Hartz IV im sechsten Jahr
Wirkungen von Hartz IV - empirische Befunde
Nach der Systemumstellung am 1. Januar 2005 war für viele Beobachter zunächst überraschend, wie hoch in den ersten drei Monaten der Zuwachs an Hilfebeziehern ausfiel. Selbst nach der Saldierung der Übergänge aus den alten Systemen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und den erwarteten saisonalen Zugängen mit den Abgängen aus dem Hilfebezug durch Fluktuation, durch die Haushaltsveranlagung und die geänderten Freibetragsregelungen blieb ein Zuwachs von rund einer Million neuen Hilfebedürftigen. Die einzige plausible Erklärung hierfür ist eine verstärkte Mobilisierung von Bedürftigen, die bislang ihnen zustehende Sozialleistungen nicht genutzt hatten,[2] was, bei Lichte besehen, einen armutspolitischen Erfolg darstellt. Wer jedoch von der Grundsicherungsreform eine finanzielle Entlastung des Sozialstaats erwartet hatte, musste angesichts dieser Tatsachen enttäuscht sein.Empirische Analysen belegen empfundene Teilhabedefizite[3] ebenso wie klare Unterversorgungslagen vor allem im Bereich neuer und besserer Kleidung, Möblierung und Ressourcen für kulturelle und soziale Teilhabe.[4] Qualitative Befunde des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigen ebenfalls, dass in betroffenen Familien bei längerdauernder Hilfebedürftigkeit ein schleichender Einschränkungsprozess des materiellen Lebensniveaus wie auch der realisierten sozialen Teilhabe stattfindet.[5]
Die working poor, also Menschen, die zusätzlich zu Arbeitseinkommen noch ergänzende Sozialleistungen beziehen, sind durch die Reform verstärkt ins Blickfeld geraten, das gleiche gilt für diejenigen, die zum Arbeitslosengeld I noch Grundsicherungsleistungen beziehen ("Aufstocker").[6] Dahinter ausschließlich eine Wirkung des neuen Systems zu vermuten, wäre falsch, denn ergänzenden Sozialhilfebezug gab es schon vorher. Eine Zunahme ist wegen der lückenhaften Datenlage vor 2005 schwer zu belegen, jedoch wegen der Veränderungen im Tarif- und Lohngefüge sowie aufgrund des Wachstums prekärer Beschäftigung[7] zu vermuten. Die Tatsache, dass rund eine Million Menschen in Deutschland Erwerbsarbeit und Leistungsbezug kombinieren müssen, spricht jedenfalls eindrucksvoll gegen das sogenannte Lohnabstandsgebot, das einen zwingenden Mindestabstand zwischen Grundsicherung und Löhnen fordert, weil ansonsten der Arbeitsanreiz für die Betroffenen zu gering sei. So verweisen etliche Befunde darauf, dass Arbeit für die Betroffenen mehr als nur einen Einkommenserwerb darstellt.[8] Auch zeigen sich die meisten Hilfebezieher keineswegs passiv, sondern streben - mit welchen reellen Chancen auch immer - eine Arbeitsaufnahme an, für die sie zu vielen Zugeständnissen bereit sind.[9]
Für viele Beobachter ebenfalls überraschend, aus Sicht der Armutsforschung hingegen altbekannt ist die Heterogenität der Hilfebezieher - der "erwerbsfähigen Hilfebedürftigen". Sie bilden keinesfalls eine homogene Gruppe von Exkludierten und Außenseitern, Arbeitsmarktfernen und Langzeitarbeitslosen. Bildungsarme und Migranten sind unter den Hilfeempfängern überrepräsentiert; bei letzteren kombinieren sich mitunter Bildungs- und Qualifikationsnachteile mit mangelnden Sprachkenntnissen. Etliche Leistungsbezieher - vor allem die jüngsten - sind nicht arbeitslos, sondern befinden sich in schulischen und beruflichen Bildungsprozessen und sind wegen der Arbeitslosigkeit eines Familienmitglieds hilfebedürftig geworden. Jugendliche verfügen zwar oft über mehr Unterstützung aus der Familie, aber ihre Anerkennung unter Gleichaltrigen leidet darunter, dass sie nicht ausreichend an den für die Altersgruppe als normal erachteten Konsummustern teilnehmen können.[10] Manche Hilfebedürftige betreuen kleine Kinder, teils ohne Partner, wiederum andere sind krank oder behindert. Einige von ihnen sind zwar nominell drei Stunden pro Tag erwerbsfähig, finden aber bei ihrer stark eingeschränkten Kondition keinen Arbeitsplatz. Wiederum andere sind keineswegs arbeitsmarktfern, sehnen sich nach Arbeit, haben Minijobs und organisieren ihren Alltag vernünftig.
