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Geopolitische Motive und Probleme des europäischen Einigungsprozesses

Heinz Brill

/ 15 Minuten zu lesen

Der europäische Einigungsprozess weist erhebliche Interessenunterschiede auf. Die Einzelinteressen der Mitgliedstaaten mit einem europäischen Gesamtinteresse in Übereinstimmung zu bringen, ist eine zentrale Aufgabe europäischer Politik.

Einleitung

Die vorliegende Studie analysiert die Rolle und Bedeutung der Europäischen Union (EU) in den internationalen Beziehungen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die EU ein Pol in einer multipolaren Welt mit einer eigenständigen Strategie sein kann. Die Europäische Union sei, so lautet ihre eigene Sicherheitsstrategie im Jahr 2003, "zwangsläufig ein globaler Akteur, sie müsse aber ihre strategischen Ziele aktiver verfolgen". Dabei ist ihr erstes Handlungsfeld der europäische Kontinent, aber auch die Beziehungen zu den anderen Akteuren der Welt müssen zunehmend in die konzeptionellen und strategischen Überlegungen einbezogen werden. Es wird kritisch hinterfragt, inwiefern die EU als Akteur auf globaler Ebene in Teilbereichen als "Global Player" erfolgreich agiert.



Die Bewertung der Positionen der einzelnen europäischen Staaten macht deutlich, dass der europäische Einigungsprozess im Hinblick auf die Finalisierung erhebliche Interessenunterschiede aufweist, dies sowohl im Binnen- als auch im Außenverhältnis der EU. Im Binnenverhältnis geht es um die "innereuropäische Machtbalance"; im Außenverhältnis stellt sich die Frage, wie die Beziehungen zu anderen Großräumen und Staaten im Rahmen einer multipolaren Weltordnung gestaltet werden sollen. Geopolitische Interessen der EU wurden bisher offiziell nicht definiert. Bestimmt wurde nur die Form, in der diese wahrgenommen werden können. Die EU bildet auch in dieser Hinsicht eine große Herausforderung an die politischen Eliten Europas, den "Pol" und die "Interessen" der EU als weltpolitischen Akteur zu orten.

Die Europäische Union ist ein Sonderfall bei der Analyse von Akteuren im internationalen System. Sie ist kein Staat, aber auch mehr als eine "klassische" internationale Organisation. Ihre Grundlage sind zwischenstaatliche Verträge, die aber die Souveränität der vertragsschließenden Staaten erheblich einschränken. Nach Einschätzung der realen Lage wird der "Staatenzusammenschluss" in der EU ein Europa der Nationalstaaten sein. Denn die Option "Staatenbund" weist sowohl bei den Führungsstaaten als auch bei der Mehrheit der EU-Staaten die höhere Akzeptanz aus.

Motive für den europäischen Einigungsprozess

Victor Hugo prophezeite in seiner Eröffnungsrede zum Pariser Friedenskongress von 1849, dass dereinst die Nationen des europäischen Kontinents unter Wahrung ihrer Individualität zu einer "höheren Einheit" verschmelzen werden. Der Tag werde kommen, so der Schriftsteller und Politiker, an dem der Austausch von Ideen und Gütern die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld ersetzen werde. Der Visionär prägte als einer der Ersten den Begriff von den "Etats Unis de l'Europe" ("Vereinigte Staaten von Europa").

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Europa-Idee für weitere Kreise populär. Der österreichische Graf Richard Coudenhove-Kalergi gründete 1923 in Wien die Paneuropa-Union. Coudenhove-Kalergi skizzierte in seinem Buch "Paneuropa" ein umfassendes Programm zur europäischen Einigung. Dabei ging er in klassisch geopolitischer Argumentation von der Überzeugung aus, dass sich die Welt zukünftig, vor allem aufgrund des technischen Fortschritts, in großräumigen Zusammenhängen organisieren werde und dass das in Einzelstaaten zersplitterte kontinentale Europa vier Großmächten gegenüberstehe: den USA, Russland bzw. der Sowjetunion, Großbritannien und Ostasien. Europa, das seine einstige Weltgeltung durch den Krieg verloren habe, gleichzeitig aber als einziger Großraum noch nicht politisch und wirtschaftlich organisiert sei, müsse nun ebenfalls ein "politisch-wirtschaftliches Zweckbündnis" bilden, um sich gegenüber den anderen Großräumen behaupten zu können. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Pläne für das "Projekt Europa" in konkrete operative Politik umgesetzt werden.

