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Kulturelle Homogenität und aggressive Intoleranz. Eine Kritik der Neuen Rechten | Extremismus | bpb.de

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Kulturelle Homogenität und aggressive Intoleranz. Eine Kritik der Neuen Rechten

Roland Eckert

/ 18 Minuten zu lesen

Im Zentrum der Gedankenwelt der Neuen Rechten steht das "Recht auf kulturelle Differenz". Ihre Forderung nach völkischer Homogenität und die Rehabilitation der Intoleranz ignorieren das wichtigste Vermächtnis des 20. Jahrhunderts.

Einleitung

Als Antithese zur Neuen Linken wurde ab 1969 die Neue Rechte von dem französischen "Rechtsintellektuellen" Alain de Benoist begründet. Seine zahlreichen Schriften sind auch in Deutschland aufgegriffen worden. Die Idee einer Neuen Rechten findet heute vor allem im Umkreis der Wochenzeitung "Junge Freiheit", der Monatsschrift "Sezession", der Schriftenreihe "Antaios", des "Instituts für Staatspolitik" und des Onlinemagazins "Blaue Narzisse" Niederschlag, wobei der Begriff "Neue Rechte" selbst kontrovers ist. Die Begriffspolitik läuft darauf hinaus, sowohl den Begriff "konservativ" als auch den Begriff "rechts" zu besetzen und sich "vor jeder Ablenkung ins 'Liberalkonservative', 'Freiheitlich-Konservative', 'Kulturkonservative', 'Wertkonservative'" zu bewahren. "Was spricht eigentlich dagegen, sich 'rechts' zu nennen, da wo das Rechte, das Richtige gedacht, gewollt, getan wird?" 1994 verließen nach einem Streit über den "Leuchterreport" Armin Mohler, Andreas Molau und Götz Meidinger die "Junge Freiheit". Seither grenzen diese und das Institut für Staatspolitik sich gegen den Nationalsozialismus und seine Traditionswahrer, gegen Antisemiten und Geschichtsrevisionisten ab und orientieren sich am konservativen Widerstand gegen Hitler, wie er für sie durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg repräsentiert wird.

Vertreter der Neuen Rechten sind rechtsradikal, weil die universelle Geltung der Menschenrechte infrage gestellt wird, sie sind aber nicht notwendig rechtsextrem im Sinne eines Angriffs auf die Verfassungsordnung, wenn man das Verfassungsgerichtsurteil vom 25. Mai 2005, das der ehemalige Bundesanwalt Alexander von Stahl zugunsten der "Jungen Freiheit" erkämpft hat, zu Grunde legt. Die Übernahme der politischen Philosophie Carl Schmitts begründet aber Zweifel daran, ob die Menschenwürde jenseits ethnischer Grenzen von ihnen so gewahrt wird, wie es dem Grundgesetz entspräche. Indem sie die "positiven" Seiten der deutschen Geschichte wie des Preußentums betonen und die Verbrechen anderer Völker thematisieren, wollen sie Deutschland von der "Vergangenheitsbewältigung" befreien und zu einer "selbstbewussten Nation" machen.

Ethnopluralismus - was ist das?

Im Zentrum der Gedankenwelt der Neuen Rechten steht das "Recht auf kulturelle Differenz" von unterschiedlichen Ethnien und Nationen auf möglichst getrennten Territorien. Das demokratische Subjekt werde nicht von Individuen, sondern vom "Volk" beziehungsweise von ethnischen und religiösen Gemeinschaften konstituiert. Weil die Ideen von Alain de Benoist nicht unmittelbar durch nationalsozialistische Verbrechen diskreditiert sind, eignen sie sich eher zur Legitimation einer Politik der kulturellen Homogenität, die gegen Einwanderung, "Vermassung", "Amerikanisierung" und insbesondere gegen den Liberalismus und "Individualismus" in der Menschenrechtstradition gerichtet ist. Diese ethnopluralistische Kulturtheorie wird durch das Freund-Feind-Theorem von Carl Schmitt und die Annahme eines "Aggressionstriebes" nach Konrad Lorenz überlagert, der, so Lorenz, in der Gegenwart durch ein "Erlahmen der Abwehrbereitschaft" geschwächt sei. Götz Kubitschek vermutet in dieser Tradition, dass die heutige "weiche, pathologische Form der Toleranz tatsächlich ein wichtiger Indikator für einen an das Ende seiner Kraft gelangten Lebensentwurf, hier also: den europäischen" sei. Weil Völker "Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit" seien, "die sich im Lauf der Geschichte geprägt" haben und zum Träger des "Politischen", also des Staates bestimmt seien, müssten diese sich vor Überfremdung schützen.

