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Heimischsein, Übernachten und Residieren - wie das Wohnen die Stadt verändert

Christine Hannemann

/ 14 Minuten zu lesen

Der Titel des Beitrages zielt auf die symbolische Synopse der vielfältigen Formen des Wohnens, die heute die Städte prägen. Angesichts der postmodernen Transformation aller Lebensverhältnisse diskutiert dieser Beitrag einige zentrale Aspekte des Wandels des städtischen Wohnens.

Einleitung

Wohnen ist der konservativste Lebensbereich, so die lange Zeit geltende Übereinkunft in den relevanten Forschungsdisziplinen. Bei den Anforderungen an die Wohnstätten von Menschen gelte es zunächst, so auch im 21. Jahrhundert, Grundbedürfnisse nach Schutz, Intimität und Privatheit zu befriedigen. Die These des konservativen Grundcharakters des Wohnens galt jedoch auch für die Anforderungen, die nicht anthropologisch fixiert sind, sondern von gesellschaftlichen und sozialen Wandlungsprozessen bestimmt sind. Angesichts der postmodernen Transformation aller Lebensverhältnisse verändert sich jedoch das Wohnen gerade in der Stadt grundsätzlich. In diesem Beitrag werden einige zentrale Aspekte des Wandels des städtischen Wohnens diskutiert und es wird gezeigt, dass dieser Lebensbereich weitgehend nicht mehr als grundsätzlich "konservativ" zu charakterisieren ist; ausgenommen die Grundbedürfnisse.

Individualisierung und Wohnen

Die Ursachen hierfür sind vielfältig und betreffen zunächst den gesellschaftlichen Wertewandel, der in den späten 1960er Jahren einsetzte. Zur Kennzeichnung dieses Prozesses ist hierfür durch die Soziologie der wissenschaftliche Begriff der Individualisierung geprägt worden. Er bezeichnet einen mit der Industrialisierung und Modernisierung der westlichen Gesellschaften einhergehenden Prozess des Übergangs des Individuums von der Fremd- zur Selbstbestimmung. In der gegenwärtigen postmodernen Gesellschaft prägt eine qualitativ neue Radikalisierung diesen Prozess. Gesellschaftliche Grundmuster wie die klassische Kernfamilie zerfallen. Der zunehmende Zwang zur reflexiven Lebensführung bewirkt die Pluralisierung von Lebensstilen und Identitäts- und Sinnfindung werden zur individuellen Leistung. Für das Wohnen ist dabei vor allem die Singularisierung relevant, als freiwillige oder unfreiwillige Form des Alleinwohnens und der Schrumpfung der Haushaltsgrößen. Gerade die mit dem Alleinwohnen verbundenen Verhaltensweisen und Bedürfnisse verändern die Infrastruktur in den Innenstädten: Außerhäusliche Einrichtungen wie Cafés und Imbissmöglichkeiten bestimmen zunehmend die öffentlich sichtbare Infrastruktur in den Stadtteilen. Dies gilt gleichermaßen für Angebote von Dienstleistungen aller Art.

Hinsichtlich dieses Trends sind gerade aus den Medien quantitative Alarmierungen nach dem Motto "Die Gesellschaft vereinsamt - immer mehr Singles in den Großstädten" bekannt. So präsentiert eine aktuelle Studie eines Wirtschaftsberatungsunternehmens die Erkenntnis, dass der Anteil der Einpersonenhaushalte in Deutschland weiter wachse. Laut dieser Studie wohnen 38 Prozent der Deutschen allein. Berlin ist mit einem Anteil von 52 Prozent "Singlehauptstadt". Allerdings, und darauf verweist zurecht die Webseite "Externer Link: No Titel ", die sich mit Akteuren, Positionen und Abgrenzungspolitiken gegenüber der Singles beschäftigt, sind solche Aussagen nur bedingt aussagekräftig: Da das Statistische Bundesamt nicht die Haushaltsstrukturstatistik mit der Bevölkerungsstruktur verknüpft, ergibt sich ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Lebensverhältnisse in Deutschland. Aus der Haushaltsstatistik resultiert eine Überschätzung des Alleinwohnens.

