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Die Kurdenfrage in der Türkei | Türkei | bpb.de

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Die Kurdenfrage in der Türkei

Susanne Güsten

/ 16 Minuten zu lesen

Der Kurdenkonflikt wurde vom türkischen Staat lange Zeit als reines "Terrorproblem" gewertet. Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Problem nicht allein militärisch gelöst werden kann. Die Chancen für eine friedliche Beilegung sind derzeit so gut wie nie zuvor.

Einleitung

Ob man es nun das Terrorproblem nennt oder das Südost(anatolien)-Problem oder das Kurdenproblem: Dies ist das wichtigste Problem der Türkei. Es muss gelöst werden." Mit diesem Satz öffnete der türkische Staatspräsident Abdullah Gül im Mai 2009 ein neues Kapitel in der Kurdenpolitik seines Landes. Lange Jahre hatte der türkische Staat die Existenz einer kurdischen Bevölkerungsgruppe verneint; der Kurdenkonflikt wurde angesichts des bewaffneten Aufstandes der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als reines "Terrorproblem" gewertet.



Güls Aussage markierte nicht nur deshalb eine Zäsur in der türkischen Kurdenpolitik, weil zum ersten Mal ein Staatsoberhaupt der Republik öffentlich von einem "Kurdenproblem" sprach, sondern seine Forderung nach einer Lösung fiel auch in eine Zeit, in der erstmals die wichtigsten Akteure der Kurdenpolitik in Ankara an einem Strang zogen.

Die Regierung hatte bereits zu Beginn des Jahres mit der Gründung des ersten staatlichen kurdischen Fernsehsenders der Türkei ein Zeichen gesetzt. Die Armee, vertreten durch Generalstabschef Ilker Başbuğ, betonte ihrerseits, dass militärische Mittel im Kampf gegen die PKK durch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Maßnahmen flankiert werden müssten. Die türkische Opposition signalisierte ebenfalls ihren Willen zu politischen Schritten, um das Kurdenproblem zu lösen. Seit 2007 verfügen die türkischen Kurden zudem über eine eigene politische Vertretung im türkischen Parlament: Die 21 Abgeordneten der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) bieten sich seit langem als Gesprächspartner des Staates an. Die PKK geriet unterdessen in ihrem Versteck im Nordirak unter immer größeren militärischen und politischen Druck.

Diese Konstellation mehrerer, für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage wichtiger Faktoren ist in der jüngeren türkischen Geschichte einmalig. Vor vier Jahren hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits Hoffnungen geweckt, als er als erster Regierungschef seines Landes öffentlich von einem "Kurdenproblem" sprach. Damals wurde Erdoğan jedoch von der Armee wegen seiner Haltung kritisiert. In der ersten Hälfte dieses Jahres entwickelte sich nun ein neuerlicher Optimismus - begünstigt durch eine enge türkisch-amerikanische Zusammenarbeit beim Kampf gegen die PKK im Nordirak auf militärischem Gebiet sowie durch eine Veränderung des politischen Klimas aufgrund früherer Reformschritte. Erdoğan brachte die Wiedereinführung kurdischer Ortsnamen für Dörfer im Kurdengebiet ins Gespräch, die insbesondere nach dem Militärputsch von 1980 türkische Namen erhalten hatten. Anfang Juni führte die staatliche Bühne in der osttürkischen Stadt Van als erstes Staatstheater der Türkei ein Stück in kurdischer Sprache auf.

Wer sind die Kurden?

Wie so vieles in der emotional stark aufgeladenen Kurdenfrage, sind Beschreibungen dessen, was die Kurden als Bevölkerungsgruppe ausmacht, häufig umstritten. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Kurden ein Volk von vorwiegend sunnitischen Muslimen sind, das seit mehr als tausend Jahren im Osten der heutigen Türkei sowie im Nordwesten von Iran, im Norden Iraks sowie im nordöstlichen Syrien zu Hause ist. Seit dem Übertritt der kurdischen Stämme zum Islam im siebten Jahrhundert ist das Wort "Kurde" belegt.

Da sie über viele Länder verstreut leben, ist die Gesamtzahl der Kurden schwer zu ermitteln. Allgemein wird von 20 bis 25 Millionen Menschen ausgegangen, davon lebt rund die Hälfte in der Türkei. Einen eigenen Staat hatten die Kurden in ihrer Geschichte noch nie.