Ausschlaggebend waren für die westeuropäischen Staaten zunächst sicherheitspolitische, historisch-politische und geoökonomische Motive, um nicht völlig in die Abhängigkeit der damaligen Hegemonialmächte USA und UdSSR zu geraten. Denn die Interessen der beiden Supermächte überlagerten lange Zeit jede selbständige politische Aktion des alten Europa. In geoökonomischer Hinsicht von besonderem Interesse und motivierend für den weiteren Zusammenschluss der europäischen Staaten waren unter anderem die Schriften des französischen Publizisten Jean-Jacques Servan-Schreiber. Er veröffentlichte im Jahre 1967 das Buch "Die amerikanische Herausforderung", in dem er die These vertrat, dass Amerika den alten Kontinent mit seiner weit fortschrittlicheren Wirtschaftsorganisation bald überflügeln werde. Die große Schockwelle, die dieses Buch auslöste, machte den Autor europaweit bekannt.

Den Zusammenschluss der europäischen Staaten politisch zu begründen, scheiterte zweimal: Zuerst war Großbritannien 1949 dagegen, dass der neugegründete Europarat in Straßburg als Zweck und Ziel unter anderem "die Schaffung einer europäischen Autorität" haben sollte. Dann stimmte die französische Nationalversammlung im Jahre 1954 gegen eine "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" - und damit gegen die "Politische Union". Seither wird die Einigung Europas primär ökonomisch vorangetrieben.

Dieser Mangel an politischer Priorität ließ sich auch zu Beginn der 1990er Jahre nicht beheben. Noch am 6. November 1991, einen Monat vor der entscheidenden Konferenz von Maastricht über die Zukunft Europas, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sinngemäß im Deutschen Bundestag: Zunächst müssten die Grundlagen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gelegt werden; das sei das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die Vorstellung sei abwegig, die Gemeinschaft auf Dauer ohne den Status einer "Politischen Union" gestalten zu wollen. In Maastricht aber beugte sich Kohl der traditionellen EU-Logik, wonach die Ökonomie die Politik schon irgendwie mitziehen werde.

Damit war die europäische Einigung in der Form, wie sie in Westeuropa in den 1950er Jahren begann und seit dem Ende der 1980er Jahre einen Quantensprung erlebte, hinsichtlich ihrer historisch-konkreten Antriebe und Rahmenbedingungen substantiell anderer Art als die Vorgaben der ersten Ideengeber. Zusammenfassend können folgende Motive für den europäischen Einigungsprozess für wesentlich erachtet werden:

  • Einbindung des deutschen Potentials: "Kontrolle durch Integration";

  • Lehren aus den selbstzerstörerischen Kriegen des 20. Jahrhunderts;

  • Europa als "Dritte Kraft" zwischen den Weltmächten USA und UdSSR;

  • Europa - Pol in einer multipolaren Welt;

  • Schaffung eines wirtschaftspolitischen Großraums im Zeitalter der Globalisierung;

  • Neue Supermacht im weltpolitischen Kräftegleichgewicht.

    Europa - "Weltmacht im Werden"



    Auf den ersten Blick scheint es paradox, in einer Zeit großer Europa-Skepsis die Frage nach der Führungsrolle des Kontinents in der Welt aufzuwerfen. Dennoch setzen sich die Experten der internationalen Akteure - nicht zuletzt aufgrund der permanenten Erweiterungsdiskussion - von Zeit zu Zeit mit Fragen auseinander wie: Kann die EU die Führungserwartungen erfüllen? Oder kann die EU gar zu einer Weltmacht aufsteigen?