Auch wenn deshalb über die genaue Zahl der Alleinwohnenden nur spekuliert werden kann, bleibt erstens die Tatsache, dass sich die Anzahl der Personen, die in einem Haushalt zusammenleben, gerade in Städten immer weiter verringert. Jeder zweite Haushalt in deutschen Großstädten ist ein Einpersonenhaushalt, das Statistische Bundesamt nennt dies ausdrücklich ein "Großstadtphänomen". Dies betrifft vor allem Personen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, die gleichwohl temporär alleine wohnen. Wie viele Umfragen immer wieder bestätigen, wird dies nicht als eine auf Dauer gestellte Wunschwohnform betrachtet, sondern als Übergangsphase zu Gemeinschafts- oder familiären Wohnformen.

Alterung und Wohnen

Zweitens betrifft dies auch das Phänomen der Alterung der Gesellschaft. Ein immer größerer Anteil von Menschen wohnt als "Hochbetagte/r" allein. Für das Wohnen im Alter ist das zunehmende Alleinwohnen von hochbetagten Frauen in Privatwohnungen charakteristisch. Das resultiert aus der nach wie vor längeren Lebenserwartung von Frauen und dem immer stärkeren und besser zu realisierenden Wunsch, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Vor allem aber bleiben "die Alten" auch länger "jung" und aktiv. Traditionelle Altenheime entsprechen nicht dem vorherrschenden Wunsch nach Beibehaltung der gewohnten, selbständigen Lebensführung. Alte wohnen bis weit in ihre Siebziger Jahre eigenständig. Selbst in ihren Achtzigern bleiben viele noch vital. "Beim Thema Wohnen ist in den Lebensentwürfen 50+ ein neuerlicher Variantenreichtum an die Stelle von Altenheim oder Pflege innerhalb der Familie getreten. Zwei populär diskutierte Modelle für das Wohnen im Alter sind die Alten-Wohngemeinschaft und das Mehrgenerationenhaus. (...) 60 Prozent unserer Befragten halten das Mehrgenerationenhaus (...) für hoch attraktiv. Nicht weil sie derzeit einen besonderen Bedarf dafür hätten, sondern weil es unter der Perspektive schwindender Familiensolidarität eine echte Alternative darstellt. Das Modell findet jedoch aus einem weiteren Grund bei der Zielgruppe 50+ breite Unterstützung: 88 Prozent der Menschen zwischen 50 und 70 Jahren würden nie oder nur im Pflegefall in ein Altenheim gehen."

Integrative Wohnprojekte

Beispielhaft für diesen Wandel des Wohnens in der Stadt sind hier Projekte, die unter den Begriffen Mehrgenerationenwohnen (MGW) und Baugemeinschaften (BG) firmieren. Der Anspruch, MGW zu verwirklichen, wird erst seit einigen Jahren stärker erhoben, obwohl es sich eigentlich um eine alte Wohntradition handelt. Auch die BG (oder auch Baugruppen oder Baugemeinschaft) als private Eigentümergemeinschaft haben sich zunehmend zu einem Erfolgsmodell insbesondere in wohlhabenderen Städten der Bundesrepublik entwickelt. Die Präferenz für einzelnen Modelle oder mögliche Mischformen zwischen ihnen ergibt sich aus den sozialen Milieus des jeweiligen Ortes und aus den ideellen Zielvorstellungen der Projekte. Tendenziell befördern Genossenschaften stärkere soziale Mischungen als rein private Baugruppen. Bei letzteren dominiert, auch durch die Finanzierungsform erzwungen, ein gehobenes Mittelschichtsmilieu. Die Realität von Wohnungsfinanzierung und Wohnungsmarkt drängt vor allen Dingen Besserverdienende zu den privaten BG mit ihrer weitestgehend freien Verfügbarkeit und damit Wertsteigerung des Wohneigentums. Soziale Mischung und Genossenschaftsprinzip hingegen stellen eine Bremse für die Wertsteigerung des Wohnungsbestandes dar. MGW und BG sind getragen von einer Kultur der Selbsthilfe und der Selbsttätigkeit einer gebildeten, über materielles und kulturelles Kapital verfügenden, in der Regel akademisch qualifizierten Mittelschicht.

