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Grundgesetz und Internet | 60 Jahre Grundgesetz | bpb.de

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Grundgesetz und Internet

Christoph Gusy Christoph Worms Christoph Christoph / Gusy Worms

/ 17 Minuten zu lesen

Staat, Recht und Verfassung werden durch das Internet Grenzen gesetzt. Schwindende Steuerungsmöglichkeiten markieren die Notwendigkeit eines Wandels der Staatlichkeit.

Einleitung

60 Jahre Grundgesetz, 40 Jahre Internet, 20 Jahre (Vor-)Arbeiten am World Wide Web: Das Netz hat die Welt verändert - und es hat das Grundgesetz verändert. Seine Wirkungen sind am ehesten vergleichbar mit denjenigen der Einführung des Fernsehens (in Deutschland seit 1952) und der Ausbreitung von Telefon und Handys (seit 1992) als Mittel der Jedermann-Kommunikation. Als das Grundgesetz vor 60 Jahren in Kraft trat, enthielt es auch Aussagen zu den damals neuen Medien. Art. 5 GG garantierte die Meinungsfreiheit in Wort, Schrift und - fast prophetisch - "Bild"; Art. 10 Abs. 1 GG schon damals das Post- und "Fernmeldegeheimnis". Der Text der kurz darauf geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention enthielt über beides noch nichts. Insoweit wirkte das Grundgesetz geradezu modern. Doch aus Sicht der inzwischen nicht mehr ganz "neuen" Medien ist die Verfassung schon ziemlich alt.Damit ist die Frage aufgeworfen, ob man dem alten Grundgesetz überhaupt Aussagen zu neuen Phänomenen entnehmen darf. Sie wird kontrovers beantwortet. Wer der Auffassung ist, Verfassungen seien im Wesentlichen Aussagen der verfassunggebenden Gewalt, und diese habe im Jahre 1949 gesprochen, wird sie verneinen. Demnach wäre eine historische, am Willen der verfassunggebenden Organe orientierte Auslegung geboten. Wozu sie geschwiegen haben - etwa, weil es die zu beurteilenden Phänomene noch gar nicht gab -, dazu schweigt auch das Grundgesetz. Dessen Auslegung und Anwendung wäre dann eher statisch. Wer hingegen der Auffassung ist, maßgeblich sei der Inhalt der Verfassung und nicht der dahinter stehende Wille, wird den Text des Grundgesetzes zum Ausgangspunkt nehmen und versuchen, ihm Antworten auch auf neue Fragen zu entnehmen. In diesem Sinne wäre die Norm potentiell klüger als der Normgeber, das Verfassungsverständnis eher ein dynamisches.

Solche Kontroversen sind nicht auf Deutschland beschränkt. Sie finden sich in allen Verfassungsstaaten, in denen die Konstitution ein gewisses Alter erlangt hat - namentlich in den USA, deren noch immer maßgeblicher Verfassungstext in weiten Teilen schon seit mehr als 200 Jahren gilt. Dass deren historische Auslegung (back to the constitution) noch wesentlich weiter reichende Konsequenzen als in Deutschland haben würde, liegt nahe. Umso prinzipieller ist dort auch die entsprechende Kontroverse geführt worden.

Historische vs. dynamische Verfassungsauslegung

Der genannte Grundsatzstreit wird in Deutschland zumeist unter dem Aspekt seiner Konsequenzen geführt. Im Vordergrund steht die Frage nach der Abgrenzung von verfassungsändernder Gewalt (Art. 79 Abs. 2 GG: Bundestag und Bundesrat) einerseits sowie verfassungsauslegender und -anwendender Gewalt, in letzter Instanz dem Bundesverfassungsgericht, andererseits. Wer der historischen Methode anhängt, wird die Kompetenzen des Gerichts eher eng ziehen und dessen Urteils- und Kontrollmaßstäbe auf den Willen des Parlamentarischen Rates reduzieren. Zugespitzt ausgedrückt: Wozu - in der historischen Auslegung - das Grundgesetz schweigt, dazu hätten auch die Gerichte zu schweigen. Tun sie es nicht, so setzen sie in der Terminologie der historischen Position ihren subjektiven Willen an die Stelle des Grundgesetzes und stellen sich damit über den demokratischen Gesetzgeber - ein in einem demokratischen Staat (Art. 20 GG) schlichtweg unhaltbarer Zustand. Neue Antworten auf neue Fragen wären dann weitgehend dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten, der seit 1949 immerhin schon 52-mal gesprochen hat, wesentlich häufiger übrigens als in der über 200-jährigen amerikanischen Verfassungsgeschichte. Aber zum Internet hat er bislang geschwiegen.