Gibt es eine "völkische" Kultur?

Historisch gesehen kommen - so ist hier einzuwenden - Vorstellungen getrennter Kulturen schon immer zu spät. Nicht nur die "Stämme", aus denen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gebildet wurde, sondern auch die "Kultur" in Deutschland stand von Anfang an in engem Austausch mit den Traditionen anderer Länder. Die Mythisierung eines "deutschen Wesens" ist nicht Ergebnis einer 2000-jährigen Geschichte von Arminius bis Bismarck, sondern Teil einer Grenzziehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, entstanden in dem doppelten Kampf der Nationalbewegung gegen die französische Fremdherrschaft einerseits und die unzähligen Fürstentümer andererseits, die nach dem Sieg über Napoleon die Souveränität wieder für sich beanspruchten. Sie war also Ausdruck spezifischer Konfliktlagen. Kultur aber hat sich auch damals kaum an tatsächlichen oder ersehnten Staatsgrenzen aufhalten lassen. Aktualisiert wird der völkische Kulturbegriff heute als Reaktion auf die Wanderung der Arbeitssuchenden und das exponentielle Anwachsen der Verfügbarkeit von Informationen rund um den Globus.

Recht auf Differenz

In dieser Situation verkündet die Neue Rechte, Kosmos, Natur und Mensch seien auf "Verschiedenheit" ausgerichtet. Darum sollten sich auch Völker und Kulturgemeinschaften voneinander unterscheiden. Verschieden zu sein, sei ein Schutzrecht für traditionelle Gesellschaften und ein Abwehrrecht für Völker, die von Migration betroffen sind. Menschenrechte dagegen werden (in der Tradition Carl Schmitts) vor allem als "Neutralisierung des Politischen durch die Moral", als "ideologische Verkleidung der Globalisierung" und "Fortsetzung des kolonialen Syndroms" gewertet.

Wenig kontrovers ist dabei das Recht, "verschieden" zu sein, das jedem Menschen, jeder Gemeinschaft, jeder Kultur zuzugestehen ist. Wir alle leben in Familien, haben eine Heimat, eine Sprache und sind durch sie mit einer größeren Gemeinschaft und deren Geschichte unlöslich verknüpft. Die konkrete, persönliche und verwandtschaftliche Loyalität, die daraus erwächst, steht aber keineswegs im Gegensatz zu den Menschenrechten. Denn diese schließen durchaus das Recht ein, von anderen verschieden zu sein. Sie werden daher auch von Minoritäten in Anspruch genommen, in denen der Individualismus kaum eine Rolle spielt. Die Anerkennung möglicher Differenz ist ein Element von Rechtsstaat und Demokratie und hat auch eine herausragende Bedeutung für die Formen, in denen Konflikte ausgetragen werden. Versuche, ethnische, kulturelle oder religiöse Homogenität durch die Unterdrückung von Religion, durch Sprachverbote und bürokratische Schikanen zu erzwingen, führen langfristig in Bürgerkrieg oder Terrorismus, wie sich in Spanien, der Türkei, in Sri Lanka und anderen Staaten gezeigt hat.

Pflicht zur Differenz?

Problematisch wird dieses "Recht auf Ungleichheit" erst dadurch, dass es dem Prinzip nach nicht für Individuen, sondern für "Gemeinschaften" gelten soll. Das Recht auf kulturelle Differenz ist nämlich nicht mehr gewährleistet, wenn aus ihm eine "Pflicht" zur Differenz abgeleitet wird und Menschen dadurch zur Assimilation an eine Gemeinschaft gezwungen werden. Diese Konsequenz des Ethnopluralismus ist kein Gedankenspiel. Auch heute noch verbietet eine amerikanische Sekte ihren jungen Leuten, zur höheren Schule zu gehen und begründet diesen Verstoß gegen die Schulpflicht mit dem (im Sinne der amerikanischen Verfassung) "höherwertigen" Gut der Religionsfreiheit, das sie für sich in Anspruch nimmt. Ein Drittel der Jugendlichen verlassen später das Reservat und sind in den großen Städten ohne Berufschancen - Opfer ihrer Gemeinschaft. Auch "Ehrenmorde" sind Ausdruck eines verwandtschaftlich beanspruchten Eigenrechts, demgegenüber das geltende Recht die individuellen Selbstbestimmungsinteressen der jungen Frauen zu verteidigen hat. Ein familiäres Sonder- oder gar Standrecht kann nicht durch die Achtung kultureller Differenz gedeckt sein.