Allerdings zeigen erste Studien hinsichtlich des MGW, dass gerade die Verbindung von Alten und jungen Familien mit Kindern ein seltener Grenzfall ist. Es dominiert die Generation 50+, die noch Älteren sind schon schwächer vertreten, Junge sind, abgesehen von eigenen Kindern, unterrepräsentiert. Die Vermutung lautet: "Die MGW- Bewegung ist noch ein Generationsprojekt der älter werdenden mittleren Generation, genauer der Babyboomer." Die Wortführer und die Aktiven sind häufig jenseits der Fünfzig, seltener die wenigen Jungen. In der Aktivenkultur besteht darüber hinaus eine beträchtliche Professionalität. Häufig sind die Gründer eines Projekts selbst Architekten oder, wie in dem sehr großen Projekt "Beginenwerk e.V." in Berlin-Kreuzberg, als Sozialplaner Mitarbeiter im Kontext der Entwicklung des Konzepts der "behutsamen Stadterneuerung" in den 1980er Jahren.

Das Konzept der BG hingegen ist häufig eine Initiative von jungen Familien. Ältere sind zwar integriert, jedoch eher nicht Initiatoren und nicht in einer nennenswerten Anzahl vertreten. Diese Altersspezifik bewirkt eine andere Ausrichtung des Wohnsinns, das zwar auf das städtische, gleichwohl eher kleinstädtische Milieu gerichtet ist: "Berlins dörflichstes Wohnprojekt findet sich in Kreuzberg" analysiert spitzzüngig "Die Tageszeitung". "Haus & Hof" heißt in Berlin eine BG, die durch einen Architekten in Form von fünf dreigeschossigen Reihenhäusern mit Garten und Dachterrasse - sowie einem Doppelhaus realisiert wurde. Das Konzept steht für einen Mix aus dörflichem Wohngefühl und urbaner Umgebung. Die Berliner Stadtpolitik bewirbt dieses Konzept als hoch notwendiges Projekt, um junge Familien in der Stadt zu halten. Garten und Dachterrasse plus Ganztagskinderversorgung, wie auch Kino und Biosupermarkt wohnortnah, das sind die Konturen eines neuen urbanen Lebensstils, der von der Idee - frei nach Karl Kraus - "Urbaner Gemütlichkeit" getragen wird.

Desintegrative Wohnprojekte

Zielen die MGW und BG-Projekte auf integriertes innerstädtisches Wohnen, fokussieren andere neue Wohnprojekte durch exklusive Lage, Abschottung oder Serviceangebote auf "residentielle Exklusivität". Immer häufiger werden Wohnungen in Wohnlagen konzipiert, die auf die Abgrenzungsinteressen ihrer Nutzer ausgerichtet sind. Das innerstädtische Wohnen als räumliches Medium der Gesellschaft dient zunehmend als symbolische Ressource in alltäglichen Kommunikationspraktiken, als Mittel der Distinktion. Die Adresse symbolisiert den sozialen Status in der Gesellschaft. Eine Vielzahl dieser Projekte befriedigt jedoch nicht nur soziale Statusbedürfnisse sondern auch alltägliche Nutzungsanforderungen. So wirbt beispielsweise die Nymphenburger Höfe Grundstücksgesellschaft mbH & Co. KG in München: "Wohnen in den Nymphenburger Höfen bedeutet ein Stück Münchner Mitte kaufen. Die Maxvorstadt ist eines der derzeit angesagtesten Stadtviertel Münchens. Neben Restaurants, Szene-Bars, Biergärten und Trend-Läden verfügt die Maxvorstadt über eine einmalige Dichte an Museen, Theatern, Universitäten und wissenschaftlichen Instituten. Außerdem haben zahlreiche renommierte Konzerne, Consultingfirmen und Werbeagenturen Ihren Sitz in der Maxvorstadt." Offeriert werden unter anderem "Design-Apartments" die sich als Opernwohnung, Studentendomizil, Zweitwohnung oder gar als Lebensmittelpunkt eignen.