Die Kurden sprechen keine einheitliche Sprache. Zwei indo-germanische, mit dem Persischen verwandte Dialekte werden unterschieden: In Teilen Nordiraks, im Nordwesten Irans und in der Türkei herrscht Kurmancî vor, im Westen Irans und südlicheren Teilen des kurdisch besiedelten Nordiraks wird vor allem Sorani gesprochen, das auch die offiziell anerkannte Form des Kurdischen im Irak ist. Die Zersplitterung in etliche Einzelsprachen und Dialekte führt dazu, dass sich viele Kurden in ihren Muttersprachen untereinander kaum verständlich machen können. Selbst die kurdischen Rebellen von der PKK veröffentlichen ihre Erklärungen deshalb zumeist in türkischer Sprache, weil das Türkische für die Zielgruppe der PKK eine lingua franca bildet.

Geschichte der Kurden in der Türkei

Bereits in den Jahren nach der Gründung der modernen türkischen Republik 1923 gab es erste gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Staatsgewalt und kurdischen Aufständischen. Mustafa Kemal "Atatürk", der erste Präsident der Türkei, ließ 1925 einen Kurdenaufstand niederschlagen. Der Anführer der Kurden, Scheich Said, wurde gehenkt.

Das Kurdengebiet blieb in den Jahrzehnten darauf eine der ärmsten und der sozial rückständigsten Regionen der Türkei. Mit der Gründung der PKK im Jahr 1978 begann eine neue Phase. Die linksextreme Organisation unter ihrem Anführer Abdullah Öcalan wandte sich sowohl gegen die von der PKK beklagte Unterdrückung der Kurden durch den türkischen Staat als auch gegen deren Unterdrückung infolge der immer noch starken Feudalstrukturen. Durch den türkischen Militärputsch von 1980 zusätzlich radikalisiert, begann die PKK 1984 mit dem bewaffneten Kampf gegen Ankara. Die Organisation wird von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft.

Der türkische Staat antwortete mit der Aufstellung von Ankara-treuen Milizen, den so genannten Dorfschützern, und mit der Verhängung des Kriegsrechts in weiten Teilen des türkischen Kurdengebiets. Erst 2002 wurde das Kriegsrecht in den letzten beiden Provinzen aufgehoben. Im Zuge des Konflikts wurden mehrere tausend Dörfer von der Armee geräumt, um der PKK den Nachschub abzuschneiden. Millionen von Kurden flohen in die Großstädte der Region, in andere Teile der Türkei und nach Westeuropa. Nach Angaben der türkischen Armee starben seit 1984 rund 40.000 Menschen bei Gefechten und Gewaltaktionen.

Im Februar 1999 wurde PKK-Chef Öcalan von türkischen Agenten in Kenia gefasst und in der Türkei inhaftiert. Öcalan verbüßt zur Zeit eine lebenslange Haftstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul. Auf seinen Befehl hin zog sich die PKK aus der Türkei in den Norden Iraks zurück. Im Jahr 2005 nahm die PKK nach Jahren relativer Ruhe ihre Gewaltaktionen wieder auf, doch haben die Gefechte nicht mehr die Intensität der Kämpfe der späten 1980er und frühen 1990er Jahre erreicht.

Kürzlich betonte der in Öcalans Abwesenheit zum starken Mann der PKK aufgerückte Murat Karayılan in einem Interview den Willen seiner Organisation zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts. Doch viele Beobachter in der Türkei halten Karayılan nicht für glaubwürdig, zumal es weiterhin vereinzelt tödliche Angriffe der PKK auf türkische Militärkonvois gibt. Karayılan betonte, die PKK habe das Ziel eines eigenen Kurdenstaates aufgegeben und strebe lediglich die Gleichberechtigung der Kurden innerhalb der türkischen Republik an. Eine Entwaffnung seiner Rebellen schloss Karayılan nicht aus, sagte aber, dies könne erst nach Gesprächen über die Voraussetzungen für einen endgültigen Gewaltverzicht geschehen.