Es ist daher nicht das Recht auf Differenz an sich, das im Widerspruch zu den Menschenrechten steht. Wir können unter dem Dach des Grundgesetzes durchaus Gemeinschaften gründen, die sich in ihrer Lebensform, ihrer religiösen Orientierung, ihrer inneren Ordnung voneinander unterscheiden und interne Hierarchien ausbilden. Menschen können in solchen Gemeinschaften ihre Anerkennung und Heimat finden, ja: ihre "Wurzeln" schlagen. Das Lob der "Bindungen" im konservativen Denken ist durchaus berechtigt. Nur eines muss gewährleistet sein: dass Menschen sich aus freien Stücken diesen Gemeinschaften anschließen, in "Zucht" nehmen lassen und aus ihnen auch wieder ausscheiden können. Die Wahrung dieses Selbstbestimmungsrechts ist der Sinn der Schutzrechte im Grundgesetz und der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Diese richten sich nicht gegen Gemeinschaften und schon gar nicht, wie in der Tradition Carl Schmitts behauptet wird, grundsätzlich gegen den Staat, sondern versorgen diesen mit Akzeptanz und Legitimität. Das Recht auf Differenz muss aber von Individuen ausgeübt werden, die es dann in ihre Gemeinschaft einbringen können. Kollektive haben sich über die Zustimmung der Individuen zu legitimieren und nicht umgekehrt. Insofern können "autonome Gemeinschaften" zwar aufgebaut werden, aber keine individuellen Staatsbürgerrechte ablösen.

Verurteilt zum Kampf der Kulturen?

De Benoist sieht die Ursache der Vernichtung von Differenz nicht im missionarischen Eifer und dem Machtstreben religiöser und politischer Kollektive, sondern im modernen Individualismus und dem Kult der Gleichheit, den die Französische Revolution begründet habe. Konsequent werden dabei Überlegungen zur Struktur moderner Gesellschaften ausgeblendet. Man glaubt, die gesellschaftliche Entwicklung durch "rechtes" Denken neu und anders laufen lassen zu können. Es zeigt sich der gleiche Voluntarismus, den man vor 40 Jahren manchen Anführern der Neuen Linken vorwerfen musste, die zum Sprung aus dem "Reich der Notwendigkeit" in das "Reich der Freiheit" abhoben und schließlich in den Kadern von leninistischen und maoistischen Parteien, wenn nicht gar als Terroristen auf den Boden kamen.

Tatsächlich hat die heutige Welt sich aufgrund technischer Innovationen in Bild, Ton und Schrift umfassend vernetzt und die uralte Trennung der Traditionen durch den geographischen Raum minimiert. Zusammen mit den Wanderungsbewegungen stellt dies unweigerlich Kulturkontakt und Mischung her. Samuel Huntington meinte, dass dies zum Clash of Civilisations führen müsse, weil alle Menschen das tiefe Bedürfnis hätten, sich von anderen zu unterscheiden und daher auf "Blut und Überzeugung, Glaube und Familie" zurückgreifen würden, wenn sie mit Fremden konfrontiert sind. Seine These, dass die Großkonflikte der Zukunft vor allem Konflikte von Kulturen seien, bringt zentrale Positionen der Ethnopluralisten zum Ausdruck.

Nach allem, was wir wissen, ist der Kampf der Kulturen jedoch nur eine mögliche Reaktion auf die Begegnung der Menschen in einer globalisierten Welt. Viele Menschen pendeln unbekümmert zwischen zwei oder mehreren Welten, z.B. einer als "neutral" wahrgenommenen beruflichen und öffentlichen Sphäre einerseits und einer durch spezifische religiöse Rituale bestimmten Familien- und Feiertagswelt andererseits, in der sie sich auf ihre innere "Heimat" besinnen. Ob es zwischen Menschen unterschiedlicher Herkünfte zu friedlicher Koexistenz, zur Konkurrenz, zum Kampf oder zur "Gleich-Gültigkeit" im doppelten Sinn des Wortes kommt, ist daher nicht generell zu prognostizieren, sondern hängt von Geltungsansprüchen, Strategien, Aushandlungsprozessen und Machtverhältnissen ab. Konflikttreiber können aktiv werden und Ideologien propagieren, die sich wechselseitig die Schuld zuweisen und sich in ihrer Feindschaft bestätigen (wie heute Islamismus und Islamophobie).