Andere Wohnprojekte gehen noch einen Schritt weiter und greifen auf das Konzept der gated community zurück. Dies ist ein Stichwort, das zumindest in deutschen Großstädten im Kontext des Wandels des Wohnens aufgrund von Individualisierung nicht mehr außer Acht gelassen werden kann. Als Ende der 1980er Jahre die neuen sozialräumlichen Spaltungen der Städte in der Stadtforschung beispielsweise als quartered city (Peter Marcuse) beschrieben wurden, begründete die Disparitätsthese auch den Beginn einer Auseinandersetzung mit nichtöffentlichen und ummauerten Wohnanlagen. Historisch gesehen sind räumlich und baulich abgegrenzte Wohnanlagen zwar in Europa und den USA eigentlich keine neue Erscheinung. Was bislang aber hauptsächlich aus Megastädten der sogenannten Dritten Welt bekannt war oder als neue Form des Wohnens in postsowjetischen Städten galt, existiert auch in deutschen Großstädten, zwar noch in geringem Umfang, ist aber von stadtpolitischer Brisanz. So wurde in Berlin mit den "Prenzlauer Gärten" in hervorragender innerstädtischer Lage eine Neubausiedlung realisiert, die 60 Reihenhäuser umfasst. Ganz in weiß gehalten, ist deren wichtigstes stadträumliches Merkmal ein Tor, das die beiden Kopfbauten am Eingang vom Rest der Stadt trennt und deutlich sichtbar den Wunsch nach "Zutritt nur für Bewohnende" signalisiert.

Auf die Verbesserung von Vermarktungschancen zielen des Weiteren Wohnkonzepte, die zusätzlich zur Wohnstätte auch einen speziellen Service anbieten. Basierend auf dem doorman-Konzept werden den Bewohnern verschiedene Dienstleistungen angeboten. Allerdings lässt sich hier nicht in jedem Fall ein Trend der Nobilitierung des städtischen Wohnens konstatieren, sondern ist Ergebnis davon, dass sich der Prozess der Individualisierung mit dem der Subjektivierung von Arbeitszeiten und -formen verknüpft. Die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse ist zum einen immer häufiger mit Prekarität, also mit temporärem und finanziell ungewissem Charakter verbunden, aber zum anderen auch mit Zeitsouveränität durch flexible Arbeitszeiten. Dabei entstehen individuelle Möglichkeiten zur Gestaltung der persönlichen Lebensbereiche. Arbeiten und Wohnen überlagern sich, die tradierte Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit hebt sich auf. In Städten wie Wohngebieten verändern sich zeitliche Nutzungsmuster.

Subjektivierung der Arbeit und multilokales Wohnen

Eine in ihrer Bedeutung bisher zu Unrecht wenig thematisierte Verschiebung städtischer Wohnverhältnisse ergibt sich aus diesem Wandel der Arbeitswelten: Multilokalität wird zur sozialen Praxis von immer mehr Menschen; insbesondere von Berufstätigen, denn ein Schlüsselerfordernis gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse ist Mobilität. Berufliche Mobilität ist heute zwangsläufig eine Grundbedingung der Erwerbsarbeit.