    Werner Weidenfeld und die Autoren der "Neun-Länder-Studie von TNS Emnid" begründen den Status einer Weltmacht an Hand folgender Kriterien:

  • Territoriale Größe und Bevölkerungszahl;

  • Herausragende wirtschaftliche Macht;

  • Politische Stabilität und Führungsfähigkeit;

  • Kulturelle Anziehungskraft;

  • Hohes Niveau in Forschung und Bildung (Erfindungsgeist, Innovation, Patente);

  • Energie und Rohstoffreichtum;

  • Militärische Macht;

  • Übernahme globaler Ordnungsfunktionen.

    Legt man diese Kriterien an, nimmt die EU im Vergleich zu den "Welt"- bzw. "Großmächten" einen der vorderen Plätze ein. Allerdings fehlt ihr noch die Bündelung der politischen Interessen, die politische Geschlossenheit und die Ordnungserfahrung. Europa ist deshalb eine "Weltmacht im Werden".

    Die permanente Erweiterung der EU in der Kritik



    Die Europäische Union reicht seit 2007 vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Circa eine halbe Milliarde Menschen lebt auf dem Territorium der EU-Staaten. Welche Zukunftsvision hat die erweiterte EU? Kann sie wirklich zu einer integrierten großen Macht werden, oder wird sie in konzentrische Kreise rund um eine Pioniergruppe aus Frankreich und Deutschland zerfallen? Niemand kann schlüssig sagen, wo genau Europas Grenzen verlaufen. Niemand weiß, wer am Ende dazugehören soll und wer auf keinen Fall. Eine schrankenlose Erweiterung degradiert die Union zur Freihandelszone ohne politische Einheit. Europa bedarf vielmehr der Stärkung seiner Identität und seiner politischen Handlungsfähigkeit, wenn es auf längere Sicht gegenüber anderen Machtblöcken wie Nordamerika und China bestehen will. Keine Frage: Um zu stärkerer "Identität" und "Handlungsfähigkeit" zu gelangen, muss die EU eine territoriale Überdehnung vermeiden.

    Mit diesem Postulat ist allerdings ungeklärt, ob die Türkei Vollmitglied der EU werden kann. Sollte dies der Fall sein, dann stellt sich eine weitere, aber viel zu lange verdrängte Debatte über die geographischen, kulturellen, geostrategischen und politischen Grenzen Europas. Denn wer heute über die diese räsoniert, meint die Grenzen eines Bundes demokratischer Staaten mit dem Namen "Europäische Union"; zwar weiß man, dass Europa und EU nicht identisch sind, aber man hält doch für möglich, dass sie durch künftige Erweiterungen des Staatenbundes deckungsgleich werden könnten. An den Fällen der beiden eurasischen Staaten Türkei und Russland lässt sich indessen zeigen, dass die Frage der europäischen Südost- und Ostgrenze nur politisch, nicht aber geographisch oder historisch-kulturell gelöst werden kann. Nähme die EU in ferner Zukunft beide Staaten auf, dann verlöre sie selbst das Anrecht auf ihren Namen und ihre Identität.

    Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat im November 2006 mit dem Wort "paradox" den Zustand der Europäischen Union charakterisiert: Europa sei eine Erfolgsgeschichte, und trotzdem befinde es sich in einer Krise. Ausdruck dieser Krise sei die "dramatisch" gewachsene Euroskepsis. Diese vieldiskutierte EU-Krise gliedert sein Amtsvorgänger Josef Fischer in drei Teile:

  • eine Vereinigungskrise, in der nationale Interessen europäische Solidarität verdrängten;

  • die Verbindung aus EU-Erweiterung und Globalisierung, aus der allgemeine Verunsicherung und soziale Abstiegsängste in der Bevölkerung erwüchsen;

  • und eine Identitätskrise, die von den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden ausgelöst worden sei. Die Identitätskrise kreise um die Kernfrage, was die EU überhaupt sein soll: eine Freihandelszone oder ein politisches Projekt.

