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Diplomatischer Erfolg und kommunikatives Desaster: Die Raketenabwehrpläne der USA | Sicherheitspolitik | bpb.de

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Diplomatischer Erfolg und kommunikatives Desaster: Die Raketenabwehrpläne der USA

Thomas Jäger Daria W. Dylla Daria W. Dylla Thomas Jäger /

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US-Präsident Obama hat die Raketenabwehrpläne der USA modifiziert. Durch die stärkere Einbeziehung der NATO-Mitglieder und Russlands konnte eine breitere Unterstützung für die Abwehrpläne gewonnen werden.

Einleitung

Von seinem Amtsvorgänger George W. Bush hat der im Winter 2008 gewählte US-Präsident Barack Obama eine Reihe sehr unterschiedlicher sicherheitspolitischer Probleme geerbt: zwei Kriege (im Irak und in Afghanistan), den "Kampf gegen den Terrorismus", eine mit vielen schwerwiegenden Folgen verbundene Energie- und Klimapolitik sowie mit der NATO ein Bündnis auf der Suche nach einer neuen mitgliedschaftlichen (hinsichtlich der Ukraine und Georgien) und aufgabenspezifischen Identität. Alle diese Aufgaben hängen mit einem Projekt zusammen, welches die amerikanische Sicherheitspolitik seit Präsident Ronald Reagan (1981-1989) intensiv beschäftigt: der Abwehr ballistischer Raketen, der autonomen (Wieder-)Herstellung von militärischer Unverwundbarkeit und dem Ziel, alle potenziell feindlichen Staaten vor eine nicht zu durchdringende Wand - den Raketenabwehrschirm - zu stellen. Das politische Ziel ist in den vergangenen Jahrzehnten dasselbe geblieben: Die USA sollen militärisch unverwundbar werden und unter Nutzung der politischen, ökonomischen und militärischen Mittel die eigene dominante Stellung in der Welt absichern.

Als eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen US-Sicherheitspolitik gilt hierbei der Aufbau des während der Ära George W. Bushs intensiv vorangetriebenen Raketenabwehrsystems (Ballistic Missile Defense, BMD), dessen Aufstellung unter anderem in Mitteleuropa geplant ist. Nach monatelangen Verhandlungen mit Washington haben Polen der Aufstellung einer unterirdischen Basis mit zehn Abfangraketen und Tschechien der Installierung eines X-Band-Radars (Radarstation) auf eigenen Territorien zugestimmt. Die im Jahr 2008 abgeschlossenen Raketenabwehrgespräche wurden von Protesten Russlands und skeptischen Stimmen einiger NATO-Mitgliedstaaten begleitet.

Politikwechsel in der Raketenabwehr

Angesichts veränderter innen- und auch außenpolitischer Konstellationen stellt sich die Frage, ob dem Raketenabwehrschirm auch nach dem Machtwechsel in Washington dieselbe Bedeutung beigemessen wird. Denn bereits während des US-Präsidentschaftswahlkampfs stand Barack Obama dem BMD-Projekt wenig enthusiastisch gegenüber. So wurde in den Medien darüber spekuliert, ob seine Wahl das Ende für die Raketenabwehrpläne bedeute. Nach der Amtsübernahme verkündete das Weiße Haus, dass zunächst die Effektivität des Abwehrsystems überprüft und eine ausführliche Bedrohungsanalyse durchgeführt werden müsse, bevor die US-Regierung eine endgültige Entscheidung über die Fortsetzung des Projekts treffen könne. Im April 2009 kündigte der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates Kürzungen im Budget des Pentagons für das BMD-System um etwa 1,4 Milliarden US-Dollar an. Im August 2009 gingen die "New York Times" und die polnische "Gazeta Wyborcza" davon aus, dass die neue US-Administration auf das BMD-Projekt höchst wahrscheinlich verzichten werde. Schließlich verkündete Obama am 17. September 2009, dass die von seiner Vorgängerregierung geplanten Abwehrpläne nicht in derselben Form weiterverfolgt werden.