Eine spezifische Form des Mobilseins, die sich auch als Spannungsfeld zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit konstituiert, ist das multilokale Wohnen, also die Organisation des Lebensalltags über zwei oder mehr Wohnstandorte hinweg. Aufgrund seiner wachsenden quantitativen und qualitativen Bedeutung erweist sich dies für Städte als eine hoch praxisrelevante Erscheinung, die spezifische Wertungen von Wohnen und Wohnumwelten zur Folge hat. Multilokalität hat inzwischen einen solchen Umfang und solche Spezifik erlangt, dass in der sozialräumlichen Forschung diese Praxis der Lebensführung "gleichberechtigt neben Migration und Zirkulation zu stellen" ist. An die Stelle der überwiegend ortsmonogamen Lebensformen tritt immer häufiger, - freiwillig oder erzwungenermaßen - "Ortspolygamie: Mit mehreren Orten verheiratet zu sein". "Multilokalität (...) an zwei (oder mehr Orten) bedeutet nämlich, dass neben der ursprünglich bestehenden Wohnung eine zweite Behausung verfügbar ist, die als Ankerpunkt des Alltagslebens an einem zweiten Ort genutzt werden kann." Auch wenn quasi viele solche Menschen kennen - wenn sie nicht sogar selbst diese Lebenspraxis leben -, für die das multilokale Wohnen in unterschiedlichster Weise Alltag ist, fehlt bisher eine detaillierte quantitative Abschätzung.

Die ersten Ergebnisse dieses neuen Forschungsfeldes zeigen, dass multilokales Wohnen überwiegend als eine vom Beschäftigungssystem auferlegte Belastung erlebt wird, die von sozialen Netzwerken aufgefangen werden muss - die gleichzeitig durch diese Arbeits- und Lebensform beeinträchtigt werden. Multilokalität wird, so scheint es bislang, nur von Haushalten mit geringen sozialen Bindungen und individualistischen Orientierungen als positive Erweiterung von Lebenschancen und Horizonten wahrgenommen.

Wie das Wohnen die Stadt verändert

Aus der Vielzahl der möglichen Schlussfolgerungen sollen, quasi im dialektischen Wechselspiel, zusammenfassend zwei gegenläufige Tendenzen des Wohnwandels herausgestellt werden. Heimischsein, Übernachten und Residieren stehen als Begriffe nicht nur für die Vielfalt an unterschiedlichen Ausprägungen, die das Wohnen heute aufweist, sondern sie reflektieren auch weitgehend eigenständige Dimensionen: Wer eine Wohnstätte als oikos (griech.: Hausgemeinschaft) eines privaten Lebensortes definiert, übernachtet nicht nur, wie etwa sonst aus berufsmigrantischen Gründen wochenlang oder wöchentlich. Wer eine Wohnstätte als Residenz definiert, für den hat diese vor allem distinktive Symbolisierungsqualität: Eine Einzimmerwohnung in Apartments am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz in Berlin kann nur einen überwiegend repräsentativen Charakter mit lediglich temporärer Wohnfunktion haben, da im Hauptraum nicht Platz für mehr als ein Doppelbett ist. Wohnen kann sich sogar auf "Übernachten", also auf die reine Behälterfunktion reduzieren: Soziale Einbindung, gar nachbarschaftliches Engagement oder kulturelle Inwertsetzung werden nicht am zeitlich gesehen "Meistwohnort" realisiert, sondern nur am Ort des zeitlich weniger genutzten Hauptwohnsitzes.