Wer hingegen die dynamische Verfassungsauslegung bevorzugt, wird der Rechtsprechung eine weitergehende Rolle zuweisen. Ihr zufolge sind die Gerichte weder auf die alten Antworten des historischen Verfassunggebers noch auf neue Erkenntnisse zu alten Fragen noch auf regelmäßig unergiebige Spekulationen darüber verwiesen, wie sich denn wohl der Parlamentarische Rat zu den neuen Sachfragen gestellt hätte. Denn nach dieser Ansicht ist die Rechtsprechung nicht bloß der Mund des Gesetzes (etwa nach Montesquieu: la bouche qui prononce les paroles de la loi), sondern dessen denkender Interpret und damit nicht nur nachvollziehend, sondern auch gestaltend tätig. Doch sind die Gerichte dabei immer auf das Grundgesetz als Basis und Legitimation ihres Handelns verwiesen. Ihre Auslegung ist an das ausgelegte Grundgesetz gebunden. Grenze einer so verstandenen Verfassungsgerichtsbarkeit sind diejenigen Rechtsfragen, welche aus dem Grundgesetz nicht oder aber politisch nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Hier beginnen die Aufgaben der verfassungsändernden Gewalt.

Der skizzierte Streit um die Verfassungsgerichtsbarkeit ist also auch ein Streit um die Verfassung - und umgekehrt. Dass er im Kontext des Internets eine wichtige Rolle spielt, ist naheliegend. Dessen Entstehung und Wirkungen waren 1949 nicht im Mindesten absehbar, geschweige denn regelbar. Ist hier die Grenze der Verfassung erreicht oder gar überschritten? Wer diese Frage bejaht, müsste sie gleichfalls bejahen etwa beim Fernsehen, der digital vermittelten Kommunikation, der friedlichen Nutzung der Kernkraft, der "asymmetrischen Kriegsführung" und der Elektronischen Datenverarbeitung mittels PC und Laptop, um nur einige markante Beispiele zu nennen.

Verfassungen haben unterschiedliche Funktionen. Zwei sollen hier hervorgehoben werden. Für den Zeitpunkt der Verfassunggebung kommt ihnen namentlich die Bedeutung der politischen Positionierung zu: In ihnen bezieht der Verfassunggeber Position gegenüber früheren und konkurrierenden Ordnungen, also den Erfahrungen der Vergangenheit und - soweit erkennbar - denjenigen der Gegenwart. Dieser Positionierung kommt zunächst beschreibende, darüber hinaus aber auch hohe symbolische Bedeutung zu. Für das Grundgesetz bedeutete dies: Es waren wie auch immer geartete Konsequenzen aus der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte zu ziehen, namentlich der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus; darüber hinaus möglicherweise auch noch der Verfassung von 1871 und derjenigen von 1849. Daneben war aber auch Position zu beziehen gegenüber den zeitgenössischen konkurrierenden Entwürfen, namentlich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) der UN und den entstehenden sozialistischen Verfassungen in Osteuropa. Die Beratungen des Parlamentarischen Rates zeigten, dass sich seine Mitglieder um ganz unterschiedlich geartete "Lehren" zwischen den - aus ihrer Sicht - besten Traditionen der Verfassungsgeschichte einerseits sowie der klaren Absage an totalitäre Konkurrenzmodelle andererseits bemühten.