    Die alte Identität ist passé, eine neue hat die EU noch nicht gefunden. Unter den derzeitigen Problemen ragt die permanente Ausdehnung der EU hervor. Ob sich die Größe auch in adäquate Macht umsetzen wird, ist eine noch offene, zugleich aber die ausschlaggebende Frage der Zukunft. Denn wenn die EU nur groß, aber nicht stark wird, dann verliert sie, was sie durch die Beitritte zu gewinnen hoffte. Die politischen Planer der EU sind sich offenbar keiner geopolitischen Grenzen bewusst, sie denken sich - wie Herbert Kremp kritisch anmerkt - "kataraktförmig in bloße Weite. Die eine Seite dieser wahren Affäre besteht darin, dass schiere Größe nicht integrierbar ist im Sinne einer Verfassung, die ja über den konventionellen Staatsvertrag hinausreichen soll, und dass sich dadurch die zweite Seite entfaltet: Geopolitische Großgebilde sind von Natur konfliktträchtig, ihre Neigung zu Binnenstreit und Fremdkoalition unvermeidlich, fast natürlich." Die Geschichte ist voller Szenarien des Untergangs, die aus Überforderung und Überdehnung großer politischer Räume entstanden sind. Nur wenn die gewaltigen Probleme Europas beim Namen genannt werden und in die Erweiterungsdebatte politischer Realismus einkehrt, hat Europa als weltpolitischer Akteur eine Chance. Denn die geografische Erweiterung verändert die EU viel stärker als ihre Protagonisten wahrhaben wollen. Die Gemeinsamkeiten sind kleiner, die Unterschiede viel größer geworden. Eine Union, die von Portugal bis Rumänien und von Finnland bis Griechenland reicht, droht zu einer kleinen UN zu werden: entscheidungsunfähig und wirkungslos.

    Europas angrenzende Räume



    Für Europa sind drei Ergänzungs- bzw. Verbindungsräume von besonderem Interesse:

  • der Eurasische Raum;

  • der Euro-Atlantische Raum und -

  • der Mittelmeerisch-Afrikanische Raum.

    Gegenüber den Akteuren in all diesen Räumen ist die EU zur

  • Wahrung der Interessensphären;

  • Stabilisierung instabiler Räume;

  • Aufbau eines Sicherheitsgürtels
    gefordert.

    Grundsätzlich liegt ein stabiles und friedliches geografisches Umfeld im ureigenen Interesse Europas. Im März 2003 hat die EU-Kommission in einem ersten geostrategischen Dokument die gewünschten Beziehungen zu den zukünftigen EU-Anrainerstaaten skizziert. Inhalte dieser Europa-Strategie sind der Aufbau von Nachbarschaftspolitiken zur Ukraine, zu Moldawien und Weißrussland und zum gesamten Mittelmeerraum, das heißt Algerien, Ägypten, Jordanien, Israel, Libanon, Syrien, Marokko, den palästinensischen Autonomiegebieten, Tunesien und Libyen. Es ist der Versuch, konkrete Kooperationsangebote wie Freihandelszonen zu unterbreiten, ohne eine Beitrittsperspektive zu eröffnen.

    Wie konnten Gerhard Schröder und Jacques Chirac dem "Größenwahn" (Helmut Schmidt) erliegen, dass die EU nur mit der Türkei als Vollmitglied ein weltpolitischer Akteur sein könne? Eine solche geostrategische Überdehnung mit Rückfall in eine große Freihandelszone liegt zwar im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritanniens, aber nicht im Interesse einer sich weiter vertiefenden EU und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Der derzeitige französische Präsident Nicolas Sarkozy, der einen EU-Beitritt der Türkei strikt ablehnt, erklärte bereits Anfang Februar 2007 während einer Rede in Toulon, dass eine Mittelmeer-Union realisiert werden sollte, in der auch Ankara zu einer tragenden Säule werden könnte. Die Anrainerstaaten der EU sollen mit den nordafrikanischen Staaten und der Türkei nicht nur Handel treiben, sondern ein System der kollektiven Sicherheit aufbauen. Wie Sarkozy weiter sagte, sei sein Vorschlag auch Europas Antwort auf den türkischen Wunsch nach einer Vollmitgliedschaft in der EU; denn die Türkei sei kein europäisches Land, aber ein großes Mittelmeer-Land. Die EU hingegen könne sich nicht permanent erweitern. Sollten Sarkozys Ideen in den EU-Staaten auf Resonanz stoßen, würde der Türkei eine weitere Option im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik geboten.