Zwar bleibt die Angewiesenheit auf die Containerfunktion der Wohnung als grundlegende Existenzform des Menschen konstant, aber ihr jeweiliger lokaler Stellenwert verschiebt sich, wird hybrider: Temporäre Wohnformen jeder Art werden verbreiteter. Gerade mit den Mitteln von modernen Kommunikationstechnologien kann das Heimischsein zu Orten hergestellt, erhalten aber auch konstituiert werden, die nicht auf den aktuellen Wohnsitz bezogen sind; auch wenn man aus steuerlichen Gründen hier gemeldet ist. Für den Wandel des Wohnens ist hier bestimmend, dass sich in Folge der skizzierten Prozesse von Individualisierung, Subjektivierung und Multilokalität vor allem Koordinaten und Inwertsetzung des "bewohnten" Territoriums ändern. Forschungen der Verhaltenswissenschaften untersuchen das sogenannte menschliche Territorialverhalten. Deren Ergebnisse besagen, dass erst die Definition eines eigenen Territoriums identitätsbildend wirkt. Irwin Altman, einer der Urväter der Privacy-Forschung, macht verschiedene Arten von Territorien aus, da die Bindungen von Menschen an räumliche Gegebenheiten sehr unterschiedlich sein können. Ein primäres Territorium ist definiert als klarer Lebensbezugspunkt, und erst seine Aneignung bedingt die Aufrechterhaltung der eigenen Identität. Dies zielt auf ein räumlich fixiertes und sichtbares Refugium zur Sicherung der für die Lebens- und Arterhaltung notwendigen Reproduktionsbedürfnisse. Das ist in unserer Kultur traditionell wesentlich die (eine) Wohnung. Entscheidend ist hier die anthropologische Tatsache, dass sich dieses primäre Territorialverhalten immer nur auf einen Ort bezieht. Multilokalität aber bedingt im Extremfall die Reduktion des Hauptwohnsitzes zur Übernachtungsbehausung. Der Ethnologe Marc Augé spricht von einer Zunahme von non-lieux, Nicht-Orten, in den Zeiten der Postmoderne. Es wird quasi ortlos gewohnt.

Angesichts der Individualisierung gewinnt die Wohnfunktion in der Stadt aber auch wieder an Bedeutung. War lange Zeit die Suburbanisierung der bestimmende Trend des Wohnens, wird heute wieder das Wohnen in den Städten zum bevorzugten Ziel verschiedenster "Nutzergruppen". Über die tatsächliche Renaissance der Stadt wird in der Fachwelt zwar heftig gestritten, unübersehbar aber sind die Veränderungen in innerstädtischen Wohngebieten: Waren diese lange Zeit, pauschal gesprochen, Wohnstandorte von sozial Schwachen, prägen heute junge Familien, Edelurbanisten, Studierende und Jungakademiker sowie auch Senioren- und andere Residenzen innerstädtische Wohnmilieus. Die Struktur der Stadtbewohner wird älter und sichtlich bunter:

  • Veränderte Lebensstile bedingen Wohnformen jenseits der klassischen abgeschlossenen Kleinwohnung mit Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer, etc.

  • Angesichts der steigenden Lebenserwartung suchen ältere Menschen Komfort und (perspektivisch) auch Betreuungsangebote in fußläufiger Wohnortnähe. Eine autounabhängige Lebensweise wird für Hochbetagte lebensweltliche Überzeugung oder pure Notwendigkeit. Das Altenheim als altersgerechte Wohnform wird überflüssig, es sei denn als hochpreisige Edelseniorenresidenz. Das MGW oder die Altenwohngemeinschaft sind Wohnmodelle, die in Zukunft noch stärker nachgefragt werden.

  • Auch Einkommensstarke, häufig ohne Kinder, realisieren trendabhängige Wohnbedürfnisse in gefragten innerstädtischen Wohngebieten. Zum einen aus Distinktionsgründen und zum anderen häufig auf Grund beruflicher Praktikabilität. Hierin eingeschlossen ist die größer werdende Gruppe privilegierter Migrantinnen und Migranten, die in deutschen Städten dauerhaft oder temporär leben. So werden ganze Stadtviertel auf neue Art ethnisch geprägt: Nicht mehr sozial marginalisierte Migranten überformen die traditionelle Infrastruktur, sondern solche mit hohem ökonomischem und kulturellem Kapital. Die distinktiven Bedürfnisse dieser neuen Stadtinteressierten führen neben der Vertiefung der sozialräumlichen Spaltung in den Städten zu Wohnsituationen, die neue Merkzeichen im Stadtbild offerieren, die von der überwiegenden Mehrheit der Stadtbewohner als positive Identifizierungsmerkmale anerkannt werden.