Politik

Neben der verbotenen PKK, die für sich die Rolle einer politischen Vertreterin der Kurden in Anspruch nimmt, existiert auch eine legale Kurdenpartei, die DTP. Da sich Parteien in der Türkei nicht als Vertretung einzelner ethnischer Gruppen präsentieren dürfen, ist "Kurdenpartei" für die DTP zwar eine zutreffende, aber keine offizielle Bezeichnung. Aus Sicht der türkischen Justiz bildet die DTP den verlängerten Arm der PKK; vor dem Verfassungsgericht in Ankara läuft deshalb ein Verbotsverfahren gegen die Partei. Schon in den vergangenen Jahrzehnten waren mehrere Kurdenparteien wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zur PKK aufgelöst worden, doch hatten sich die Kurdenpolitiker stets neu formiert.

Zur Lösung der Kurdenfrage muss die Türkei nach Ansicht der DTP mehrere Tabus überwinden. So fordern DTP-Politiker mehr politische Eigenständigkeit für das Kurdengebiet, was angesichts der zentralstaatlichen Ordnung der Türkei für die meisten anderen politischen Akteure ausgeschlossen ist. Zudem verlangt die DTP, dass bei der Suche nach einer Konfliktlösung die Ansichten des inhaftierten PKK-Chefs Öcalan sowie die PKK selbst berücksichtigt werden müssten. Beides wird von Ankara bisher strikt abgelehnt.

Bei der Parlamentswahl von 2007 umging die DTP die für den Parlamentseintritt einer Partei geltende Zehn-Prozent-Hürde, indem sie ihre Kandidaten als nominell Unabhängige aufstellte, für welche die Hürde nicht gilt. Nach der Wahl formierte sich dann im Parlament von Ankara die erste kurdische Parlamentsfraktion der türkischen Geschichte mit 21 Abgeordneten. Die meisten Kurden votierten bei der Wahl 2007 allerdings nicht für die DTP, sondern für Erdoğans religiös-konservative Regierungspartei AKP. Enge Kontakte konservativer Parteien zu kurdischen Clans haben eine lange Tradition. Clanchefs liefern den Parteien kraft ihres Einflusses auf die Angehörigen ihrer oft mehrere tausend Mitglieder umfassenden Sippen viele Wählerstimmen. Im Gegenzug können die Clanchefs mit dem Wohlwollen oder sogar der Patronage durch den Staat rechnen. Zur politischen Stärke vieler Clanchefs im Kurdengebiet trägt auch das Dorfschützersystem bei. In vielen Gegenden Südostanatoliens sind ganze Dörfer dafür bekannt, dass sie entweder den Dorfschützern angehören oder aber mit der PKK sympathisieren. Im strukturschwachen Kurdengebiet hat sich dieses System zu einer wichtigen Einkommensquelle vieler Familien entwickelt, die auf den Sold von umgerechnet etwa 250 Euro angewiesen sind.

Kultur

Lange sah Ankara die Assimilierung der Kurden als einzig gangbaren Weg an. Der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache und die Aufführung kurdischer Lieder waren verboten. Dies führte dazu, dass viele der zehn bis zwölf Millionen Kurden zu Fremden im eigenen Land wurden. Da insbesondere auf dem Land zahlreiche Mädchen von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt werden, gibt es in der Türkei Millionen von Frauen, die kein Türkisch verstehen. Bis vor kurzem war der PKK-nahe Satellitensender "Roj-TV" für diese türkischen Kurden die einzige moderne Informationsquelle, die ihnen zur Verfügung stand.

Im Rahmen der türkischen EU-Bewerbung lockerten sich in den vergangenen Jahren viele der Sprachverbote. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war der Sendestart für den Fernsehkanal "TRT 6" zu Beginn dieses Jahres, eines staatlichen Senders, der seine Programme in kurdischer Sprache ausstrahlt. Ministerpräsident Erdoğan sprach beim Sendestart von "TRT 6" sogar einen Satz auf Kurdisch. Als Folge der Tatsache, dass ein staatlicher Fernsehsender der Türkei ein Vollprogramm in kurdischer Sprache ausstrahlt, mehrten sich in den vergangenen Monaten die Forderungen nach weiteren Schritten. So wird über die Zulassung von kurdischen Wahlkampfreden ebenso diskutiert wie über kurdische Predigten in den Moscheen.