Über jenen Zeitpunkt hinaus enthalten Verfassungen aber auch einen Gestaltungsanspruch für die Zukunft. Es geht um die Durchsetzung und Verwirklichung der in ihnen enthaltenen Anordnungen, welche im Verfassungstext bloßes Papier sind. Dieser Gestaltungsanspruch reicht über den Zeitraum der Handlungsfähigkeit der verfassunggebenden Organe hinaus; genauer: Eigentlich setzt er erst ein, wenn diese Organe außer Funktion sind. Er kann demnach nicht auf den bloßen Willen der Verfassunggeber festgelegt sein, die genau wissen, dass sie als Organ nicht mehr handlungsfähig sind, wenn die Geltung ihres Verfassungswerks beginnt. Insoweit kann sich der Gestaltungsanspruch nicht allein auf vergangene oder gegenwärtige Fragestellungen beziehen. Eine Verfassung, welche die Zukunft mitgestalten soll, ist vielmehr von Anfang an auf die Regelung zukünftiger Rechtsprobleme angelegt. Ihr Gestaltungsauftrag kann nur dann wirksam werden, wenn ihrem Werk auch relevante Rechtsfolgen für zukünftige Fallgestaltungen entnommen werden.

Gerade hier liegt der Mehrwert der gestaltenden gegenüber der beschreibenden Wirkung von Verfassungen: Ersterer muss sich in der Zukunft und an zukünftigen Problemen beweisen. Wie dies geschehen soll, kann die Verfassung selbst bestimmen. Die Entscheidung für die Verfassungsgerichtsbarkeit ist somit - etwa im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1871 - die Entscheidung für eine auch justizielle Umsetzung und Anwendung der Verfassung in der Zukunft. Insoweit wäre es widersinnig, dem Verfassungsgericht Konkretisierungsaufgaben für die Zukunft zuzuweisen und es zugleich auf die Maßstäbe der Gegenwart bzw. Vergangenheit zu beschränken. Die hier eher angedeutete als nachgezeichnete Position verdeutlicht: "Grundgesetz und Internet" ist eine sinnvolle, relevante und dringliche Fragestellung.

Entgrenzungen und Grenzverschiebungen

Verfassung und Recht setzen Grenzen voraus, und sie ziehen ihrerseits Grenzen. Ihre demokratische Legitimation erfordert eine Festlegung darüber, wo und für wen sie gelten. Dadurch unterscheiden sie sich von ausländischen Rechtsordnungen. Aber das Recht findet solche Grenzen nicht nur vor, es verfestigt sie zugleich, denn die Differenzen von In- und Ausland werden durch unterschiedliches Recht weiter vertieft.

Das gilt nicht nur an den Außengrenzen der Staaten, sondern auch nach innen. Recht begründet und begrenzt die Kompetenzen von Bund und Ländern sowie der Länder untereinander. Es konstituiert den Rechtsstatus von Menschen im Staat und grenzt die Rechtssphären der Individuen, Gruppen und Organisationen voneinander ab. Eine wesentliche Komponente bildet auch die Unterscheidung und Abgrenzung öffentlicher und privater Sphären. Auch wenn beide Sphären keineswegs bloß Gegensätze sind, so ist doch ihre Differenzierung und Gestaltung rechtlich (mit-)geprägt. Solche Grenzziehungen sind wesentliche Bedingungen der Geltung und Wirksamkeit von Recht und zugleich vielfach Errungenschaften historischer Verfassungskämpfe, deren Ursprünge wesentlich älter sind als die gegenwärtig geltenden Verfassungen.

Diese Grundlagen und Leistungen des Rechts werden durch das Internet partiell verschoben, partiell sogar in Frage gestellt. Wo das Recht begrenzend wirkt, wirkt das Internet entgrenzend oder zumindest grenzverändernd. Diese Leistung des Internets kann durch die begrenzte Rechtsordnung weder im Vorhinein gesteuert noch im Nachhinein vollständig kontrolliert werden. Es mag paradox klingen: Aber gerade durch diese Funktion zeigt das Internet Verfassung und Recht ihre eigenen Grenzen auf.