Zwar wies das Weiße Hause einen Zusammenhang zwischen der Modifikation des Abwehrprojektes und den vorangegangenen Protesten Russlands zurück, dennoch gehen viele Analysen davon aus, dass diese Entwicklung im Zusammenhang mit einer angestrebten Verbesserung der amerikanisch-russischen Beziehungen betrachtet werden müsse. Denn die Aufnahme guter und kooperativer Beziehungen zu Moskau ist aus Sicht Washingtons zentral, um zwei Prioritäten der US-Außenpolitik unter Obama besser umsetzen zu können: (1) Fortschritte in der Abrüstungspolitik und (2) die Durchsetzung der UN-Sanktionen gegen den Iran.

Die russische Führung gab mehrfach zu verstehen, eine Unterstützung der UN-Sanktionen gegen den Iran wie auch die Unterzeichnung des START-Folgeabkommens (New-START) davon abhängig zu machen, inwiefern ihre Bedenken bezüglich des US-Raketenabwehrschildes berücksichtigt werden. Auf viele Beobachter wirkte der Verzicht auf die von George W. Bush prononcierte Version des Abwehrsystems wie ein Tauschgeschäft beziehungsweise Geschenk für Russland oder gar "Kniefall Obamas gegenüber dem Kreml". Der Politikwechsel in der Raketenabwehr und der Russlandpolitik wurde mit einer Vernachlässigung der Beziehungen Washingtons zu Mitteleuropa kontrastiert. So sprachen Kommentatoren von Enttäuschungen, Frust und Wut der Mitteleuropäer gegenüber Amerika sowie vom Ende der special relationship zwischen den USA und ihren Verbündeten aus dem ehemaligen Ostblock. Zum ersten Mal seit 20 Jahren hätten die USA ein besseres Verhältnis zu Russland ihren Beziehungen zu den mitteleuropäischen Staaten vorgezogen.

Doch der Abschied der USA von ihren ursprünglichen Abwehrplänen sollte auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: Erstens ist es Obama durch die Modifizierung der Raketenabwehrpläne gelungen, die Beziehungen zu Russland - wenn auch nur temporär - zu verbessern, ohne auf ein auch Mitteleuropa einbeziehendes Abwehrsystem zu verzichten. Nicht zuletzt wurde es dadurch der russischen Regierung ermöglicht, innen- wie außenpolitisch das Gesicht zu wahren. Zweitens muss die Abkehr von dem BMD-System nicht unbedingt eine Vernachlässigung sicherheitspolitischer Interessen der zwei ursprünglich für dessen Installierung vorgesehenen Staaten - Polen und Tschechien - nach sich ziehen. Vielmehr wurde beiden Ländern eine Beteiligung an dem modifizierten Abwehrsystem angeboten, die sie annahmen. Immerhin ging es Polen und Tschechien bei den Raketenabwehrvereinbarungen im Jahr 2008 weniger um einen Abwehrschutz gegen Bedrohungen aus dem Iran als vielmehr um die Prsenz amerikanischen Militärs auf eigenem Boden. Dies soll auch das neue Abwehrsystem gewährleisten. Da mit der Bekanntgabe der Projektmodifizierung die russischen Drohungen gegenüber Warschau und Prag ausblieben, kann die Entscheidung Obamas in diesem Kontext mit einem zusätzlichen Vorteil für Mitteleuropa verbunden sein. Drittens ist das neue Abwehrsystem auf eine engere Kooperation Washingtons mit anderen NATO-Mitgliedstaaten ausgelegt. Die "NATOisierung" des amerikanischen Abwehrschildes kann nicht zuletzt dadurch gelingen, dass die russischen Bedenken teilweise ausgeräumt werden. So haben sich auch dem BMD-System skeptisch gegenüberstehende Bündnisstaaten wie Frankreich bereit erklärt, bei dem neuen Abwehrsystem mitzumachen. Vor diesem Hintergrund scheinen die Veränderungen in den amerikanischen Raketenabwehrplänen weniger das Ergebnis russischen Drucks als vielmehr durchaus eine im Interesse der USA liegende Entscheidung zu sein.

Die hot potato zwischen den USA und Russland

Bereits im Februar 2009 soll Barack Obama der "New York Times" zufolge einen "Geheimbrief" an den Kreml-Chef Dimitri Medwedew geschrieben haben. Darin wurde eine Abkehr von der unter der Bush-Regierung entwickelten Version des Abwehrschildes in Mitteleuropa angedeutet, sollte Moskau Washington helfen, den Iran von der Entwicklung von Langstreckenraketen abzubringen. Zuvor deutete die russische Führung dem Weißen Haus an, dass ein reset in den amerikanisch-russischen Beziehungen eine Reaktion Washingtons auf die sicherheitspolitischen Bedenken Moskaus voraussetzen würde. Hierbei wurde in erster Linie das von Moskau kritisierte BMD-System betont. Das war auch Russlands Zentralanliegen während der bilateralen Verhandlungen über das START-Folgeabkommen.