    EU - Global Player mit Defiziten



    Die EU ist heute ökonomisch ein "Global player", politisch und strategisch hingegen weist sie in dieser Rolle jedoch ein erhebliches Defizit auf. Die EU gewinnt zwar immer mehr an Gewicht in den Krisenregionen der Welt durch die Kombination aus ziviler und militärischer Konfliktlösung; dennoch ist ein idealistischer Grundzug ihrer Außen- und Sicherheitspolitik aus Mangel an Stärke und Geschlossenheit unverkennbar. Aus diesem Grund werfen kritische Beobachter wie der amerikanische Politologe Robert Kagan der EU mangelnde "Machtpolitik" vor. In seinem viel beachteten Essay "Power and Weakness" ("Macht und Ohnmacht") argumentiert Kagan, dass Europa im 21. Jahrhundert mehr Nachdruck auf Machtpolitik legen muss, um in der harten Realität' der internationalen Beziehungen bestehen zu können. "Die friedliche europäische Integration", so Kagan, "erweist sich als die Feindin der globalen Rolle Europas". In der Tat sollten sich die europäischen Führungsmächte mit ihren "Think Tanks" über kurz oder lang mit der Frage auseinandersetzen: was für eine Art Weltmacht die Europäische Union sein soll. Geeint spricht die EU nur zu allgemeinen Angelegenheiten. In den Kernfragen der Weltpolitik hält sie sich auffallend zurück.

    Unipolare versus multipolare Weltordnung



    Der Aspekt der Sicherheit ist für Europa von großer Bedeutung. Fragen der europäischen Sicherheitspolitik betreffen heute nicht nur die Situation im Inneren des Staatenbündnisses, sondern vor allem auch seine Rolle in der Welt. Damit ist Sicherheit eine Gestaltungsaufgabe von globaler Dimension geworden. Der Wegfall der Bipolarität nach dem Ost-West-Gesetz hat zu gravierenden Veränderungen auf der internationalen Akteursebene geführt. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die von George Bush Senior proklamierte "Neue Weltordnung" ein Schwerpunkt der internationalen Diskussion. Zahlreiche politische Autoren haben sich an dem Streit um eine "unipolare" oder eine - von Russland, China, Indien und der EU favorisierte - "multipolare" Weltordnung beteiligt. Aufgrund ihrer geopolitischen Lage, ihres Selbstverständnisses, ihrer wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technologischen Ressourcen sind auf absehbare Zeit aber allein die USA in der Lage, eine Weltmachtrolle zu spielen. Alle potenziellen "Gegenmächte" sind nicht mehr oder noch nicht stark genug, die Pax Americana herauszufordern. Während die USA eine unipolare Weltordnung anstreben, plädieren die großen Regionalmächte für eine multipolare Weltordnung, in der sie ihre Interessen - seien sie national oder multinational begründet - besser vertreten können. Im Streit um eine neue Weltordnung nehmen die europäischen Führungsmächte zur "Multipolaritätsthese" folgende Grundpositionen ein:

    Frankreich: Der bisher deutlichste Widerspruch innerhalb des transatlantischen Raumes zu den neuen Weltordnungsvorstellungen der USA kommt aus Paris. Die Opposition gegen "Unipolarität", wie die Stellung der USA als "Hypermacht" und unerwünschte Alternative zur angestrebten "Multipolarität" bezeichnet wird, führt in EU und NATO Frankreich an. Ob die Regierung Sarkozy eine Kehrtwendung vollziehen wird, ist zur Zeit noch offen.