Das beginnt bereits bei den Staatsgrenzen. Internetkommunikation ist grenzüberschreitend und grenzenlos. Dies gilt angesichts der Eigenart der Übertragungswege bisweilen auch für Kommunikationsvorgänge, deren Teilnehmer sich innerhalb desselben Staates aufhalten. Diese Ort- und Grenzenlosigkeit entzieht das Netz aber auch staatlichen Steuerungs- und Kontrollvorgängen: Die alte Gebiets- und Personalhoheit als Ausprägungen klassischer Staatsgewalt versagen. Nahezu alle Versuche einer Steuerung oder Kontrolle der Netzkommunikation erwiesen sich bislang als Herausforderung an Hacker und Cracks, die Barrieren und Kontrollen wirksam zu umgehen. Und wo diese in abgeschotteten autoritären Staaten dennoch gelingt, ist der Preis hoch: Er liegt regelmäßig in einem niedrigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Niveau, welches die Abschottung einerseits erst ermöglicht und andererseits durch sie weiter zurückgeworfen wird. Und was die Staaten praktisch nicht mehr kontrollieren können, können sie erst recht nicht steuern. Die Regeln für den Internetzugang, für -inhalte und -nutzung werden von weit entfernten und zudem semiprivatisierten Boards aufgestellt, welche sich staatlicher Einwirkung und Kontrolle weitgehend entziehen. Das Netz hat diese Effekte nicht hervorgebracht, aber potenziert und sichtbarer gemacht.

Auch im innerstaatlichen Bereich werden Grenzen in Frage gestellt. Die im Grundgesetz angelegte und stets sorgfältig gehütete Länderkompetenz zur Gesetzgebung und Verwaltung im Bereich der (Massen-)Medien wird durch die neuen Entwicklungen zusätzlich anachronistisch. Was der Bund an Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten hier nicht hat, fällt keineswegs in einer Art föderalistischen Nullsummenspiels den Ländern zu. Im Gegenteil: Was der Bund nicht kann, können die Länder erst recht nicht (mehr). Nicht zufällig richten sich manche Hoffnungen, aber auch Befürchtungen gerade in diesem Bereich auf die EU, bei der eine entsprechende Handlungsfähigkeit eher vermutet wird.

Damit deutet sich eine weitere Grenzverschiebung an: diejenige zwischen Rundfunk (und Fernsehen) einerseits und Telekommunikation andererseits. Die alte Grenze verlief zunächst entlang der verwendeten Medien (Rundfunk atmosphäregestützt, Telefon leitungsgestützt): Daraus folgte, dass Rundfunkwellen und damit Rundfunk tendenziell knapp waren, Fernsprechverkehr hingegen potenziell jedermann zur Verfügung stehen konnte. Später folgte die Differenzierung der Zahl der Beteiligten: Rundfunk sei Massen-, Fernsprechverkehr Individualkommunikation. Maßgebliches Unterscheidungskriterium wurde die Zahl der Empfänger: Was nur einem Empfänger zugänglich sein sollte, sei Fernmeldeverkehr; was mehreren offen stehen sollte, sei Rundfunk.

Diese sauberen Unterscheidungen verlieren im Netz an Relevanz. Die Übertragungswege sind hier ohnehin identisch, und immer mehr Nutzerinnen und Nutzer haben zahlreiche und sich zudem weiter ausdifferenzierende Möglichkeiten, die Zahl der Kommunikationsteilnehmer zu bestimmen und auch zu begrenzen. Wo Individualkommunikation semiöffentlich werden kann und öffentliche Kommunikation semiprivat, mag es sinnvoller sein, die Abgrenzung anhand der technischen Möglichkeiten und Verfahren zur Begrenzung oder zum Ausschluss der Beteiligung Dritter vorzunehmen. Hier ist die Kooperation von Recht und Technik gefordert. Denn wie auch immer die Unterscheidungen verlaufen, eine Grenzziehung ist rechtlich notwendig: Telekommunikation ist als vertraulich qualifiziert und geschützt (Art. 10 GG). Es gilt das Post- und Fernmelde- (oder Telekommunikations-) Geheimnis. Es mag technisch bedingte Grenzverschiebungen geben; Entgrenzungen wären demgegenüber rechtlich untersagt.

Damit deutet sich bereits eine weitere Grenzverschiebung durch das Netz an: die Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit. Dass das Netz auf beide Bereiche rechtliche Auswirkungen erlangen kann, ist viel erörtert und viel beklagt worden. Doch ist die Geschichte nicht bloß ein Niedergangsszenario. Auch in der Vergangenheit waren die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten keine einander ausschließenden Gegensätze. Vielmehr gab es vielfältige Verschränkungen und Überschneidungen. Aber wie haben sich die Grenzen verschoben? Und welche Auswirkungen hat diese Verschiebung eigentlich? Ist sie zu begrüßen oder zu beklagen? Oder beides?