Ein amerikanisch-russisches joint understanding, in dem sich beide Seiten auf eine weitgehende Reduktion ihrer strategischen Nuklearwaffen geeinigt haben, wurde im Juli 2009 unterzeichnet. Einige Wochen später verkündete Barack Obama offiziell den Abschied von den Raketenabwehrplänen der Bush-Ära. Demzufolge sollen unter anderem die in Polen und Tschechien geplanten Abwehranlagen durch ein mobiles see- und landgestütztes Abwehrsystem (AEGIS) ersetzt werden. Obama zufolge wurde diese Entscheidung auf der Basis von zwei Prämissen getroffen: Erstens solle eine Bedrohungsanalyse gezeigt haben, dass wider Erwarten die Entwicklung von Kurz- und Mittelstreckenraketen im Iran schneller vorangetrieben werde als die Entwicklung von Langstreckenraketen. Dadurch sei aktuell die unmittelbare Gefahr für die europäischen NATO-Mitgliedstaaten größer als für die USA selbst. Zweitens solle das neue System kosteneffektiver und technisch fortgeschrittener sein. Wenig überraschend begrüßte der Kreml den Kurswechsel als positives Signal und wertete ihn als Triumph der eigenen Diplomatie: Die Veränderungen in den Raketenabwehrplänen seien eine "Folge der kompromisslosen Haltung" Moskaus, unterstrich das russische Außenministerium.

Trotz der positiven Erstreaktionen scheint diese Frage allerdings noch immer die hot potato der amerikanisch-russischen Beziehungen zu sein. So kündigte der russische Außenminister Sergei Lawrow im Juli 2010 an, dass sich Russland aus dem im April 2010 unterzeichneten START-Folgeabkommen zurückziehen werde, sollten die USA ihr in Mitteleuropa geplantes Abwehrsystem derart aufstellen, dass es die Effektivität des russischen strategischen Nuklearwaffenarsenals beeinträchtige. Auch äußerte Moskau Unzufriedenheit aufgrund der im polnisch-amerikanischen Raketenabwehrabkommen vereinbarten Lieferung der Patriot-Batterie nach Polen im Mai 2010, dies sei einem Vertrauensaufbau zwischen Russland, den USA und Polen nicht dienlich. Doch trotz dieser Kritik genehmigte der Kreml die NATO-Flüge durch den russischen Luftraum nach Afghanistan und unterstützte die UN-Sanktionen gegen den Iran. Hinzu kam, dass der russische Präsident Medwedew auf die Installierung von Iskander-Raketen in der russischen Exklave Kaliningrad (an der Grenze zu Polen) verzichtete. Damit hatte der Kreml für den Fall gedroht, dass Anlagen des BMD-Systems in Polen und Tschechien aufgestellt würden.

Neben der Modifizierung der Raketenabwehrpläne bemühen sich die USA auch, durch eine verstärkte Einbindung Russlands in das geplante Abwehrsystem die bilateralen Spannungen zu reduzieren. Die genaue Ausgestaltung der Kooperation stand auf Initiative der USA und des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen für den NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 auf dem Plan, zu dem auch der russische Präsident Medwedew eingeladen war. Eine Raketenabwehr von Vancouver bis Wladiwostok könnte die Bedenken Russlands ausräumen, so Rasmussen. Dass eine Zusammenarbeit zwischen den amerikanischen und russischen Raketenabwehrsystemen nicht zuletzt aufgrund des mangelnden Vertrauens und divergierender Bedrohungsanalysen lediglich in einem eingeschränkten Umfang realistisch erscheint, steht dabei außer Frage: Durch die Versuche, Russland in die amerikanischen Abwehrpläne einzubeziehen, soll eher die Kritik des Kremls am Abwehrsystem wie auch die russische Blockade weiterer Abrüstungsschritte verhindert werden. In diesem Zusammenhang erhoffen sich einige NATO-Staaten zudem eine Wiederbelebung der Beschlüsse des INF-Vertrags (Vertrag zur Vernichtung der nuklearen Mittelstreckensysteme zwischen den USA und der Sowjetunion aus dem Jahr 1987), aus dem Russland im 2007 aus Protest gegen das in Mitteleuropa geplante BMD-System austrat.