  • Insbesondere Studierende und Hochschulabsolventen in großen Städten wollen "angesagt" wohnen, auch wenn sie nur über begrenzte Budgets verfügen. Sie leben häufig in einer Art Gemeinschaftswohnung, um sich die hohen innerstädtischen Mieten leisten zu können. Überwiegend handelt es sich hier um Zweckwohngemeinschaften, nicht um gemeinschaftsorientierte Wohnkonzepte oder etwa Alternativmodelle zur traditionellen Familie.

Wohnen in der Stadt ist zu einer differenzierten hybriden Angelegenheit geworden: Auf der einen Seite wird wieder gewohnt, des Wohnens Stellenwert hat im städtischen Alltag, für die Stadtpolitik und für die Ausgestaltung des städtischen Stadtgefüges an Gewicht und Heterogenität zugenommen. Auf der anderen Seite wächst die Anzahl der Menschen, die zwar in der Stadt wohnen, sich aber explizit nicht heimisch fühlen und auch nicht heimisch sein wollen. Für immer mehr Menschen genügt es oder muss es genügen, zu übernachten und/oder zu residieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Mehr als jeder dritte Deutsche wohnt allein", online: www.gfk-geomarketing.de/fileadmin/newsletter/
    pressemitteilung/bvsd_2008.html (6.4..2010).

  2. Dieter Otten/Nina Melsheimer, Lebensentwürfe "50plus", in: APuZ, (2009) 41, S. 34, online: www.bpb.de/files/XGI2F3.pdf (1.4.2010).

  3. De+ architekten mit Werner Sewing, Mehrgenerationenwohnen in den neuen Bundesländern - Abschlussbericht. Forschungsergebnis und Konzept, H.1/2, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung, Berlin 2009, unveröff., S. 22.

  4. Vgl. ebd.

  5. Eine hervorragende aktuelle Übersicht für Deutschland bieten Stefan Krämer/Gerd Kuhn, Städte und Baugemeinschaften, Stuttgart 2009.

  6. Uwe Rada, Die Stadt im Dorf lassen, in: Die Tageszeitung (taz) vom 27.1.2010.

  7. Frei nach Karl Kraus, der bekanntlich von einer Stadt, in der er leben sollte, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung verlangte, da er selbst gemütlich genug sei.

  8. Kurzinfo Nymphenburger Höfe, online: www.nymphenburger-hoefe.de/wohnen/de/kurzinfo.html (24.3.2010).

  9. Peter Weichhart, Multilokalität - Konzepte, Theoriebezüge und Forschungsfragen, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Multilokales Wohnen. Informationen zur Raumentwicklung, H. 1/2, Bonn 2009, S. 7.

  10. Vgl. Ulrich Beck, Ortspolygamie, in: ders. (Hrsg.), Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung, Frankfurt/M. 1997, S. 127.

  11. Vgl. P. Weichhart (Anm. 9), S. 8.

  12. Vgl. Katharina Bluhm/Christine Hannemann/Hartmut Hirsch-Kreinsen/Rainer Neef/Günter Voß, Einleitung zur Sektionsveranstaltung Multilokales Leben - Multilokale Haushalte - Multilokale Arbeit. Erweiterte Optionen oder erhöhte Unsicherheit?, in: Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena, Frankfurt/M. - New York 2010 (i.E.).

  13. Vgl. Irwin Altmann, The environment and social Behaviour - Privacy, Personal Space, Territory, Crowding, Monterey/CA 1975.

  14. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1994.

  15. Für eine Analyse der dramatischen inneren Spaltungsprozesse in Städten siehe den Beitrag von Walter Siebel in diesem Heft.

  16. Vgl. Florian Kreutzer/Silke Roth, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Transnationale Karrieren. Biografien, Lebensführung und Mobilität, Wiesbaden 2006.

PD Dr. phil., geb. 1960; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: christine.hannemann@sowi.hu-berlin.de