Wirtschaft

Die kurdischen Siedlungsgebiete gehören zu den ärmsten des Landes. Unter Berücksichtigung der Kaufkraft wies die Türkei 2007 ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von etwas unter 10.000 US-Dollar im Jahr auf; die 24 Provinzen im Nordosten, Osten und Südosten des Landes, die das Hauptsiedlungsgebiet der Kurden darstellen, kamen aber nur auf Durchschnittseinkommen von 3600 bis 5300 US-Dollar.

In den langen Jahren des Krieges in Ostanatolien ist vielerorts das wirtschaftliche Gefüge zerstört worden. Die Räumung von Tausenden Dörfern und die Umsiedlung vieler Menschen in die Städte haben zu einer hohen Arbeitslosigkeit geführt, die nach offiziellen Angaben im vergangenen Jahr bei 15,8 Prozent lag; im Landesdurchschnitt waren es elf Prozent. Lokale Vertreter des religiös-konservativen Unternehmerverbandes MÜSIAD schätzen allerdings die tatsächliche Arbeitslosenrate in der Region auf etwa 50 Prozent. Nach einer im vergangenen Jahr von der Zeitung "Radikal" veröffentlichten Umfrage müssen 52 Prozent der Kurden mit weniger als 700 Lira (324 Euro) im Monat auskommen und gelten damit als extrem arm; in den Dörfern des Kurdengebiets lag dieser Anteil sogar bei 70 Prozent. Millionen Kurden haben deshalb versucht, der hoffnungslosen Lage in ihrer Heimat durch Emigration in den wohlhabenderen Westen der Türkei oder nach Europa zu entfliehen. Vielfach verdingten sie sich als Bauarbeiter, Erntehelfer oder als ungelernte Arbeiter in anderen Branchen.

Soziales

Auch wenn die Kurden formal gleichberechtigte Bürger der türkischen Republik sind, gibt es viele Anzeichen sozialer Benachteiligungen. Nach der "Radikal"-Erhebung beträgt die durchschnittliche Schulzeit der Türken 7,4 Jahre, doch bei Kurden sind es nur 6,1 Jahre. Während in einem türkischen Durchschnittshaushalt 4,3 Menschen leben, sind es in einem kurdischen Haushalt 6,1. 15 Prozent der befragten Kurden gaben an, ihren Ehepartner nicht selbst ausgesucht zu haben; im türkischen Landesdurchschnitt liegt dieser Anteil bei 6,7 Prozent.

Im Kurdengebiet gibt es weniger gute Straßen, weniger Flughäfen und weniger Universitäten als in anderen Teilen der Türkei. Mitunter schlagen Spannungen zwischen Türken und kurdischen Zuwanderern in westlichen Landesteilen der Türkei in Gewalt um. In Altinova an der Ägäis starben im vergangenen Herbst zwei Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden. Geschäfte von Kurden wurden geplündert. Der Soziologe Mustafa Sönmez sah darin Anzeichen für eine "Lynchkultur", die viele Kurden dazu bewege, trotz wirtschaftlicher Not in ihrer ostanatolischen Heimat zu bleiben, statt im Westen der Türkei Arbeit zu suchen.

Die Kurdenpolitik der AKP

Wie andere türkische Regierungsparteien vor ihr betont die AKP, die sich als wertkonservative Partei rechts der Mitte betrachtet, die überragende Bedeutung des staatlichen Zusammenhalts der Republik und lehnt Forderungen nach einer bundesstaatlichen Umgestaltung zur Gewährung administrativer Autonomie für einzelne Landesteile ab. Dennoch gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Herangehensweise der AKP und der traditionellen Kurdenpolitik Ankaras, die insbesondere seit Ausbruch der Gewalt in den 1980er Jahren die Existenz einer eigenen kurdischen Identität verneinte.