    Großbritannien: Umfassend legte der damalige britische Premierminister Tony Blair seinen Standpunkt zur Diskussion um eine neue Weltordnung in einem Interview mit der "Financial Times" am 28. April 2003 dar. Er fand zu dramatischen Formulierungen, als er zu Frankreichs Position einer "multipolaren" Weltordnung gefragt wurde, mit Europa als einem wichtigen Macht-Gegenpol zu den USA. Wörtlich sagte Blair: "Ich möchte nicht, dass Europa sich in Opposition zu den USA definiert. Das wäre gefährlich und destabilisierend. Solche neuen multipolaren Zentren würden sich sehr schnell zu rivalisierenden Machtzentren entwickeln mit der Tendenz, sich gegenseitig auszuspielen, wie wir das im Kalten Krieg hatten." Die Strategie, die von Großbritannien im Rahmen seiner Allianzpolitik favorisiert wird, kann in zwei Grundsätzen zusammengefasst werden: Erstens: Beibehaltung der "special relationship" zu den USA; zweitens Stärkung Europas in Partnerschaft zu den USA. Die politische Elite Großbritanniens vertritt bis heute (Gordon Brown) die Auffassung: Eine Befürwortung der Multipolaritätsthese durch die Mehrheit der EU-Staaten würde zu einer weiteren Desintegration in den transatlantischen Beziehungen führen und eine "Euro-Atlantische Gemeinschaft" verhindern. Damit erteilt sie einer "Balance of Power"-Politik mit Europa als Rivalen der USA (das "multipolare" Modell) eine klare Absage.

    Deutschland: Die deutschen Regierungen handelten - mit Ausnahme der Regierung Schröder/Fischer - nach der Devise des "Sowohl-als-Auch" mit der Maßgabe in der Sicherheitspolitik "in dubio pro America!" Eine Prioritätsetzung wurde vermieden.

    Fazit: Die unterschiedlichen Positionen der drei europäischen Führungsmächte zur "Multipolarität" spiegeln auch ihre Interessenwahrnehmung in internationalen Organisationen wider - sei es EU, NATO oder UNO.

    Die Frage einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, kurz: nach Europas Rolle in der Welt, stellte sich erstmals anlässlich des Maastrichter Vertrages von 1992. Die Mitgliedstaaten, heißt es darin, "enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte." Der Satz klingt inzwischen wie ein Hohn. Nicht nur die machtpolitische Rolle Europas in der Welt, sondern auch seine inneren Machtstrukturen sind heute Streitpunkt. Vorbei sind die Zeiten, als die christdemokratische Idee eines Kerneuropas, Chiracs Vorstellung einer groupe pionier oder Fischers Forderung vom Gravitationszentrum in einer rasch wachsenden Gemeinschaft den Gegensatz verdecken konnten. Die "verstärkte Zusammenarbeit", wie sie der Vertrag von Nizza seit Jahren ermöglicht, erzeugt vermehrte Konflikte und Dissonanzen.

    In einer Zeit des weltpolitischen Umbruchs könnte Europa zu einem internationalen Akteur werden. Doch als Voraussetzung für weltpolitisches Handeln fehlt Euopa nicht nur ein operatives Zentrum, es mangelt vor allem - mit Ausnahme von Großbritannien, Frankreich und in gradueller Abstufung Deutschland - an strategischem Denken. In der EU muss diese Denkkategorie noch enttabuisiert und gefördert werden. Nicht die zahlreichen Institutionen sind die Antworten auf die drängenden Fragen, wie der Vorschlag eines europäischen Außenministers, sondern der politische Wille. Vom Europäischen Rat, der eigentlich die politischen und strategischen Zielvorstellungen vorgeben sollte, ist wenig zu erwarten. Es sind die diese drei großen Länder (EU-3), die ihre Konzepte in den Entscheidungsprozess der EU einbringen. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den USA und der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik. In den USA gibt es eine außenpolitische Elite, die global denkt, amerikanische Interessen definiert und politische Mehrheiten organisiert, um weltweit die Belange des Landes zu fördern. Der EU hingegen fehlt der politische Wille bzw. Konsens, strategische Konzepte und Visionen zu entwickeln.

    Europa - "Weltmacht neuen Typs"



    Die Europäische Union hat im Binnen- und Außenverhältnis im wesentlichen drei Aufgaben zu bewältigen: inneres Gleichgewicht herzustellen und zu bewahren; Handlungsfähigkeit als globaler Akteur zu gewinnen und von den EU-Bürgern akzeptiert zu werden.