Einwanderung ist konfliktreich, bevor Fremdheit sich in Vertrautheit und Konkurrenz in Kooperation verwandelt hat. Niemand ist gerne in seiner Lebensform in der Minderheit. Wenn es beispielsweise um die Erziehung der Kinder geht, hoffen wir alle auf kulturelle Übereinstimmung und Unterstützung durch die Nachbarn und die Eltern der Schulkameraden. Alle empirischen Untersuchungen zeigen indes, dass Menschen umso weniger Ablehnung und Fremdenfurcht äußern, je mehr Zuwanderer sie persönlich kennen. Die Informationen, die man von Mensch zu Mensch erhält, sind offenbar viel positiver, als die, die wir aus den Medien erhalten, in denen es zumeist um spektakuläre Konflikte und Verbrechen geht. Keineswegs muss es, wie Vertreter der Neuen Rechten glauben, zum Bürgerkrieg zwischen Einheimischen und Zuwanderern kommen, in dem Deutschland mit "Schuldkomplex" und "universalistischem Humanitarismus" sich abschaffe.

Allerweltskultur und Kreativität - können sie nebeneinander bestehen?

De Benoist beklagt die zunehmende Angleichung der Städte, der Verkehrswege und der Lebensformen als Herrschaft des immer Gleichen, eine "weltweite Gleichschaltung". Sein Ethnopluralismus trifft sich hier mit der Kulturkritik von Herbert Marcuse und der linken Diagnose eines amerikanischen "Kulturimperialismus". De Benoist verkennt dabei, dass die globale Kultur keineswegs uniform ist: Im Generationsgang, in den Sezessionen der Künstler, in der Reaktion auf neue technische Möglichkeiten in der Musik oder dem Internet bilden sich immer wieder besondere und kreative Ausdrucksformen heraus. Im Widerstreit verschiedener Traditionen errichten Jugendliche ihre eigene und dritte Welt. Hybride Identitäten ("Wir sind nicht Türken, nicht Deutsche, sondern Kreuzberger!") entstehen, werden irgendwann "normalisiert" und gelten schließlich vielleicht einmal als deutsches Erbe, wie weiland die französischen Märchen bei den Gebrüdern Grimm. Nicht mehr über voneinander abgegrenzte Orte, sondern über unterschiedliche Szenen, Themen und Stile differenziert sich Kultur in Zeiten der Globalisierung.

Man fragt sich, warum dies von den "Rechten" nicht gesehen wird. Vielleicht ist es die Allgegenwart eines Quotenfernsehens mit minimalen Qualitätsansprüchen, die gleichsam "aristokratische" Abwehrreaktionen auslöst. Vielleicht ist es die Ablehnung von "Formlosigkeit" (wie in der Kleidung, von Stillosigkeit wie beim Essen, von exhibitionistischer oder voyeuristischer Erotik), die bei ihnen als "Dekadenz" ästhetische Vorbehalte, ja: Ekel auslöst und auf Zuchtlosigkeit im Gefolge der 68er-Bewegung zurückgeführt wird. Nicht von ungefähr hat die Wiederentdeckung der Disziplin durch Bernhard Bueb bei ihnen ein radikalisierendes Echo ausgelöst. Dabei ist es niemandem verwehrt, "stilvolle" Erziehungs- und Lebensgemeinschaften aufzubauen, wie es die konservative Kulturkritik am Anfang des 20. Jahrhunderts (z.B. um Stefan George) auch ohne Chauvinismus geschafft hat. Sie haben sich aber eben nicht als räumlich, ethnisch oder religiös vorgegebene Gemeinschaften etabliert, sondern als "Bünde" von wahl- und wesensverwandten Geistern - und zwar über Orte, Nationen und Konfessionen hinweg. Wahl-Nachbarschaft ist heute die Grundlage von Differenz. Als evolutionäres Prinzip hat die "kosmische Diversität" mit ihr eine neue Basis gefunden.

Eine neue Aristokratie?

Die Ablehnung angenommener Gleichheitsforderungen beschränkt sich im Denken der Neuen Rechten nicht auf die Frage kultureller Differenz, sondern will auch hierarchische Beziehungen zwischen den Menschen rehabilitieren. De Benoist weist insbesondere auf das Phänomen der aristokratischen Moral hin, die eine ungeschriebene Moral "gegen sich selbst" sei und "Ausdruck einer privilegierten, direkten Beziehung zwischen einem selbst und etwas Höherem, zwischen dem, der lebt und dem, was seinem Leben Sinn gibt".