Erdoğan selbst stieß im Jahr 2005 eine neue Diskussion an, indem er als erster Regierungschef öffentlich von einem "Kurdenproblem" sprach und Fehler des Staates im Umgang mit der Minderheit einräumte. Zudem umriss er in einer weiteren Rede einen politischen Rahmen, mit dem er die Balance zwischen dem herausragenden Ziel der staatlichen Einheit und dem Streben der Kurden nach mehr Selbstbestimmung suchte. Demnach sollte der Charakter als türkischer Staatsbürger für alle Türken eine "Über-Identität" bilden, unter deren Dach sich "Unter-Identitäten" wie etwa die der Kurden frei entfalten könnten. Erdoğans Modell stieß zunächst bei der Armee und anderen Kräften auf strikte Ablehnung. Inzwischen ist jedoch zu beobachten, dass selbst die Militärführung ähnliche Gedanken äußert. So erregte Generalstabschef Ilker Başbuğ in einer viel beachteten Rede im April Aufsehen, indem er statt vom "türkischen Volk" vom "Volk der Türkei" sprach, eine Wendung, die implizit Raum für andere ethnische Gruppen neben den Türken lässt. Sowohl Erdo?an als auch Basşbuğ betonen regelmäßig die sozialen, kulturellen, politischen und diplomatischen Dimensionen des Konflikts. Mit dem in seiner April-Rede enthaltenen Satz "Auch Terroristen sind Menschen" bekannte sich Başbuğ öffentlich zu dieser neuen Linie.

Da die AKP bei ihrem Regierungsantritt im November 2002 die türkische EU-Bewerbung zur Priorität erhob, waren Reformen auch im Kurdengebiet fast unausweichlich. Verbesserungen für die Kurden ergaben sich einerseits aus landesweiten Schritten zur Demokratisierung. Andererseits erforderte die türkische EU-Bewerbung auch Reformen, die auf die Lage der Kurden zugeschnitten waren, etwa im Bereich der Sprachfreiheit. Inzwischen hat auch die kemalistische Oppositionspartei CHP, die in den vergangenen Jahren im Kurdengebiet bedeutungslos geworden war, einen neuen Kurs in der Kurdenpolitik eingeschlagen und befürwortet nun weitere politische Reformen.

Einem kurdischen Nationalismus erteilen AKP, CHP und Armee dagegen eine klare Absage. So verweigerte Erdoğan lange Zeit ein Gespräch mit dem DTP-Vorsitzenden Ahmet Türk, weil dieser es ablehnte, die PKK öffentlich als Terrororganisation zu bezeichnen; das erste Treffen der beiden Politiker fand erst im Zuge der Bemühungen der Regierung um einen breiten politischen Konsens in der Kurdenfrage im August 2009 statt. Als Alternative zum kurdischen Nationalismus betont die AKP die Identität der Kurden als Muslime.

Ihrem Anspruch, eine in allen Landesteilen präsente Volkspartei zu sein, wurde die AKP in den vergangenen Jahren insofern gerecht, als sie auch in Teilen des kurdischen Ostens und Südostens Anatoliens zur bestimmenden Kraft geworden ist. Hinter diesem Erfolg standen die im Rahmen der EU-Reformen erfolgten politischen Neuerungen, vor allem aber das Versprechen eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Auch gab es erste Versuche, mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte zu verfolgen. Ein von Agenten eines Militärgeheimdienstes verübter Bombenanschlag im südostanatolischen Semdinli löste Ende 2005 große Empörung aus. In den vergangenen Monaten ließ die zivile Staatsanwaltschaft an mehreren Orten des Kurdengebiets mutmaßliche Massengräber öffnen, in denen die sterblichen Überreste von Opfern außergerichtlicher Hinrichtungen vermutet wurden.

Allerdings konnte die AKP nicht alles halten, was sie versprach. Erdoğan selbst verscherzte sich viele Sympathien im Kurdengebiet, als er in einer Rede den Eindruck erweckte, er unterstütze die alte rechtsradikale, auf Kurden und Linke gemünzte Formel, sie sollten die Türkei "entweder lieben oder abhauen". Auch blieb der von vielen Kurden erhoffte Wirtschaftsaufschwung aus. Nicht zuletzt deshalb scheiterte die AKP im März 2009 bei der Kommunalwahl mit dem Versuch, der DTP die Macht in wichtigen Städten wie Diyarbakir zu entreißen.