Altbekannte Befunde aus der Armutsforschung begegnen uns ohnehin auch bei der Analyse des neuen Systems - etwa der Zusammenhang von (persönlicher oder familialer) Arbeitslosigkeit und Armut, das Risiko der Altersarmut nach längerer Arbeitslosigkeit, die schwierigen Einstiege Jugendlicher und junger Erwachsener aus Leistungsbezieherhaushalten in Berufsausbildung und Erwerbsleben.[11] Auch die erhöhten Arbeitsmarktrisiken von Menschen mit schlechter schulischer Ausbildung und fehlendem Berufsabschluss, die sich teilweise von Eltern auf Kinder "vererben", sind bekannt. Die Forschung zu Hartz IV wird angesichts des überproportionalen Anteils von "Bildungsverlierern" unter den Grundsicherungsempfängern von Neuem darauf aufmerksam. Gleiches gilt für Konsumeinschränkungen und das Leiden vor allem von jungen Erwachsenen und Familien mit Kindern darunter, dass man an den üblichen und sozial erwarteten Aktivitäten um Schule und Freizeit nicht mithalten kann.[12]
Weitgehend neu ist das mit der Hartz-IV-Reform und ihren Vorläufern (z.B. "Arbeitsamt 2000") verbundene Interesse an Betreuung und Aktivierung. Untersuchungen zum Vermittlerhandeln fördern - neben den Einführungs- und Umstellungsschwierigkeiten des neuen Systems[13] - regelmäßig erhöhten, auch von den Vermittlern selbst konstatierten Bedarf an professioneller Diagnose- und Betreuungskompetenz jenseits starrer Vorschriften und "naturwüchsiger Pädagogiken" zutage.[14] Professionalisierung scheint das Gebot der Stunde zu sein.[15] Arbeitsgelegenheiten, die öffentlich viel geschmähten "Ein-Euro-Jobs", sind bei den Teilnehmern durchaus beliebt. Auch wenn es, anders als geplant, zu keiner stärkeren Bevorzugung von Problemgruppen kommt, zeigen sich doch für manche Betroffenen langfristig positive Effekte auf die Arbeitsaufnahme[16] sowie auf soziale Stabilisierung und Teilhabe.[17] Trainingsmaßnahmen, das zweithäufigste Aktivierungsinstrument des Sozialgesetzbuches II (SGB II), zeigen im Schnitt keine deutlichen Arbeitsmarkteffekte,[18] auch wenn für einige spezifische Trainings die Arbeitsmarkteffekte größer sind.
Die Betreuten selbst reagieren auf die Aktivitäten ihrer Vermittler höchst unterschiedlich, keineswegs werden alle Maßnahmeangebote als echte Chance zur Reintegration in den Arbeitsmarkt wahrgenommen. Das Spektrum reicht von der empfundenen Zumutung über die Wahrnehmung, dass man angesichts der Grundsicherungsleistung zu einer Gegenleistung verpflichtet sei, bis zur Betrachtung der Betreuungsbeziehung als Quasi-Arbeitsverhältnis. Nur ein kleinerer Teil der Betroffenen reagiert so, wie es die Mitwirkung an der Aktivierungsidee erfordern würde.[19] Doch die Mehrheit zeigt sich zufrieden mit der Betreuung durch die Grundsicherungsträger, auch wenn deren Bemühungen nicht immer große Erfolgschancen zugemessen werden.[20]
Dass es angesichts der tiefgreifenden Systemumstellungen 2005 nicht zu größeren Friktionen in der Grundversorgung von mehreren Millionen Menschen kam, darf bereits als Erfolg per se gelten. Doch der Erfolg der Aktivierungspolitiken ist nicht eindeutig belegt. Es scheint, als ob beispielsweise Maßnahmen mit Arbeitscharakter positive Wirkungen eher im Hinblick auf soziale Stabilisierung und soziale Teilhabe zeigen als auf die unmittelbare Arbeitsmarktintegration.[21] Und punktuelle Unterversorungslagen, insbesondere bei Familien mit Kindern, sind nicht wegzudiskutieren. Aber dies alles erklärt nicht die Heftigkeit, mit der nunmehr seit mehr als fünf Jahren um die Grundsicherung gestritten wird. Der nachfolgende Überblick über die Entwicklung der Armuts- und Sozialpolitik soll zum besseren Verständnis beitragen.