"NATOisierung" des US-Raketenabwehrschirms

Eine der politischen Grundsatzentscheidungen, durch die sich die Obama-Administration von der Vorgängerregierung unterscheiden möchte, ist die verstärkte Orientierung an multilateralen Entscheidungen. Die Abkehr vom Unilateralismus der Bush-Administration und die Verbesserung des amerikanischen Ansehens in der Welt standen weit oben auf der Liste des US-Präsidenten Obama. Auch wenn dabei de facto die auf Gefolgschaft und nicht einem Mitentscheidungsrecht basierende Form des Multilateralismus praktiziert wird, beherrscht Barack Obama die multilaterale Rhetorik meisterhaft. Die modifizierten Raketenabwehrpläne sind ein Beispiel dafür: Sie werden nicht mehr als nationales Abwehrsystem der USA, sondern vielmehr als ein Projekt des NATO-Bündnisses vorgestellt, in das mehrere Mitgliedstaaten involviert sind. Wie der Direktor der Missile Defense Agency Patrick O'Reilly ankündigte, sollten die Abwehranlagen in sechs oder sieben europäischen Staaten aufgestellt werden. Neben Polen und Tschechien sind laut Ankündigungen des Pentagons Bulgarien beziehungsweise die Türkei als weitere Standorte für eine Radaranlage vorgesehen. Weitere Anlagen sollen in Rumänien und möglicherweise Spanien installiert werden.

Bereits während der Verhandlungen Washingtons mit Prag und Warschau haben einige NATO-Mitgliedstaaten keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den US-Abwehrplänen skeptisch gegenüberstehen. Zwar haben die Allianzmitglieder in einer gemeinsamen Abschlusserklärung auf dem NATO-Gipfeltreffen in Bukarest im April 2009 den US-Raketenabwehrschild als Beitrag zur Verteidigung der Bündnisstaaten vor Langstreckenraketen gewürdigt. Darin haben sie gleichzeitig auch ihren Willen bekundet, das amerikanische Projekt eng mit dem geplanten NATO-Abwehrsystem zu verzahnen, damit alle Bündnismitglieder gleichermaßen durch das Abwehrschild geschützt würden.

Doch gab es auch kritische Stimmen: Der italienische Außenminister Franco Frattini appellierte, auf den Bau des Abwehrschildes in Polen und Tschechien zu verzichten, weil den europäischen Staaten sonst ein neuer Kalter Krieg drohe. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kritisierte, dass das US-Raketenabwehrprojekt nicht der Sicherheit Europas nutze, sondern die Sicherheitslage eher verkompliziere. Im Kern ging es den Kritikern um die Gefahr, Europa durch das BMD-System in unterschiedliche sicherheitspolitische Sphären zu spalten und Zonen unterschiedlicher Bedrohung zu schaffen. Davor warnte auch der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier während der Bundestagssitzung am 21. März 2007: "Eine Spaltung Europas und der NATO und ein Russland, das in alte Reflexe zurückfällt, wären aus meiner Sicht ein sehr hoher Preis."

Die unter Obama modifizierten Pläne stoßen auf eine weitergehende Akzeptanz der zuvor skeptischen NATO-Mitglieder. Trotz der Tatsache, dass Washington die Installierung der Abwehranlagen weiterhin durch bilaterale Verträge regelt, scheint das vermeintlich multilaterale Vorgehen der USA, die Skeptiker überzeugt zu haben. So erhoffte sich Frank-Walter Steinmeier eine breite Diskussion über die US-Abwehrpläne mit allen Allianzpartnern. Es sei "ein Signal an alle Partner, dass die amerikanische Regierung solche gemeinsamen Lösungen anstrebt". Auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel war die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten ein "hoffnungsvolles Signal zu mehr internationaler Gemeinsamkeit". Die Einbindung der NATO-Partner in die amerikanischen Abwehrpläne entspreche laut NATO-Generalsekretär Rasmussen dem Solidaritätsprinzip der NATO und dem Prinzip der unteilbaren Sicherheit Europas. So habe die Modifizierung der US-Pläne unter anderem dazu beigetragen, einer Spaltung und Lagerbildung innerhalb des NATO-Bündnisses vorzubeugen.