Außenpolitsche Rahmenbedingungen

Seit langem beklagt Ankara, die PKK genieße in einigen europäischen Staaten immer noch Unterstützung. Zumindest teilweise war diese Kritik aus türkischer Sicht verständlich. So hielt sich PKK-Chef Abdullah Öcalan bei seiner Flucht vom Herbst 1998 bis zu seiner Festnahme im Februar 1999 mit Wissen der italienischen Behörden zeitweise in einem Vorort von Rom auf, ohne dass er festgenommen wurde. Unmittelbar vor seiner Verhaftung durch türkische Agenten fand Öcalan Unterschlupf in der griechischen Botschaft in Nairobi.

Für die PKK ist Europa insbesondere für die Propaganda und die Finanzierung ihrer Aktionen wichtig. Bis heute sendet der PKK-nahe Satellitensender "Roj-TV" aus Dänemark; die PKK-nahe Zeitung "Yeni Özgür Politika" erscheint in Deutschland, und die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF hat ihren Sitz in den Niederlanden. Zudem ist die PKK nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Gelder angewiesen, die in Europa durch Sammlung und Erpressung von Spenden beschafft werden. Die in der Bundesrepublik seit 1993 verbotene PKK hat unter den 500.000 bis 600.000 Kurden in Deutschland etwa 11.500 konstante Anhänger, stellte das Bundesamt in seinem Jahresbericht 2008 fest.

Doch während das Geld aus Europa für die PKK weiterhin fließt, werden andere Rahmenbedingungen für die Organisation schwieriger. Die wichtigste Veränderung betrifft die Lage im Nordirak, wo die PKK ihr Hauptquartier unterhält und von wo aus sie ihre Aktionen gegen die Türkei steuert. Nachdem der Nordirak für die PKK lange Jahre ein relativ sicherer Raum war, wächst in jüngster Zeit der Druck auf die Rebellen. Ein Wendepunkt war ein Treffen Erdoğans mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush im November 2007 in Washington. Bei dieser Zusammenkunft erteilte Bush der Türkei die Erlaubnis für räumlich und zeitlich begrenzte Militäraktionen im Nordirak und sagte darüber hinaus die geheimdienstliche Unterstützung bei der Verfolgung der PKK zu. Kurz darauf begann die Türkei mit Luftangriffen auf vermutete PKK-Stellungen auf irakischem Boden; im Februar 2008 schickte Ankara dann im Rahmen einer einwöchigen Intervention auch Bodentruppen ins Nachbarland.

Begleitet wird diese enge türkisch-amerikanische Zusammenarbeit, die bis heute anhält, von Bemühungen Ankaras, die irakischen Zentralbehörden in Bagdad und die Regierung der kurdischen Regionalverwaltung dazu zu bewegen, Druck auf die PKK auszuüben. Hierfür musste die türkische Regierung über ihren eigenen Schatten springen, hatte sie doch noch vor einigen Jahren betont, lediglich die Regierung in Bagdad, nicht aber die kurdische Regionalverwaltung, als ihre Gesprächpartnerin in Irak zu betrachten. Dahinter stand die Befürchtung, durch eine Aufwertung der kurdischen Regionalregierung durch direkte Gespräche die Entstehung eines Kurdenstaates im Irak zu befördern. Im vergangenen Jahr begann die Türkei jedoch mit direkten Verhandlungen mit der kurdischen Regionalverwaltung.

Zumindest in Ansätzen haben die türkischen Anstrengungen im Irak erste Früchte getragen. Der irakische Staatspräsident Dschalal Talabani forderte die PKK mehrmals öffentlich auf, die Waffen niederzulegen und den Irak zu verlassen. Die kurdischen Regionalbehörden verstärkten unterdessen Kontrollen in der Gegend um das PKK-Hauptquartier in den nordirakischen Kandil-Bergen, um den Nachschub für die PKK zu erschweren. Im Herbst soll im nordirakischen Erbil zudem eine pan-kurdische Konferenz stattfinden, die laut Talabani von der PKK einen endgültigen Gewaltverzicht fordern wird.

Perspektiven

Trotz dieser verbesserten außenpolitischen Voraussetzungen werden die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts sehr schwierig werden. Nach einem Vierteljahrhundert der Gewalt mit mehreren zehntausend Toten, nach staatlichen Repressionen und vielen Anschlägen der PKK-Rebellen wird es schmerzhafter Zugeständnisse aller Beteiligten bedürfen.