    Denn "der alte Kontinent ist nicht" - wie Günter Verheugen in seinem Erfahrungsbericht (2005) betont - "zum Niedergang verurteilt". Der langjährige EU-Kommissar ist vielmehr der Meinung, dass das 21. Jahrhundert durchaus noch ein europäisches Jahrhundert werden könne und "Europa ein unabhängiger und selbstbewusst handelnder globaler Akteur, eine Weltmacht neuen Typs, wenn die Europäer es wollen und wenn sie endlich verstehen, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen müssen." Voraussetzung für gemeinsames Handeln ist allerdings, dass die Einzelinteressen der Mitgliedstaaten mit einem europäischen Gesamtinteresse in Übereinstimmung gebracht werden können. Eine solche Zielsetzung ist nötig, wenn Europa zwischen den Kraftzentren des 21. Jahrhunderts nicht untergehen will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eckart D. Stratenschulte (Hrsg.), Europas Außenpolitik. Die EU als globaler Akteur, Frankfurt/M. 2006.

  2. Lars Heweil, Hegemonie und Gleichgewicht in der europäischen Integration, Baden-Baden 2006.

  3. Vgl. Paul Luif, Die Europäische Union als globaler Akteur, in: Peter Filzmaier/Eduard Fuchs (Hrsg.), Supermächte. Zentrale Akteure der Weltpolitik, Wien 2003, S. 78 - 91.

  4. Vgl. Krieg und Frieden, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Nr. 129, 6.6. 2003, S. 36.

  5. Richard Coudenhove-Kalergi, "Paneuropa", Wien 1923, Neuauflage München 1982; vgl. hierzu auch Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Gleichen-Zürich 2004.

  6. Vgl. Der Spiegel, Nr. 2, 5.1. 1998, S. 28/29.

  7. Vgl. Andreas Rödder, Coudenhove-Kalergi: Schlagwortwirkung, in: FAZ, Nr. 78, 5.4. 2005, S. 7.

  8. Vgl. Werner Weidenfeld, Europa - Weltmacht im Werden, in: Internationale Politik, (1995) 5, S. 17ff.

  9. Vgl. Neun-Länder-Studie von TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Berlin 2006.

  10. Vgl. Michael Borgolte, Türkei ante portas, in: FAZ, Nr. 44, 21.2. 2004, S. 39.

  11. Vgl. ebd.

  12. Vgl. FAZ, Nr. 257, 4.11. 2006, S. 12.

  13. Vgl. Fischer warnt vor EU als Freihandelszone, in: Die Welt, 21.6. 2005, S. 3.

  14. Vgl. Stephan Martens, Das erweiterte Europa, in: APuZ, (2004) 17, S. 3 - 5.

  15. Herbert Kremp, Die Deutschen in der Welt, in: Die Welt, 6.9. 2006, S. 8.

  16. Vgl. Uwe Verkötter, Fremdes Europa, in: Frankfurter Rundschau (FR), Nr. 303, 30.12. 2006, S. 3.

  17. Vgl. European Commission, Economic and financial Consequences of aging populations, in: European Economy Review, (November 2002); vgl. Demography and the West, Economist vom 2.8. 2002.

  18. Vgl. Martin Winter, Vorraum zur EU. Pläne zur engeren Anbindung von Nichtmitgliedern, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), Nr. 21, 21.6. 2006, S. 8.

  19. Vgl. Helmut Schmidt, Bitte keinen Größenwahn. Ein Beitritt der Türkei würde die Europäische Union überfordern, in: Die Zeit, Nr. 49, 25.11. 2004, S. 3.

  20. Vgl. Sarkozy will Mittelmeer-Union nach EU-Vorbild gründen, in: Die Welt, 9.2. 2007, S. 1.

  21. Vgl. Michaela Wiegel, Im Süden die Zukunft Europas, in: FAZ, Nr. 34, 9.2. 2007, S. 3.

  22. Zitiert nach Benita Ferrero-Waldner, Europa als globaler Akteur, in: Sicherheit und Stabilität, (2005) 1, S. 8.

  23. Vgl. Fehlen einer außenpolitischen Elite, in: Financial Times Deutschland (FTD), 28.7. 2005, S. 25.

Dr. disc. pol., geb. 1940; Wissenschaftlicher Direktor a. D.; Kurhausstraße 19, 97688 Bad Kissingen.