Öffentlichkeit als Kommunikations- und Informationsteilhabe

Das Internet schafft neue Chancen, Formen und Foren der Öffentlichkeit. Das Grundrecht auf Informationsfreiheit aus allgemein zugänglichen Quellen (Art. 5 Abs. 1 GG) hat neue Anwendungsfelder erhalten; zugleich ist das Informationsangebot durch das Internet hinsichtlich seines Umfangs, seiner Aktualität und Erschließbarkeit erheblich gewachsen. In umgekehrter Richtung gilt dies auch für die öffentliche Selbstdarstellung: Die aktive Teilnahme an der Öffentlichkeit aus den eigenen vier Wänden heraus ist durch das Netz erst ermöglicht worden. Man kann Informationen und Meinungen einstellen, chatten und abstimmen. Die Möglichkeiten einer Einwirkung in der Öffentlichkeit und auf Mitwirkung an ihr haben sich erheblich vermehrt. Wer bislang entweder den oft mühsamen Zugang zu den Medien suchen oder aber zu öffentlichen Veranstaltungen gehen musste, kann nun vom häuslichen Terminal aus und mit etwas Fachkenntnis sogar anonym oder pseudonym an der Bildung der Meinung anderer mitzuwirken versuchen.

Das bedeutet nicht nur eine Vergrößerung des individuellen Freiheitsraums, sondern begründet auch eine Chance für mehr gesellschaftliche Partizipation und soziale Demokratie. Elektronische Kommunikation kann sich von der Einbahnstraße der tradierten Trennung von Sendern und Empfängern zu einer zweiseitigen Interaktion durch den Austausch von Informationen und Meinungen wandeln. Dass daraus Chancen und Formen für kommerzielle, soziale und staatliche Dienstleistungen entstehen können, die auch bislang schwer erreichbare Adressaten abrufen können, ist partiell bereits Realität, partiell immerhin schon in Umrissen erkennbare Zukunftsvision. Diese Freiheiten werden zu Recht als Vorzug unseres westlichen Rechts- und Verfassungssystems gegenüber anderen, insoweit noch entwicklungsbedürftigen Rechtsordnungen angesehen. Öffentlichkeit ist aus grundrechtlicher und demokratischer Sicht nichts Unerwünschtes. Der Weg in die Öffentlichkeit ist durch das Internet kürzer und einfacher geworden.

Diesen aus grundgesetzlicher Sicht vielfach erwünschten und geschützten Chancen des Internets stehen Risiken gegenüber. Da ist zunächst der Aspekt der neuen Ungleichheit: Nicht alle Menschen sind Internetnutzer, vielmehr lassen sich erhebliche Unterschiede im Rahmen der Alterspyramide, der sozialen Schichtung und des Bildungsgefälles innerhalb der Gesellschaft feststellen. Zumindest Alte und Arme, möglicherweise auch noch andere Gruppen, sind erheblich unterrepräsentiert. Hier zeigt sich: Die demokratische Gleichheit öffentlicher Teilhaberechte wird durch das Netz möglicherweise erhöht. Doch wird sie zugleich flankiert durch andere, neue oder neu sichtbare Ungleichheiten. Der Emanzipation der einen steht die fortschreitende Marginalisierung anderer Gruppen gegenüber. Durch das Internet verschieben sich zwar die gesellschaftlichen Bruchlinien, aber sie verschwinden nicht.

Weitere Risiken seien hier nur angedeutet. Da ist einerseits das Risiko neuer Formen von Kriminalität, zu deren Opfer die Nutzer werden können. Da ist der sich weiter steigernde Zugriff Dritter auf die Privatsphäre: Nicht nur der Weg aus der Wohnung in die Öffentlichkeit ist kürzer geworden, auch der umgekehrte Weg verkürzt sich. Dabei ist es gar nicht in erster Linie die staatliche Überwachung und nicht einmal die jüngst zu Recht kritisierte Vorratsdatenspeicherung, welche in den persönlichen Bereich eingreift. Vielmehr sind es private Dienstanbieter, die sich im Hinblick auf die Sphäre des Einzelnen nicht selten zugleich als Nachfrager erweisen. Dies können legale und illegale Kontrollmechanismen sein, welche mit oder ohne Zustimmung des Betroffenen ausgeübt, installiert oder ermöglicht werden. Nicht zufällig gilt gegenwärtig vielen als Prototyp des potentiell Allwissenden nicht mehr der Überwachungsstaat, sondern Google. Und was das Netz ermöglicht, wird von vielen kommerziellen und anderen Usern genutzt.

