Hartz IV im sechsten Jahr
Kontinuitäten ...
In der Geschichte der Sozialpolitik stoßen wir bei allen Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf erstaunliche strukturelle Kontinuitäten. Diese bestehen aus grundlegenden Widersprüchen und Ambivalenzen - ganz im Sinne eines konflikttheoretischen Gesellschaftsverständnisses.[25] Ob das Neben- und Miteinander von Versorgung und Kontrolle, die Differenzierung der Armen zwischen deserving und undeserving poor oder die Frage, ob die Armen zur Gesellschaft gehören oder nicht: Diese Phänomene kennzeichnen die fortbestehende Janusköpfigkeit der Armutspolitik mit Ausgrenzung und Einschließung, Versorgung und Kontrolle, Unterstützung und Gegenleistungserwartung noch immer, auch wenn die Armutspolitik sich mittlerweile einigermaßen konsistent an den staatsbürgerlichen Grundrechten orientiert.Ein Dauerthema ist auch die Angemessenheit der Grundsicherung. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik ist das Niveau materieller Unterstützungsleistungen umstritten. Dieser Streit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen "objektiven" Grundbedürfnissen (Standardwarenkorb oder soziokulturelles Existenzminimum), dem Lohnabstandsgebot und dem regionalen und lebenslagenabhängigen Differenzierungsbedarf. Entsprechend wechseln sich Forderungen nach einer Anhebung oder Absenkung der materiellen Unterstützungsleistungen ab. Das wissenschaftliche, juristische und politische Pro und Contra[26] umfasst beispielsweise die Berechnung des Regelsatzes, die mit dem SGB II eingeführte Pauschalierung der vorherigen einmaligen Leistungen (§21 BSHG) und den verringerten Regelsatz für Jugendliche im Haushalt der Eltern. Den Schwerpunkt der jüngeren Debatte bildet die Angemessenheit der Regelleistung insbesondere für Familien; eine Frucht dieser Diskussion ist die Anhebung des Sozialgeldes für Kinder im Schulalter seit Juli 2009 sowie die geplante Einführung einer "Bildungskarte", die Kindern aus Armutshaushalten zusätzliche Bildungsleistungen in bescheidenem Umfang zugänglich machen soll.
Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, das den Berechnungsmodus des Regelsatzes wegen seiner Intransparenz kritisiert. Es sieht jedoch so aus, als ob sich nichts grundsätzlich ändert: Das Statistikmodell bleibt in Kraft, nach dem sich die Grundsicherung an den Lebensverhältnissen desjenigen Fünftels der deutschen Haushalte orientiert, die das geringste Einkommen haben. Die Verfassungsrichter haben die Angemessenheit der Zusammensetzung dieses "untersten Quintils" in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes bestätigt, den Gesetzgeber jedoch ermahnt, weiterhin Grundsicherungsbezieher und Haushalte unter der Sozialhilfegrenze statistisch aus dieser Referenzgruppe auszuschließen. Ob dies in der Vergangenheit immer konsistent passiert ist, ist umstritten.[27] Grundsätzlich findet - wie auch das Bundesverfassungsgericht anerkennt - die endgültige Festlegung des Regelsatzes immer noch in den Sphären politischer Aushandlung und moralischer Urteile statt, wie die umstrittene Subtraktion der Ausgaben für Alkohol und Zigaretten aus der Grundsicherung und die Zweckbindung der zusätzlichen Bildungsmittel zeigen.
Ebensowenig ändert sich an der ungelösten politischen Spannung zwischen der Deckung des Existenzminimums und der Aufrechterhaltung eines Anreizes zur Arbeitsaufnahme durch das Lohnabstandsgebot, auch wenn dessen Wirkung mittlerweile auch in den Wirtschaftswissenschaften umstritten ist[28] Überdies dominiert in der deutschen Diskussion der Ansatz, diesen Lohnabstand durch das Anpassen des Regelbetrags der Grundsicherung aufrechtzuerhalten, obwohl auch eine gesetzliche Lohnuntergrenze wie in anderen europäischen Ländern ähnlich wirken würde.[29]