provokation willen bedeuteten nichts anderes als den Verzicht auf jeden Versuch gesellschaftlicher Einflussnahme. Dass ausgerechnet Malcolm MacLaren, eine der zentralen Figuren des britischen Punk, den Schein einer Abrechnung mit dem Kommerz und der Künstlichkeit der populären Musik als seine wunderbar erfolgreiche Geschäftsidee und einen bewussten Betrug an den Hörern feiert, als The Great Rock 'n' Roll Swindle (Film von Julien Temple, 1980), ist bezeichnend für das Spiegelkabinett, das entsteht, wenn die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufgehoben werden, wenn sich das "no future" von Jugendlichen ohne berufliche und soziale Perspektive in der Perspektiv- und Zukunftslosigkeit der Unterhaltung spiegelt.

In Deutschland hatte der Nato-Doppelbeschluss von 1979 noch einmal deutliche Auswirkungen auf die populäre Musik. Noch einmal gab es eine Friedensbewegung, die Musik für ihre Kundgebungen benötigte. Doch ihre Musik blickte eher zurück in die sechziger Jahre, auf die große Zeit der Bewegung, als auf die Gegenwart oder gar die Zukunft. Die Zunft der Liedermacher feierte ihre letzte Blüte, und man sang noch einmal all die bewegten Hits der Woodstock-Ära. Von den neu komponierten "Friedens"-Liedern blieben nur der proletarische Spaßrockschlager Sieben Tage lang (1980) der holländischen Gruppe bots und das durch den Grand Prix geadelte Ein bißchen Frieden von Nicole (1982) in Erinnerung: erfolgreiche Unterhaltung, im ersten Fall sogar mit ernster politischer Intention. Als solche macht sie es jedoch den Hörern einfach, politische Bezüge der eigenen Weltanschauung beliebig anzupassen oder gar völlig zu übersehen. Bei konkreten Nachfragen können sich die Autoren immer missverstanden fühlen und sich insgeheim über die Publicity freuen, die ein Verdacht politischer Stellungnahme bringt.

Popgeschichte schrieben zur gleichen Zeit nicht die Friedensbewegung oder ihre Schmarotzer, sondern die Neue Deutsche Welle und ihre Epoche machende Regression ins Infantile. Musik musste längst nicht mehr den Anspruch der Jugend auf eine genuine Kultur manifestieren, man konnte sich im Spiel mit Kindern und im Schlager mit Erwachsenen verbünden. Nenas 99 Luftballons (1983) verursachen zwar im Text einen zerstörerischen Krieg, ermöglichen jedoch genauso die kleine Flucht aus der Realität wie der bunte Luftballon, mit dem Alda Noni 1944 den Zerstörungen des Krieges entschwebte (Kauf dir einen bunten Luftballon).

Die Idee, dass Musik die Welt verändern kann, vertritt inzwischen kaum noch ein Musiker, obwohl manche gegen den Krieg geschriebene Lieder sogar erfolgreich waren. Zehn Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs entstanden zum Beispiel Bruce Springsteens Born in the USA (1984) oder Paul Hartcastles 19 (1985). Das Schicksal besonders des erstgenannten Songs ist bezeichnend: Sein Erfolg veranlasste Präsident Ronald Reagan, 1984 in Wahlkampfreden Springsteen als Verkörperung desselben Patriotismus hervorzuheben, den dieser in seinen Songs als scheinheilig kritisierte. Der pathetische Sound von Born in the USA und die vieldeutige, häufig wiederholte Titelzeile des Refrains übertönten offenbar jegliche Autorintention in den Strophen. Überhaupt: Wer denkt an den Religionskrieg in Nordirland, wenn er am Sonntagmorgen verkatert U2s Sunday, Bloody Sunday (1982) hört? Wer denkt an die Bedrohungen des atomaren Krieges, wenn er zu den Songs der Reagan-Ära - zu Culture Clubs The War Song (1984), zu Franky Goes To Hollywoods Two Tribes (1984), zu Stings Russians (1985) - tanzt, träumt, staubsaugt oder Auto fährt?

Statt für die Verwirklichung der Vision vom besseren Leben im Alltag zu streiten, arbeitet die Popindustrie daran, den Alltag in die Fiktion zu transportieren. Nicht nur beim Einkauf und bei der Arbeit, selbst auf dem Stuhl des Zahnarztes werden kleine Fluchten mit Hilfe sanfter Elevatormusic angeboten. Im Fernsehen kann (fast) jeder seine Haut zu Markte tragen und die eigene Nichtigkeit für einige Tage gegen die Rolle des deutschlandweit gesuchten Superstars tauschen. Kein Wunder, dass die Reaktion der Musikindustrie auf "9/11" zunächst eine globale Rücksichtnahme war. In ihrem Bemühen, die Hörer bloß nicht aus ihren Träumen zu reißen, gingen einige Radiostationen sogar so weit, dass sie eine ganze Reihe von Liedern kritischer (oder auch nur moslemischer) Musiker aus ihrem Programm strichen. Die Liste der 150 "lyrically questionable" Songs, die das größte Radio Netzwerk der Welt, Clear Channel Communications mit über 1 200 Sendern in den USA, nach dem 11. September nicht mehr spielen mochte, enthält nicht nur Stücke mit plötzlich makaber gewordenen Titeln wie In The Air Tonight (Phil Collins), Another One Bites the Dust (Queen) oder Knockin' On Heaven's Door (Bob Dylan), sondern auch Klassiker der Friedensbewegung wie John Lennons Imagine, Barry McGuires Eve of Destruction sowie Blowin' In The Wind mit Peter, Paul & Mary.