Auch hier sei unbestritten, dass Gemeinschaften ein gemeinsames Ethos entwickeln können, das sie zur Erbringung besonderer Leistungen befähigt. Religiöse, kulturelle, wissenschaftliche, politische und schließlich auch militärische Organisationen leben von der Ausbildung eines Ethos, das mit ihren Aufgaben eng verschränkt ist. Die gesellschaftliche Ordnung insgesamt braucht jedoch eine verlässliche Konfliktregelung durch Gesetzesrecht, weil das Ethos, das in den einzelnen Gruppen gilt, dem anderer Gruppen widersprechen kann. Warum sollte aber ein gruppenspezifisches Ethos und die Vorstellung, dafür bestimmt zu sein, durch das Prinzip rechtlicher und politischer Gleichheit der Individuen ausgeschlossen sein? Gerade die inhaltliche Offenheit des Gleichheitsprinzips eröffnet Raum für faktische und veränderbare Ungleichheit (nicht allerdings für wesensmäßige "Ungleichwertigkeit"). Der Wunsch, besser als Andere zu sein oder als etwas Besonderes anerkannt zu werden, ist eine starke Motivation der Lebensführung. Die Vision einer Aristokratie nimmt solche Impulse in sich auf, würde sie aber wieder entwerten, wenn immer schon feststünde, wer zu den "Besseren" gehört, wenn Ungleichheit also in Ungleichwertigkeit erstarren würde. Demgegenüber käme es darauf an, zum Beispiel in Schulen und Jugendgruppen möglichst viele Gelegenheiten zu schaffen, in denen junge Menschen sich in spezifischen Zusammenhängen auszeichnen könnten - gegenüber anderen, die ihrerseits bei anderen Gelegenheiten einen Vorsprung anstreben können.

Politik des Ausnahmezustands

Die Neue Rechte stellt nicht nur Differenzforderungen an die Kulturen, ohne zu bedenken, dass damit interner Zwang impliziert sein kann, sondern bringt die Differenz in einen gefährlichen Zusammenhang. Sie gräbt Carl Schmitt wieder aus, demzufolge das Wesen des Politischen in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind liegt.

Bereits hier ist Einspruch zu erheben. Die Reduktion der politischen Prozesse auf Freund oder Feind ist nicht das Wesen des Politischen, sondern ist Folge der Eskalation von Konflikten, wie sie die Entstehungszeit der Theorie Schmitts ab 1927 bestimmte. Politik als Prozess kann nicht von einem Ausnahmezustand her konstruiert werden, sondern ist immer auch Kompromiss und Verhandlung, um eben diesen zu vermeiden - das darf nicht im existenzialistischen Pathos der Entscheidung beiseitegeschoben werden. Nicht Krieg, sondern Frieden ist für die meisten Menschen das Ziel von Politik. Staaten haben sich von jeher dadurch legitimiert, dass sie friedliche Konfliktregulierung in rechtlichen Verfahren ermöglicht haben. Der Ausbau internationaler Institutionen kann weiterhelfen, damit Frieden auch zwischen den Nationen organisierbar wird.

De Benoist dagegen schreibt: "Der politische Akt par excellence ist die Bezeichnung des Feindes. Die Deutschen von heute drohen allein schon beim Aussprechen dieses Satzes in Ohnmacht zu fallen. Denn um den Feind zu bezeichnen, müsste man eine Zielvorstellung haben, und um zu einer solchen Zielvorstellung zu gelangen, müsste man auch wissen, was man sein will." Es geht also darum, einen Feind zu haben oder haben zu können. Wenn der Satz nicht leichtfertig formuliert ist, erscheint der Krieg hier nicht mehr nur als Vater, sondern Ziel aller Dinge. Muss der Wahnsinn des 20. Jahrhunderts wieder heraufbeschworen werden? In den jüngsten Balkankriegen wurde klar, was das angebliche Recht auf Differenz im "Ausnahmezustand" noch wert ist. Da wurden Menschen mit mehreren Zugehörigkeiten oder einem "fremdstämmigen" Partner gezwungen, sich für eine Ethnie und gegen eine andere zu entscheiden. Sie mussten bei einer Seite unterkriechen, um nicht von beiden erst beargwöhnt, dann bekämpft und schließlich getötet zu werden. Über Todesangst haben die Warlords auf dem Balkan, in Afrika und Südasien die Ethnisierung einer Bevölkerung vorangetrieben, die sich anfangs nicht notwendig in ethnischen Kategorien verstand und in der großen Mehrheit auch keine Hassgefühle gegeneinander hegte.

