Christen in der Demokratie
Christen inmitten der demokratischen Gesellschaft stehen zu ihr in einem Verhältnis kritischer Solidarität. Die Bejahung der Demokratie schließt ein, dass jede demokratische Ordnung verbesserbar ist.Einleitung
Christen, wohin das Auge schaut! So könnte man fast etwas überrascht feststellen, wenn man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unter dem Gesichtspunkt ihrer führenden politischen Persönlichkeiten überblickt. Vom ersten Bundes-präsidenten Theodor Heuss über Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker, über Roman Herzog und Johannes Rau bis zum amtierenden Präsidenten Horst Köhler war das Amt des Bundespräsidenten über weite Strecken christlich, ja, sogar deutlich protestantisch geprägt. Im Blick auf die Bundeskanzler kann man ebenfalls eine christliche Prägung konstatieren: Vom römisch-katholischen "Gründungs"-Kanzler Konrad Adenauer über den pragmatischen Verantwortungsethiker Helmut Schmidt, der sich freilich im hohen Alter nur noch mit Einschränkungen als Christ bezeichnen möchte,[1] bis hin zur evangelischen Bundeskanzlerin, der Pastorentochter Angela Merkel, haben Christen auch dem politisch wichtigsten Amt der deutschen Demokratie ihren Stempel aufgedrückt.Das sind zwei Beispiele dafür, dass das demokratische Gemeinwesen Deutschlands und somit die Geschichte unserer Republik durch das Wirken von Christen in leitenden politischen Ämtern mitgeprägt sind. Christen sind es auch, die eine führende Rolle bei der friedlichen Revolution in der DDR vor zwanzig Jahren spielten. Sie haben durch ihre Mitarbeit an den Runden Tischen, aber auch durch ihren Beitrag als Mitgründer und Mitgestalter in den politischen Parteien der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer einen gewaltfreien und geordneten Übergang in die Berliner Republik möglich gemacht. Zu Recht schreibt der ehemalige Bundesminister und frühere Präses der EKD-Synode Jürgen Schmude: "Die Kirche war der einzige demokratische Sektor in der DDR."[2]
Christen, wohin das Auge schaut? Das war keineswegs immer so. Die Christen haben lange gebraucht, um ein konstruktives Verhältnis zur Demokratie zu finden. Ich habe Aspekte dieses mühevollen, aber erfolgreichen Zueinander-Findens an anderen Stellen nachgezeichnet.[3] Noch in der Weimarer Republik war die große Mehrzahl der deutschen Pfarrer demokratiekritisch bis -feindlich eingestellt. Und noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg, 1959, konnte sich mein Vorgänger im Amt des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Otto Dibelius, eine Obrigkeit letztlich nur in patriarchalischen Formen denken. Eine demokratisch gewählte Regierung besaß für ihn, da sie prinzipiell abwählbar war, keine wirkliche Autorität. Aber selbst für den Mentor der Bekennenden Kirche, Karl Barth, der in der Schweiz Demokratie von der Pike auf gelernt hatte, waren politische Parteien "eines der fragwürdigsten Phänomene des politischen Lebens; keinesfalls seine konstitutiven Elemente, vielleicht von jeher krankhafte, auf jeden Fall nur sekundäre Erscheinungen".[4]
Für die evangelische Kirche - und zwar keineswegs nur in ihrer lutherischen Gestalt - blieb die Demokratie lange Zeit ein Wagnis, dem man sich erst stellen zu können meinte, als andere zu Recht längst schon "mehr Demokratie wagen" (Willy Brandt 1969) wollten. Dem langen Weg Deutschlands nach Westen (Heinrich August Winkler) entspricht ein langer, nicht immer rühmlicher Anmarschweg der evangelischen Christenheit zur Demokratie. Aber immerhin: Die Kirchen kamen in ihr an. Im Jahr 1985 erschien die Demokratie-Denkschrift[5] des Rates der EKD. Sie wurde von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD[6] unter Vorsitz des Münchner Theologen Trutz Rendtorff erarbeitet. Der Rat und die Synode der EKD eigneten sich dieses Dokument ausdrücklich an.[7]
"Christen in der Demokratie" ist auch die Überschrift über ein Zukunftsprojekt von hoffentlich unabsehbarer Dauer. Denn die christlichen Kirchen sind dem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen dankbar für die Bedingungen, unter denen sie hier und heute existieren können. Sie sind froh über die politische und rechtliche Ordnung und die vorzüglichen Gestaltungsmöglichkeiten, die diese für Individuen, politische und zivile Akteure bietet. Mehr als das: Sie sind in hohem Maße solidarisch mit der Demokratie, bejahen sie und sind bereit, sie gegen Gegner und Feinde, bei Herausforderungen und in Gefahren zu unterstützen und zu verteidigen. Zu Recht behauptet Christof Gestrich: "Im heutigen Europa gehören die Kirchen im Zweifelsfall zu den überzeugtesten Verteidigern der Demokratie."[8] Einen aktuellen Beleg für diese These bietet das Gemeinsame Wort der beiden großen Kirchen in Deutschland: "Demokratie braucht Tugenden".[9]
Sowohl in der Demokratie-Denkschrift von 1985 als auch im Gemeinsamen Wort von 2006 werden die Affinitäten skizziert, die zwischen Christentum und Demokratie bestehen. Aus Sicht des christlichen Glaubens sind Menschenwürde und Menschenrechte Kategorien, die in der Gottebenbildlichkeit des Menschen wurzeln. Die gebotene Nächstenliebe hat ebenso wie die ebenfalls zu ihm gehörende Feindesliebe die anderen Menschen als von Gott geliebte Personen im Blick; eben deshalb ist diese Liebe auf Frieden und Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Miteinander ebenso wie im Feld der Politik gerichtet. Eine christliche Tugendlehre enthält daher als Grundelement immer die Achtung und den Respekt vor der Würde des Einzelnen. Die in seiner Gottebenbildlichkeit wurzelnde, unverlierbare und unantastbare Würde des Menschen gehört nach der viel zitierten These Ernst-Wolfgang Böckenfördes zu den Voraussetzungen, auf denen der freiheitliche, säkularisierte Staat beruht, die er selbst aber nicht garantieren kann.[10]
Die Kirchen bekennen sich - das ist eine Pointe des Gemeinsamen Wortes von 2006 - klar zu der Verantwortung, die sie für das demokratische Gemeinwesen tragen. Sie identifizieren[11] bürgerliche und politische Tugenden, die für das Gelingen eines Gemeinwesens ebenso nötig sind wie eine gute Verfassung und rechtlich bestimmte Institutionen. Ich hebe drei der im Gemeinsamen Wort von 2006 genannten Beispiele hervor.