Mitteleuropäische Sicherheitsbedenken

Das Raketenabwehrabkommen und die damit verbundene Präsenz des US-Militärs auf ihren Territorien wurden in Polen und Tschechien vor allem als eine "Garantie" vor einer Vereinnahmung durch Russland gesehen. Das worst-case-Szenario dieser mitteleuropäischen Staaten ging davon aus, dass bei einer ausbleibenden Kooperation der Europäer beim Raketenabwehrsystem das US-Interesse an einer verstärkten sicherheitspolitischen Kooperation mit Europa abnehmen würde. Gerade mit Blick auf die innerhalb der NATO geführten Diskussionen um eine neue Strategie der Allianz und die Rolle eines gemeinsamen Abwehrschirms hätte dies nicht nur den Zusammenhalt und die gegenseitige Loyalität, sondern auch das Selbstverständnis der Atlantischen Allianz beschädigt.

Warschau und Prag rechneten damit, dass in diesem Falle die US-Regierung die geplante Raketenabwehrbasis auf ihrem eigenen Territorium aufgestellt (was technisch möglich, aber mit höheren Kosten verbunden ist) und zu diesem Zweck weitere US-Soldaten aus Europa abgezogen hätte. Der europäische Kontinent mit seinen begrenzten militärischen Kapazitäten hätte damit den amerikanischen Sicherheitsschirm verloren mit der Konsequenz, dass Russland das Bedrohungsempfinden der postkommunistischen Staaten, aber auch Schwedens, Norwegens und Finnlands verstärkt hätte.

Tatsächlich drohte Russland während des Verhandlungsprozesses bis zum Jahr 2008 mehrfach mit "Gegenreaktionen". Vor allem Polen wurde zum Adressaten dieser Drohungen: Bereits im Herbst 2006 meinte der russische Generalstabschef Juri Balujewski: "Geht hin und baut den Schild. In den schwärzesten Träumen prophezeie ich keinen Nuklearkonflikt, doch überlegt euch, was euch dann auf eure Köpfe fällt." Kurz vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 drohte der russische Präsident Putin schließlich mit Vergeltungsmaßnahmen, sollten die USA an dem Bau der BMD-Stationen in Europa festhalten, sowie mit der Neuausrichtung russischer Raketen auf Ziele in Europa, gemeint war vor allem Polen. Vor diesem Hintergrund war die Empörung in Polen und Tschechien nachvollziehbar, als am 17. September 2009 einige Medien unpräzise von der Aufgabe des Abwehrsystems statt ihrer Modifikation berichteten. So meinte etwa der frühere tschechische Premierminister Mirek Topolanek, dass Obamas Entscheidung auf eine weitgehende Unbekümmertheit der USA bezüglich der Sicherheit Mitteleuropas hindeute. Der ehemalige Präsident Polens Lech Walesa sprach von der Notwendigkeit Polens, seine Interessen und den Blick auf Amerika zu revidieren.

Zum Frust bei allen Beteiligten trug die besondere Rolle der Medien bei, die augenscheinlich eher Effekthascherei betrieben statt eine neutrale Berichterstattung der Regierungspolitiken, als sie anstelle der neutralen Aussagen der Regierungspolitiker primär über die Empörung und Enttäuschung berichteten. Es wurde der Eindruck erweckt, als fühlten sich die Mitteleuropäer in erster Linie enttäuscht, verraten oder gar an Russland verkauft. Insgesamt verbreitete sich die Meinung, dass die Tschechen und Polen bei den Änderungen in den Abwehrplänen von Washington völlig übergangen worden seien, dass die verträglichen Verpflichtungen von 2008 nicht eingehalten wurden und dass als Grund dafür in erster Linie die Annäherungsversuche Washingtons an Moskau zu sehen seien.