Der neue Weg in die Öffentlichkeit ist keine Einbahnstraße. Auf demselben Weg, den der Einzelne aus einem privaten Bereich in die Öffentlichkeit des Internets nehmen kann, können Dritte und die Öffentlichkeit auch in seine Privatsphäre eindringen. Nun ist im Staat des Grundgesetzes, der sowohl Grundrechte als auch Demokratie kennt, weder Öffentlichkeit noch Privatsphäre noch deren prinzipielle Trennung unerwünscht. Im Gegenteil: Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass beide Sphären einander brauchen und voneinander profitieren. Umso nachhaltiger stellt sich die Frage nach den Mechanismen sowohl einer möglichen Abgrenzung als auch einer notwendigen und sinnvollen Verschränkung beider Sphären. Diese Fragestellung ist nicht neu, wird jedoch durch das Internet ein weiteres Mal und mit gewandelten Facetten aufgeworfen. Als maßgeblicher Abgrenzungsmechanismus hat sich mangels besserer Alternativen die Rückzugsfreiheit des Einzelnen erwiesen; anders ausgedrückt: die Freiheit, selbst über Regeln und Mechanismen des Zugangs zur eigenen Privatsphäre zu entscheiden. Dies setzt die Möglichkeit informierter Selbstbestimmung voraus, welche nicht nur über den Nutzen, sondern auch über die Kosten der neuen Öffentlichkeit wie auch der neu zu konstituierenden Privatheit weiß und auf dieser Grundlage eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen kann. Das Netz bietet nicht nur neue Chancen; diese haben auch ihren Preis. Freiheit ist eine Währung, ihn zu entrichten. Hier geht es um den Kurs dieser Währung. Dessen Angemessenheit, seine Kenntnis und die Möglichkeit der Entscheidung, ihn entrichten zu wollen oder nicht, sind die Grundlagen der neuen Freiheit.

Elektronische Privatsphäre

Die Privatsphäre ist der Bereich, in dem der Einzelne die Regeln des Zugangs zu ihm und des Umgangs in ihm wesentlich mitbestimmt. Auch hier ist der Einzelne fast nie ganz allein, und auch hier bestimmt er fast nie ganz allein. "Privat" ist ein sozialer, kein a-sozialer Zustand. Umso nachhaltiger stellt sich die Frage nach seiner Definition und seinem Schutz. Früher dominierte die Sphärentheorie, welche alle Lebensbereiche in Intim-, Privat- und Sozialsphäre aufteilen und so einen ebenso differenzierten wie differenzierungsbedürftigen Schutz sichern wollte. Dies knüpft an zahlreiche Formulierungen des Grundgesetzes an, welche teils räumliche (Wohnung, Art. 10 GG), teils soziale Sphären (Familie, Art. 6 GG) schützen. Aber je kommunikativer das Private wird, desto schwieriger wird seine Zuordnung zu Sphären. Andere Menschen zählen eben nicht primär zu meiner, sondern haben eine eigene Privatsphäre; dort steht ihnen die gesteigerte Selbstbestimmung zu. Hier setzte - "unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung" - die geglückte Formel von der informationellen Selbstbestimmung an, die rasch und völlig zu Recht zur neuen Leitformel wurde. Doch blieb ihr Potential unausgeschöpft: Sie wurde primär als Recht der Abwehr unerwünschter Eingriffe in die eigene Grundrechtssphäre - etwa durch Volkszählungen - verstanden.

Gegenwärtig wird Privatheit eher unter der Chiffre ihres Verlustes thematisiert. Denn Selbstbestimmung kann nur ausüben, wer die Wahl hat. Wem keine Alternativen bleiben, der ist Adressat von Fremdbestimmung, nicht Subjekt der Selbstbestimmung. Für die Nutzung elektronischer Medien bedeutet dies: Solange die Chance auf ein selbstbestimmtes, einigermaßen chancengleiches und potentiell öffentliches Leben auch ohne die Angebote des Internets besteht, kann die Entscheidung für oder gegen dessen Nutzung selbstbestimmt sein. Doch ist dieser Punkt gegenwärtig wohl schon überschritten: Ganz ohne Netz ist für viele Menschen, Gruppen und soziale Felder kein gleichwertiges Leben mehr möglich. Selbst die insofern eher konservative öffentliche Hand ermöglicht viele Informationen, Services und Handlungsmöglichkeiten auch, vorrangig oder bisweilen allein im Netz. Wer darauf verzichten kann oder will, kann sich selbstbestimmt gegen das Internet entscheiden. Andernfalls ist er auf das Netz angewiesen.