"Demokratie braucht Tugenden" hat sich mit Bedacht auf Aussagen über das politische System im engeren Sinne des Wortes beschränkt. Deshalb war in dieser Schrift vom ökonomischen System keine Rede, also von der Wirtschaft, den Konzernen, den Unternehmen und Banken. Dabei ist es unbestreitbar, dass die Wirtschaft in ganz besonderem Maße Wichtiges zur Stabilität und Leistungsfähigkeit eines demokratischen Staatswesens beizutragen hat. Eine starke Wirtschaft kann die Demokratie stärken, eine schwache sie nachhaltig erschüttern. Die Geschichte der Weimarer Republik belegt dies. In der Wirtschaft tätige Christen haben besondere Verantwortung für ihr politisches Umfeld. Es war folgerichtig, dass die EKD nach dem Gemeinsamen Wort und nach der Armutsdenkschrift[12] im Jahr 2008 eine Unternehmerdenkschrift[13] veröffentlicht hat. Darin werden Tugenden des Unternehmerstandes (Innovationsbereitschaft, Kreativität, soziale Verantwortung) beim Namen genannt - und ebenso, als mögliche Kehrseite der Tugenden, entsprechende Untugenden (Gier, Geiz, soziale Verantwortungslosigkeit).
Mit Tugenden allein ist freilich noch kein Staat zu machen. Eine gute Verfassung garantiert ebenfalls nicht den Erfolg des Gemeinwesens. Beides muss zusammenkommen - und darüber hinaus bedarf es einer begründeten und tragfähigen Hoffnung in den Herzen der Menschen.[14] Christen in der Demokratie hoffen darauf, dass Gott diese Welt nicht im Stich lässt, sondern sie begleitet, und dass er für das Leben auf dieser Erde eine gute Zukunft will.
Christen in der Demokratie leben nicht außerhalb der Welt, sondern mitten in der Gesellschaft. Sie sind freilich auch nicht ihr Zentrum und können und wollen dies nicht werden. Kaum ein Gedanke liegt der Christenheit in der Gegenwart ferner als der an eine christliche Theokratie. Indem Christen inmitten der demokratischen Gesellschaft leben, stehen sie zugleich zu ihr in einem Verhältnis kritischer Solidarität. Sie identifizieren sich mit der Demokratie, glorifizieren sie aber nicht. Sie treten für die Demokratie ein, weil sie unter allen Staatsformen am realistischsten mit der Fehlsamkeit menschlichen Handelns und der Verführungskraft der Macht umgeht. Deshalb sehen sie in der Gewaltenteilung, der Verleihung von Herrschaft auf Zeit und der Begrenzung von Macht hilfreiche Bestimmungsmomente der Demokratie. Die Bejahung der Demokratie schließt ein, dass jede demokratische Ordnung verbesserbar, aber auch verbesserungsbedürftig ist.
Selbst das beste überhaupt denkbare irdische Gemeinwesen wird niemals mit dem Reich Gottes gleichzusetzen sein. Hierzu ist mit Paul Tillich zu sagen: "Insofern die Demokratisierung politischer Institutionen und Haltungen dem Widerstand gegen die zerstörerischen Elemente der Macht dient, ist sie eine Manifestation des Reiches Gottes in der Geschichte. Aber es wäre vollkommen verfehlt, demokratische Einrichtungen mit dem Reich Gottes in der Geschichte zu identifizieren."[15] Tillich sieht den Grund hierfür in der Zweideutigkeit geschichtlichen Lebens. Christen, die in der Demokratie leben, bejahen diese Zweideutigkeit und halten sie für unhintergehbar. Sie können mit ihr leben, weil sie die Eindeutigkeit der Liebe Gottes kennen und die Welt in ihrem Licht sehen.