Zur Atmosphäre des "verratenen Mitteleuropas" trug ferner die in den Medien mehrfach zitierte Kritik der US-Republikaner an der Entscheidung Barack Obamas bei. Ihren Bewertungen zufolge sei die Aufgabe des Raketenabwahrsystems "a policy of appeasement that lets down allies and will embolden Russia". Einen ähnlichen Unterton hatte der im Juli 2009 in der Warschauer "Gazeta Wyborcza" veröffentlichte offene Brief von mitteleuropäischen Spitzenpolitikern und Intellektuellen an den amerikanischen Präsidenten. Darin wurde die US-Administration unter anderem vor der "revisionistischen Macht" Russland gewarnt, das seine Ziele aus dem 19. Jahrhundert mit Methoden des 21. Jahrhunderts verfolge. Das in Mitteleuropa geplante Raketenabwehrsystem wurde zum Maßstab für die Glaubwürdigkeit Amerikas stilisiert. Zum Klima des "verratenen Mitteleuropas" trug nicht zuletzt das Datum bei, an dem Präsident Obama seine Entscheidung verkündete, die Pläne zum Raketenabwehrsystem zu modifizieren: der 17. September, der Jahrestag des Überfalls der Sowjetunion auf Ostpolen.

Der Ablauf dieser Ereignisse hat das innerhalb der polnischen und tschechischen Gesellschaften herrschende Misstrauen gegenüber der Administration Obamas erhöht. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Umfrage zeigt am Beispiel Polen, wie drastisch die Unterstützung Mitteleuropas für eine Führungsrolle der USA in der internationalen Politik nachgelassen hat. Während 2002 noch 64 Prozent der polnischen Befragten eine amerikanische Vorherrschaft als wünschenswert empfanden, so waren es im Jahr 2008 nur noch 35 Prozent. 40 Prozent der Befragten fanden eine amerikanische Führungsrolle als nicht wünschenswert (sechs Jahre zuvor teilten diese Meinung nur 22 Prozent).

Abgesehen von der in den mitteleuropäischen Gesellschaften herrschenden Stimmung und dem Stil der Inkenntnissetzung sollte die Veränderung des Abwehrprojektes, das sich nun auf die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen aus dem Iran konzentrieren soll, nicht als "Verrat" der USA an den mitteleuropäischen Staaten betrachtet werden. Aufgrund der geplanten Installierung der Abwehrinfrastruktur in mehreren europäischen Staaten werden Tschechien und Polen zwar keine exklusive Rolle innerhalb des Systems spielen. Doch ihr eigentliches Ziel, eine US-Militäranlage auf eigenem Territorium zu haben, wird nach dem gegenwärtigen Stand der amerikanischen Planungen weiterhin realisiert.

So verhandelt Prag mit Washington über die Aufstellung eines Frühwarnsystems, welches im Falle der Zustimmung des tschechischen Parlaments bereits 2011 oder 2012 installiert werden soll. Auf polnischem Boden soll hingegen zwischen 2015 und 2018 eine landgestützte Version des AEGIS-Systems mit mobilen Abfangraketen mittlerer Reichweite stationiert werden. Bereits im Juli 2010 haben die USA und Polen ein Zusatzprotokoll unterzeichnet, wodurch das Raketenabwehrabkommen von 2008 an die veränderten Abwehrpläne angepasst wurde. Dem polnischen Außenminister Radek Sikorski zufolge beschreibt das Zusatzprotokoll eine neue Konfiguration des Abwehrsystems, die "uns besser gefällt als die ursprüngliche Version". Auch haben die USA im Mai 2010 ihre Verpflichtung erfüllt, eine Patriot-Batterie und 120 US-Soldaten in Polen zu stationieren. Verglichen mit den Plänen der Bush-Administration bringen die veränderten US-Abwehrpläne somit weder Polen noch Tschechien sicherheitspolitische Nachteile. Ob Präsident Obama die kritische Stimmung in den mitteleuropäischen Gesellschaften dennoch zum Positiven wenden kann, wird daher in erster Linie von seiner Rhetorik abhängen, welche die "emotionalen Bedürfnisse" der Mitteleuropäer stärker berücksichtigen müsste. Dies scheint auch in Washington inzwischen erkannt worden zu sein: Bereits im Oktober 2009 unterstrich der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden in Warschau, dass Polen einer der engsten Verbündeten der USA sei: "Polen ist in unseren Herzen."

