Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen
Ethnische Säuberungen
In den seit 1990/91 von Serben kontrollierten Territorien hatten sofort ethnische Säuberungen eingesetzt, die auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken konnten. Der Begriff "ethnische Säuberung" (etnièko ciscenje) ging nach Beginn des Bosnien-Kriegs um die Welt und wurde 1992 in Deutschland zum "Unwort des Jahres" gewählt. Sofern er als Synonym für Völkermord benutzt wird, ist er ein Euphemismus. Da aber nicht alle der unter diesem Wort subsumierten Aktionen dem völkerrechtlich definierten Tatbestand des Genozids entsprechen, müsste man den Begriff "ethnische Säuberung" regelrecht erfinden, falls es ihn nicht schon gäbe. Ethnische Säuberung und Völkermord sind nicht identisch. Der erste Begriff ist umfassender als der juristisch genau festgelegte Genozid. Er bezeichnet alle von einem Staat oder Para-Staat initiierten, ermunterten oder geduldeten Maßnahmen, die dazu dienen, eine national oder ethnisch unerwünschte Bevölkerung von einem bestimmten Territorium zu entfernen, einschließlich dessen, was an ihre bisherige Präsenz erinnern könnte. Ziel ist die Schaffung eines ethnisch und kulturell homogenen ("gesäuberten") Gebiets. Das Spektrum der Maßnahmen reicht von der systematischen Veranlassung zur Flucht (mittels sozialer Marginalisierung, Drohung, Demütigung etc.), der Zerstörung der wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen der betroffenen Bevölkerung über den Bevölkerungsaustausch (Transfer) und die Zwangsvertreibung (Deportation) bis zu Massenvergewaltigung (als strategisches Instrument), Elitozid und Völkermord. Die Ermordung von etwa 8000 Muslimen (Bosniaken) nach der serbischen Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 steht stellvertretend für die vielen Völkermorddelikte und Kriegsverbrechen in den postjugoslawischen Kriegen.[22] Zu deren juristischer Verfolgung hatten die UN bereits am 23. Mai 1993 mit der Resolution 827 einen Ad-hoc-Gerichtshof mit Sitz in Den Haag gegründet.Ethnische Säuberungen sind keine serbische oder balkanische Besonderheit. Sie sind überall möglich, wo entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehören die Verabsolutierung der Ethnonation, die postulierte Deckungsgleichheit von Nation und Territorium, die Definition von Feinden ("Sündenböcken") und deren Entmenschlichung, die Konstruktion von Bedrohungsszenarien und Ängsten sowie die Inszenierung von gewaltsamen Zwischenfällen. Massengewalt bricht nicht aus; sie "ereignet" sich nicht, sondern wird generiert. Auch in Jugoslawien handelte es sich nicht um spontane Reaktionen der Bevölkerung oder sozialer Randgruppen, sondern um organisierte und kalkulierte Gewalt, ähnlich dem Terrorismus.[23] Nicht umsonst spielen in allen Darstellungen zu den Kriegen der 1990er Jahre die paramilitärischen Milizen der "warlords" sowie die Sondereinheiten der (Geheim)Polizei eine prominente Rolle. Sie inszenierten eine Gewalt, die - einmal in die Welt gesetzt - schnell ihre Eigendynamik in der verunsicherten Bevölkerung entfaltete. Die wichtigsten Drahtzieher waren Milosevic und seine Getreuen, die die Gewaltlawine ins Rollen gebracht hatten. Infolge des Dauerbeschusses der Medien seit der nationalistischen Wende in den 1980er Jahren und überrascht von der Gewalt sah sich ein zunehmend großer Teil des Publikums im ehemaligen Jugoslawien bald nur noch in der Rolle von Opfern und verfiel einer fortschreitenden Autohypnose. Opfermythen und "Kriegserinnerungen", insbesondere an den Zweiten Weltkrieg und auf serbischer Seite die "Erinnerungen" an die Kosovo-Schlacht von 1389, beherrschten die öffentliche Wahrnehmung und überlagerten alles, was im Gegensatz zu diesem Deutungsmuster stand. Was die Nationalisten aller Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien in ihrer kollektiven Paranoia und kognitiven Blockade eint(e), war die Vorstellung, dass sie alle im Kampf um Überleben und Zukunft ausschließlich einen Verteidigungskrieg geführt, dass sie getan haben, was angesichts der Bedrohung durch ihre Gegner getan werden "musste" und was jeder "anständige" Mensch in dieser Situation getan hätte.[24] Zwei bis drei Millionen Frauen, Männer und Kinder wurden als Flüchtlinge, Vertriebene oder Ermordete Opfer dieses Gruppendenkens.