Lob der Intoleranz

Es kommt in der neurechten Ideenwelt noch schlimmer. Dass Kriege Männer brauchen - und verbrauchen -, wissen wir. Dass Männer Kriege brauchen (um sich ganz als Männer zu fühlen), verkennt die männliche Zurichtung, die in Zeiten des Krieges erfolgt. "Schlagt euch, werdet Männer!" - dieser Ruf gellt den älteren von uns noch aus Kinderzeiten in den Ohren. All dies wird nun wieder einmal anthropologisch begründet - mit dem "Aggressionstrieb" von Konrad Lorenz.

Ob Gewaltdispositionen für einen Krieg genutzt werden, darüber entscheidet letztlich die Form der Konfliktregulierung in und zwischen Gesellschaften, die sich dann auch in deren "Kulturen" sedimentiert. Ob wir Gewaltbereitschaft fürchten oder aber als Kampfesmut preisen und der Erziehung zugrunde legen, ist nicht von der "Natur" vorherbestimmt. Es liegt an uns beziehungsweise an Frieden und Unfrieden in einer Gesellschaft.

Genau diese Zivilisierung ist der Neuen Rechten ein Dorn im Auge. Nicht die unregulierte Aggression, sondern das "Erlahmen der Abwehrbereitschaft" ist für sie der "Ernstfall an sich". Uns Deutschen fehle die Kraft, das eigene Volk vor den Verrottungsszenarien der modernen, liberalen Massengesellschaft zu bewahren. Die heutige Form der Toleranz sei "die neunte Todsünde der zivilisierten Menschheit". "Das Gebot der Stunde ist also die Intoleranz, oder besser: das Lehren und das Erlernen der Intoleranz dort, wo das eigene in seiner Substanz bedroht ist. (...) Ganz Europa steht dem Massenzustrom muslimischer Migranten in einer fatalen Mischung aus Selbstzweifel (gesteigert: Selbsthass) und islamischer 'Hyper-Identität' hilflos gegenüber. Deren Durchsetzungsaggressivität stößt auf mangelnde Verteidigungsbereitschaft (...). An die Stelle des deutschen kulturellen Standards und Bildungsanspruchs tritt nichts Besseres, sondern eine uns fremde Clan- und Sippenverbandskultur, die ohne das typisch deutsche und weit entwickelte Leistungsethos nimmt, was der Sozialstaat bietet."

Dass der Missbrauch von Sozialleistungen bei Migranten höher sei als bei Einheimischen, ist unwahrscheinlich. Für Kubitschek dürfte das allerdings nicht entscheidend sein, denn er ist der Meinung, dass ethnische Deutsche bevorzugt werden müssten. Es geht ihm also letztlich um eine Offensive gegen muslimische Einwanderer. Sie sind der Feind, der "bezeichnet" werden muss.

Konflikte zwischen Cliquen, die sich über ethnische Zugehörigkeit definieren, sind in manchen Stadtvierteln und Schulen ein Problem. Gerade deshalb brauchen wir Konfliktschlichter und keine Konflikttreiber. Konflikteskalation ist ein sich über Gewalterfahrung selbst verstärkender Prozess und formt eine Weltsicht, die Carl Schmitt (aber nicht nur er, sondern auch Wladimir Iljitsch Lenin, Osama bin Laden und George W. Bush) für die eigentliche hielt. "Feindschaftsverweigerung" ist dagegen eine strategische Option, um zu verhindern, dass sich die Fronten verhärten, bis schließlich der Waffengang unausweichlich wird. Triumphierend glaubt de Benoist am Ausnahmezustand nach dem 11. September 2001 bereits die Substanzlosigkeit der Menschenrechtstradition der Vereinigten Staaten gegenüber der von Schmitt geforderten uneingeschränkten Handlungsfähigkeit des Staates im "permanenten Ausnahmezustand" illustrieren zu müssen.

Wissen, wohin man gehört!