Längst nicht in allen Bereichen ist erkennbar, wie diese Kompromisse aussehen könnten. So ist die grundsätzliche Frage unbeantwortet, wie das für Ankara unabdingbare Festhalten am zentralstaatlichen Prinzip mit der Forderung der DTP und der PKK nach einer Autonomie für die Kurden vereint werden kann. Ob dieses Problem im Zuge der Arbeiten an einer neuen türkischen Verfassung ausgeräumt werden kann, steht nicht fest. Gleichzeitig wird immer klarer, dass starke Kräfte auf beiden Seiten des Konflikts kein Interesse an einem Ende der Gewalt haben. PKK-Anführer wie Karayılan haben ihr ganzes Leben als Rebellen in den Bergen verbracht und wegen der von ihnen angeordneten Anschläge kaum Aussichten auf eine Rückkehr ins zivile Leben. Ein ehemaliger General der türkischen Armee gab zu, dass er während seiner Dienstzeit im Kurdengebiet hin und wieder Bombenanschläge verüben ließ, die frisch in die Region versetzten Richtern und anderen Beamten vor Augen führen sollten, wie gefährlich die Lage sei.

Viel wird davon abhängen, inwieweit der türkische Staat es vermag, den kurdischen Osten und Südosten des Landes aus seiner Armut und sozialen Rückständigkeit zu befreien. Hoffnungslosigkeit und hohe Arbeitslosigkeit treiben Extremisten immer neue Rekruten zu.

Trotz dieser Einschränkungen sind die Chancen für eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts heute besser als je zuvor. Ein entscheidender Faktor dabei ist ein grundsätzliches Umdenken auf staatlicher Seite. Bei Regierung, bürgerlicher Opposition und bei der Armee hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Schritte notwendig sind. Gleichzeitig verfügen die Kurden erstmals über eine demokratisch legitimierte Vertretung im Parlament von Ankara. Die PKK ist in ihrem einst sicheren Versteck im Nordirak unter Druck geraten und betont ihre Gesprächsbereitschaft. Die internationale Unterstützung für die Rebellen ist stark zurückgegangen.

Ob diese Ansätze in konkrete Veränderungen münden werden, steht noch nicht fest. Die Rahmenbedingungen für eine Lösung werden jedoch von den Akteuren selbst als besonders günstig bewertet. Staatspräsident Gül bezeichnete 2009 als "Jahr der Gelegenheit", den Konflikt beizulegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Radikal vom 9.5. 2009.

  2. Vgl. ebd. vom 12.5. 2009.

  3. Vgl. CNNTürk vom 6.6. 2009.

  4. Vgl. Encyclopedia Britannica Online, Kurd (people), in: www.britannica.com/EBchecked/topic/325191/ Kurd (29.7. 2009).

  5. Das im nordirakischen Versteck der PKK geführte Gespräch des angesehenen Kolumnisten Hasan Cemal mit Karayılan erschien in mehreren Teilen vom 5. bis zum 9.5. 2009 in der Zeitung Milliyet.

  6. Vgl. Radikal vom 11.7. 2009.

  7. Erdoğan sagte: \"TRT Şeş bi xêr be\" - \"Viel Erfolg, TRT 6\"; vgl. Taraf vom 30.12. 2008.

  8. Vgl. Milliyet vom 1.4. 2007.

  9. Vgl. CNNTürk vom 8.5. 2009.

  10. Vgl. Milli Gazete vom 30.1. 2009.

  11. Vgl. Radikal vom 21. bis 27.12. 2008.

  12. Vgl. ebd.

  13. Vgl. Milliyet vom 13.10. 2008.

  14. Vgl. Hürriyet vom 22.11. 2005.

  15. Vgl. Milliyet vom 15.4. 2009.

  16. Vgl. Taraf vom 4.11. 2008.

  17. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2008, S. 232 - 244.

  18. Vgl. Sabah vom 27.7. 2006.

  19. Star vom 8.5. 2009.

geb. 1963; seit 1997 als freie Korrespondentin in Istanbul, u.a. für Tagesspiegel, Focus und den Deutschlandfunk.
E-Mail: E-Mail Link: guesten@weltreporter.net