Ein Schelm, wer sich bei populärer Musik etwas denkt. Selbstverständlich war Freddy nicht für Kriege als solche, und Neil Young war vielleicht auch nie so richtig dagegen. Selbstverständlich hat Immer feste druff keine Schuld am Ersten und Kauf dir einen bunten Luftballon keine Schuld an der Dauer des Zweiten Weltkriegs. Selbstverständlich hat Bob Dylan einfach immer nur gute Musik machen wollen, und Nicole hatte eine Botschaft. Selbstverständlich hat Woodstock etwas mit Vietnam und Imagine nichts mit "9/11" zu tun. Populäre Musik und ihre Bedeutungen sind ein schwieriges Thema. Immerhin dürfen wir sie heute dank des schwindenden Einflusses Adornos auf die Musikpädagogik ohne Reue genießen, ohne nach einer Aussage fragen zu müssen. Die Produktion von Bedeutung wird ohnehin immer schwieriger. Es fällt z.B. auf, dass die World Peace Music Awards, die nach "9/11" gegründet wurden und ein jährliches Konzert sowie eine Preisverleihung organisieren, fast ausschließlich die alten Recken der Woodstock-Ära ehren, wenn es um kritische Stimmen aus den Vereinigten Staaten und Europa geht.

Die neuen globalen Medien machen den Kontakt zwischen Musikern und ihren Hörern immer schwieriger. Wie können Eminem oder Marilyn Manson verhindern, dass ein stiller, ruhiger Junge ihre Texte falsch versteht und zum Amokläufer wird? Welche Kontrolle haben Musiker noch über die Bedeutung ihrer Texte, wenn ein Attentat in New York aus Ob-La-Di Ob-La-Da über 30 Jahre nach der Aufnahme einen Song über Osama Bin Ladin (O. B. Ladi) macht (zumindest in den Ohren der Radiomacher des Clear Channel Netzwerks)? Die Produktion von Bedeutung wird immer mehr zur Aufgabe des Einzelnen.

Zu den seligen Zeiten, als Rock noch die Musik der Jugend war, als es - pauschal gesprochen - nur die Differenz zwischen den Beatles und den Rolling Stones gab, waren alle an der Schaffung von Bedeutung beteiligt, diskutierten über die Authentizität der Aussagen von Revolution und Street Fighting Man. In diesen Jahren musste ein Song eine Aussage haben, Stoff zum Gespräch liefern, um nicht in den Verdacht der Kommerzialität zu geraten. Seitdem ist die Zahl der aktuell zugänglichen Titel und Stile explosionsartig gewachsen. Inzwischen verkörpert jede Band ihr eigenes Genre, und bald ist jeder Hörer sein eigener Fanclub. Aus dem Internet kann man sich die Musik aus 50 Jahren Rockgeschichte und aus jedem Land der Welt herunter laden. Was interessieren da noch Bedeutungen?

Bedeutungen liegen nicht auf alle Zeiten fest zementiert im Material der Musik, sie werden gemacht: in der Kommunikation zwischen Musikern und Hörern, zwischen Hörern und anderen Hörern. Wird diese Kommunikation, dieses kontrollierende Feedback, immer unwahrscheinlicher, kann es passieren, dass ein Song immer mehr bedeutet, so viel, dass Bedeutung schließlich beliebig wird und ein Song das eine, aber auch sein völliges Gegenteil meinen kann. Für jeden Hörer wird das Lied zum Kommentar der eigenen, individuellen Situation, zum Soundtrack der Erinnerung an die Stationen des eigenen kleinen Lebens. Für die Gesellschaft wird Musik dadurch bedeutungslos, harmlos und überhaupt: friedlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu den Angaben über Pop nach "9/11" vor allem Thomas Phleps, 9/11 und die Folgen in der Popmusik I - IV, in: 9/11 - The world's all out of tune. Populäre Musik nach dem 11. September 2001, hrsg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps, Bielefeld 2004, S. 57 - 66, 109 - 130, 169 - 208.

  2. Zit. in: H. Bruce Franklin (Hrsg.), The Vietnam War in American Stories, Songs and Poems, Boston 1976, S. 213.

Dr. phil. habil., geb. 1963; seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik und ihre Didaktik der Universität Dortmund, Emil-Figge-Str. 50, 44221 Dortmund.
E-Mail: dietrich.helms@uni- dortmund.de