Im Denken der Neuen Rechten wird letzten Endes die Solidarität, die wir in freundschaftlichen, familiären oder nachbarschaftlichen Gemeinschaften erleben und leisten (religiös gesprochen: die Nächstenliebe), auf Völker als "imaginierte Gemeinschaften" übertragen, nicht aber auf die Menschheit insgesamt. Damit verspricht es eine "eindeutige" und von klein auf "vorgegebene" kollektive Identität und kann (wie andere Sinngebungen mit einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse), die Unsicherheiten des Lebenslaufs kompensieren, diesmal durch ein "Geburtsrecht".

Von Anbeginn an ist der Mensch sicherlich ein Lebewesen, das immer wieder den Wunsch oder die Pflicht verspürt, sich selbst zu überschreiten und für ein größeres Ganzes da zu sein. Die Gemeinschaften, denen diese Solidarität zu Teil wird, werden ganz unterschiedlich definiert (davon war schon im Gleichnis des Samariters die Rede): Es kann das eigene Volk, die Religionsgemeinschaft, die Klasse, die Nation oder die Weltgemeinschaft sein. Für gedachte Gemeinschaften arbeiten wir, bringen wir Opfer, von ihnen her verstehen wir uns. Die weltgeschichtliche Entwicklung, insbesondere die Reduzierung von Raum und Zeit durch neue Technik, hat dazu geführt, dass neben Verwandtschaft, Nachbarschaft und Glaubensgemeinschaft in der Neuzeit die Nation und heute mehr und mehr die Menschheit insgesamt auf einen gefährdeten Erdball getreten ist. Der Schritt zu einem Weltbürgertum, das diesen heutigen Gegebenheiten entspricht und sie zu gestalten versucht, ist daher alternativlos. Die dazu notwendigen weltbürgerlichen Orientierungen schließen die Loyalität zu ethnischen und religiösen Gemeinschaften nicht aus, relativieren sie allerdings: Wir gehören weiterhin Verwandtschaften, Völkern, Nationen, Klassen und Glaubensgemeinschaften an. Diese sind aber nicht mehr das "letzte" Wort. Das zu revidieren, scheint das Ziel der Neuen Rechten zu sein.

Lehren des 20. Jahrhunderts

Das Selbstbewusstsein der Deutschen werde durch "Schuldkult", "Schuldlust" und "Schuldstolz" gebrochen, so Stimmen der Neuen Rechten. Traumata wird man aber nicht los, indem man sie ignoriert oder bagatellisiert. Wollen wir die Verbrechen des 20. Jahrhunderts - vom Todesmarsch der Armenier über die deutschen Konzentrationslager, die Killing Fields von Kambodscha bis zum Genozid in Ruanda - irgendwann einmal hinter uns lassen, müssen wir sie im Gedächtnis bewahren. Das Recht und die Würde des Trauerns gilt selbstverständlich für alle Opfer - auch die deutschen. Es geht dabei nicht um "Kollektivschuld" oder "Meine Ehre heißt Reue", wie die Neurechten das Gedenken ironisieren. Es geht um die Bewahrung eines Wissens, das wir nicht nur den Opfern der Vergangenheit, sondern vor allem den möglichen Opfern der Zukunft schulden. Jede aufrechnende Relativierung von Völkermord gefährdet dieses Wissen und führt gerade nicht zu einer selbstbewussten Nation. Weil Völkermord aber in Zukunft durchaus wieder geschehen kann, sollte auch keine Singularisierung betrieben werden (auch nicht, wie häufig, als Antithese zur Relativierung).

Aktive Erinnerung zeigt uns, was wir uns sonst nicht vorstellen können: dass Menschen guten - nein, "heroischen" Gewissens zu allen Tötungshandlungen fähig sind, wenn es ihnen zur Selbstbehauptung des Kollektivs notwendig erscheint, dem sie sich im Innersten zurechnen. Dies gilt auch für Massenvernichtung in den Kriegen. Es ist also nicht das "sogenannte Böse", es ist nicht "der" Aggressionstrieb in uns, der sich hier Bahn bricht. Eichmann war kein Triebtäter. Es ist viel schlimmer: Es ist die Selbstgerechtigkeit einer Moral, die sich auf ein imaginiertes und dann verabsolutiertes Kollektiv bezieht (durch welchen Glauben dies auch immer jeweils definiert sein mag), die alle anderen moralischen Impulse und Bedenken ausschaltet und Massen massenmorden lässt. Dieses Wissen ist aber vielleicht das wichtigste Vermächtnis des 20. Jahrhunderts, seiner Weltkriege und Völkermorde. Wir haben es weiterzugeben. Die Forderung nach völkischer Homogenität, die Reduktion von Politik auf Freund und Feind und die Rehabilitation der Intoleranz würde dagegen Deutschland letztlich auf einen neuen Nibelungenzug vorbereiten - wohin auch immer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Armin Mohler, Vorwort, in: Alain de Benoist, Kulturrevolution von rechts, Krefeld 1985, S. 9-12.