Was hier für das Ob der Nutzung ausgeführt ist, gilt weitgehend auch für das Wie. Das in Teilbereichen hochgradig oligopolisierte Angebot von Internetleitungen lässt vielfach kaum noch Auswahl zu. Dort wird das Leitbild der informationellen Selbstbestimmung zur Schimäre. Für die nicht immer freiwilligen Nutzer verschiebt sich der Fokus der Privatheit ein weiteres Mal, von der selbstbestimmten Entscheidung über die Mediennutzung zum Schutz der Freiheit angesichts und unter den Bedingungen unumgänglicher Internetnutzung. Hier setzt das neue Leitbild vom Freiheitsschutz durch "Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme" an.

Die Formel ist Leitbild und Aufgabe zugleich. Sie benennt den erwünschten Zustand. Dieser stellt sich jedoch nicht von selbst ein. Das Internet ist für sich weder integer noch vertraulich. Aber es kann so und seine Nutzung muss so ausgestaltet werden. Im Internet ist Freiheitsschutz primär Vertrauensschutz. Zwar kann man mit dem Netz viele Informationen über die Nutzer und deren Nutzung erlangen. Doch umgekehrt können die meisten Nutzer viele für sie relevante Informationen über das Netz, die anderen Nutzer und die sich daraus ergebenden Risiken nicht erlangen. Ein Medium, das für alle offen ist und sein soll, kann sich nicht nur an Experten wenden. Und auch bei der Nutzung des Internets stellen die technischen und informatischen Laien - um nicht zu sagen Analphabeten - längst die Mehrheit. Sie kennen allenfalls Oberflächen und Bedienungsanleitungen, nicht aber die technischen Risiken und Nebenwirkungen; und zwar auch dann nicht, wenn sie formell entscheiden dürfen. Die breite Öffentlichkeit muss das Netz nehmen, wie es ist - mit allen technisch, ökonomisch und rechtlich bedingten Vor- und Nachteilen.

Daran ändert grundsätzlich auch die Tatsache nichts, dass Nutzer in zahlreichen Situationen selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie etwa umständliche Geschäftsbedingungen akzeptieren oder bestimmten Übergriffen ihrer Geschäftspartner zustimmen. Derartige "Einwilligungslösungen" reichen zum Freiheitsschutz nicht aus, solange die Voraussetzungen und Folgen nicht hinreichend transparent dargestellt und unter zumutbaren Bedingungen erkennbar sind. Pointiert formuliert: Im Netz wissen viele vieles über uns, aber wir wissen wenig oder nichts über das Netz, die Wissenden und die Quellen ihres Wissens. In diesem Sinne ist Netzvertrauen blindes Vertrauen.

Blindes Vertrauen ist aber nicht die Quelle von Freiheit, sondern von Unfreiheit. Im Internet müssen die Bedingungen des neuen Leitbilds erst hergestellt werden. Dies ist die Aufgabendimension der neuen Formel. Die einzelnen Schritte zum Ziel lassen sich aus der Formel nicht ableiten, sie müssen vielmehr erst durch Gesetzgebung, Regulierung und Aufsicht hergestellt werden. So wird der Staat vom Gegner zum Schützer und Hersteller der Freiheit; genauer: Er erscheint in einer Doppelrolle, einerseits als Adressat des "unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung" auch im Netz, andererseits als dessen Hersteller und Hüter gegenüber Dritten.