Diplomatischer Erfolg

Von einem "Kniefall" Obamas vor dem Kreml oder einem "Verrat" Washingtons an Mitteleuropa zu sprechen, wäre eine Fehlinterpretation der amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik. Zu berücksichtigen sind demnach folgende Faktoren: Präsident Obama hat nicht auf ein Raketenabwehrschild verzichtet, sondern die Raketenabwehrpläne der Bush-Administration modifiziert, um das System umfassender, billiger, schneller, flexibler und effizienter zu machen. Darüber hinaus sind sowohl Polen als auch Tschechien als potenzielle Standorte für die neue Abwehrinfrastruktur vorgesehen. Statt in der Modifikation der Pläne primär eine Annäherung Washingtons an Moskau auf Kosten der mittel- und osteuropäischen Staaten zu sehen, können die veränderten US-Abwehrpläne ebenso als ein diplomatischer Erfolg der Obama-Administration betrachtet werden. Nicht nur die Kritik der russischen Regierung wurde aufgegriffen und abgemildert, sondern auch eine breite Zustimmung der Allianzpartner für den Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Europa gesichert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bulletin of the Atomic Scientists vom 14.9.2009.

  2. Vgl. Gazeta Wyborcza vom 18.9.2009.

  3. Neue Zürcher Zeitung vom 18.9.2009.

  4. Vgl. New York Times vom 16.9.2009.

  5. Vgl. Gazeta Wyborcza vom 18.9.2009.

  6. Vgl. New York Times vom 2.3.2009.

  7. Vgl. die Rede des US-Präsidenten Obama am 17.9.2009, online: www.whitehouse.gov/the_press_office/
    Remarks-by-the-President-on-Strengthening-Missile-Defense-in-
    Europe/(25.10.2010).

  8. Vgl. New York Times vom 18.9.2009; Washington Post vom 18.9.2009.

  9. Der Spiegel vom 17.9.2009.

  10. Vgl. Lucian Kim, U.S.-Russia Accord on Missile Defense Almost Ready, Lavrov Says, in: Bloomberg Businessweek vom 7.10.2010.

  11. Vgl. Guardian vom 8.7.2010.

  12. Vgl. Dziennik vom 26.5.2010.

  13. Vgl. New York Times vom 29.8.2010.

  14. Vgl. Michael Paul/Oliver Thränert, Abrüstung, Abschreckung, Abwehr, SWP-Aktuell, März 2010.

  15. Vgl. Rzeczpospolita vom 8.10.2009.

  16. Vgl. Washington Post vom 1.8.2010.

  17. Vgl. Gazeta Wyborcza vom 13.11.2008.

  18. Vgl. dies. vom 14.11.2008.

  19. Rede online: www.bundesregierung.de/
    nn_1514/Content/DE/Bulletin/2007/
    03/34-1-bmaa-bt.html (25.10.2010).

  20. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.9.2009.

  21. Handelsblatt vom 19.9.2009.

  22. Gazeta Wyborcza vom 14.9.2006.

  23. Vgl. Polnische Presseagentur (PAP) vom 5.6.2007.

  24. Vgl. Daria Dylla, The Polish Missile Defence Decision - A Review in Light of the 'Scrapping' of the Bush-era Missile Defence Plans, in: Central European Journal of International & Security Studies, 4 (2010) 2.

  25. Vgl. Mixed Reactions in Europe to the U.S. Missile Defence U-Turn, in: Time vom 17.9.2009, online: www.time.com/time/
    world/article/0,8599,1924530,00.html (2.11.2010).

  26. Vgl. Amerykanie dbaja tylko o wlasny interes, in: TVN24 vom 17.9.2009, online: www.tvn24.pl/0,1619802,0,1,walesa-amerykanie-dbaja-tylko-o-wlasny-interes,wiadomosc.html (2.11.2010).

  27. Vgl. New York Times vom 16.9.2009.

  28. Guardian vom 18.9.2009

  29. Vgl. Transatlantic Trends, Key Findings, 2010, online: www.gmfus.org/
    trends/2010/keyfindings.html (2.11.2010).

  30. Rzeczpospolita vom 29.6.2010.

  31. Vgl. ebd. vom 22.10.2009.

Dr. phil., geb. 1960; Professor am Lehrstuhl für internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, Gottfried-Keller-Straße 6, 50931 Köln. E-Mail Link: thomas.jaeger@uni-koeln.de

Dr. phil., geb. 1976; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln (s.o.). E-Mail Link: daria.dylla@uni-koeln.de