  2. Vgl. Institut für Staatspolitik (Hrsg.), Die "Neue Rechte". Sinn und Grenze eines Begriffs, Albersroda 2003.

  3. Karlheinz Weißmann, Der konservative Katechismus, in: Sezession, (2009) 29, S. 36.

  4. Ebd.

  5. Vgl. Götz Kubitschek, 20 Jahre Junge Freiheit, Albersroda 2006, S. 194-206.

  6. Vgl. Roland Eckert, Extremismus und kein Ende: zur Dynamik von Radikalisierung, in: R. Egg (Hrsg.), Extremistische Kriminalität. Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden 2006, S. 107-126.

  7. Vgl. Wolfgang Gessenharter, Der Schmittismus der "Jungen Freiheit" und seine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz, in: Stephan Braun/Ute Vogt (Hrsg.), Die Wochenzeitung "Junge Freiheit", Wiesbaden 2007, S. 77-94.

  8. Vgl. Alexander Ruoff, Verbiegen, Verdrängen, Beschweigen, Münster 2001.

  9. Alain de Benoist, Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 13.

  10. Ebd., S. 128.

  11. Vgl. Karlheinz Weißmann, Krieg - nur eine Erfindung?, in: Sezession, (2003) 1.

  12. Vgl. Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 1974.

  13. Götz Kubitschek, Die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit, in: Sezession, (2009) 28, S. 26.

  14. A.d. Benoist (Anm. 9), S. 42.

  15. Ebd., S. 128.

  16. Ebd., S. 27.

  17. Alain de Benoist, Kritik der Menschenrechte. Warum Universalismus und Globalisierung die Freiheit bedrohen, Berlin 2004, S. 10, S. 74.

  18. Vgl. Russell Hardin, One for All. The logic of group conflict, Princeton-New Jersey 1995, S. 196, S. 202.

  19. A.d. Benoist (Anm. 9), S. 68.

  20. Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations. Remaking of World Order, New York 1996, S. 126.

  21. Vgl. Roland Eckert, Wiederkehr des "Volksgeistes"? Ethnizität, Konflikt und politische Bewältigung, Opladen 1998.

  22. Vgl. Thorsten Hinz, Zurüstung zum Bürgerkrieg, Schnellroda 2009, S. 43 ff.

  23. A.d. Benoist (Anm. 9), S. 8.

  24. Vgl. Roland Eckert et al., "Ich will halt anders sein wie die anderen" - Abgrenzung, Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher, Opladen 2000.

  25. Vgl. Bernhard Bueb, Lob der Disziplin - eine Streitschrift, Berlin 2007.

  26. A.d. Benoist (Anm. 1), S. 88.

  27. Vgl. Benjamin R. Barber, An aristocracy of everyone - the politics of education and the future of America, New York et al. 1994.

  28. Vgl. Erich Vad, Freund oder Feind. Zur Aktualität Carl Schmitts, in: Sezession, (2003)1, S. 20-25; Alain de Benoist, Carl Schmitt und der Krieg, Berlin 2007.

  29. A.d. Benoist (Anm. 1), S. 104.

  30. Vgl. Karlheinz Weißmann, Krieg - nur eine Erfindung?, in: Sezession, (2003) 1.

  31. Vgl. K. Lorenz (Anm. 12); Henryk M. Broder, Kritik der reinen Toleranz, Berlin 2008.

  32. Vgl. Götz Kubitschek, Wir und die anderen - 12 Punkte zur Überfremdung, in: Sezession, (2009) 33, S. 50.

  33. Ebd., S. 26f.

  34. G. Kubitschek (Anm. 13), S. 50.

  35. Vgl. A.d. Benoist (Anm. 28).

  36. Vgl. Benedict Anderson, Imagined communities - reflections on the origin and spread of nationalism, London et al. 2006.

  37. Vgl. Institut für Staatspolitik (Hrsg.), "Meine Ehre heißt Reue". Der Schuldstolz der Deutschen, Albersroda 2007.

Dr. phil., geb. 1937; Prof. em. für Allgemeine Soziologie, Fachbereich IV - Soziologie, Universität Trier, 54286 Trier. E-Mail Link: eckert@uni-trier.de