Als das alte Postnetz noch staatlich war, ergab sich diese Aufgabe für ihn unmittelbar aus Art. 10 GG. Mit dessen Privatisierung ist der Staat zum Gewährleistungsverantwortlichen für die Freiheit geworden: wohlgemerkt zur Gewährleistung gegenüber Dritten, nämlich Netzbetreibern und Diensteanbietern. Auf welche Weise und mit welchen Mitteln er sich dieser Aufgabe annimmt, ist primär seine Angelegenheit. Denn die neue Formel umschreibt Ziele und Aufgaben, aber keine Mittel. Dementsprechend ist das Internetrecht eine rasch expandierende Materie, deren Durchsetzung ebenso mühsam wie langwierig ist.

Schluss

Das Internet ist eine Form der Globalisierung, welche - im Unterschied zu zahlreichen anderen ihrer Erscheinungsformen - den Einzelnen adressiert und von nahezu jedermann selbst und unmittelbar genutzt werden kann. Global sind Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten, aber territorial begrenzt und damit regional sind demgegenüber Staat, Recht und Verfassung: Ihnen werden durch das Internet ein weiteres Mal - in mehrfachem Sinne - ihre Grenzen vor Augen geführt. Schwindende Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten markieren indes nicht das Ende der Staaten und ihrer Verfassungen, wohl aber Notwendigkeit und Richtungen eines Wandels der Staatlichkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einerseits Gunnar Folke Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, (1995), S. 32; andererseits Christian Hillgruber, Neue Methodik - Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, in: Juristenzeitung, (2008), S. 745.

  2. Zum Folgenden vgl. grundlegend Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/M. 1991.

  3. Ein Überblick findet sich bei Patrick Mayer, Selbstregulierung im Internet - Institutionen und Verfahren zur Setzung technischer Standard, in: Kommunikation und Recht, (2000), S. 13.

  4. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 12, 205.

  5. Vgl. etwa Alexander Roßnagel/Alexander Scheuer, Das europäische Medienrecht, in: Multimedia und Recht, (2005), S. 271.

  6. Hier sei erwähnt, dass die Unterscheidung zwischen Presse und Rundfunk im Netz immer stärker verwischt, denn beide Seiten haben sich starke Internetpräsenzen zugelegt. Das gilt für die tendenzielle Einmaligkeit, Flüchtigkeit und eher begrenzte Archivier- und Reproduzierbarkeit von Rundfunksendungen ebenso wie für die Periodizität, geringere Aktualität und Punktualität der Presse (was gedruckt ist, kann nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht werden). Vgl. dazu Hubertus Gersdorf, Legitimation und Limitierung von Onlineangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Berlin 2009.

  7. Eine andere Frage ist demgegenüber, wie derartige rechtliche Forderungen technisch umgesetzt bzw. umgangen werden können. Hier gibt es längst mehr als nur die Vermutung, dass das Telekommunikationsgeheimnis allenfalls auf geduldigem Papier stehe, aber technisch auf vielfältige Weise umgangen werden könne, sodass der Grundrechtsschutz technisch mehr oder weniger ins Leere laufe. Nützliche Hinweise dazu finden sich etwa bei Thomas Groß, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Losebl., Art. 10 Rn. 58ff.

  8. Zum Folgenden vgl. den Überblick bei Christoph Gusy, Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, in: Datenschutz und Datensicherheit, (2009), S. 33.

  9. Wichtig: BVerfGE 27, 1.

  10. BVerfGE 65, 1; Zitat S. 45.

  11. Vgl. Wolfgang Sofsky, Verteidigung des Privaten, München 2007; Peter Schaar, Das Ende der Privatsphäre, München 2007.

  12. BVerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift, (2008), S. 822; vgl. dazu Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Juristenzeitung, (2008), S. 1020f.

  13. Seit BVerfGE 109, 279, 316f. (Großer Lauschangriff).

  14. Vgl. dazu Andreas Wien, Internetrecht, Wiesbaden 2008; Bert Eichhorn, Internetrecht, Berlin-Wien-Zürich 2007; Detlef Kröger/Marc A. Gimmy, Handbuch zum Internetrecht, Berlin u.a. 20022; Thomas Hoeren/Ulf Müller, Entwicklung des Internet- und Multimediarechts im Jahr 2007, in: Multimedia und Recht, (2008) Beilage.

Dr. jur., geb 1955; Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld.
E-Mail: E-Mail Link: christoph.gusy@uni-bielefeld.de

Geb. 1982; wissenschaftlicher MItarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld (s.o.).
E-Mail: E-Mail Link: christoph.worms@uni-bielefeld.de