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Zur Anatomie der arabischen Proteste und Aufstände

Muriel Asseburg

/ 17 Minuten zu lesen

Die Proteste verbinden soziale, wirtschaftliche und politische Forderungen. Es ist absehbar, dass es eine Phase der Instabilität geben wird, die zu repräsentativeren Systemen führen könnte, aber auch zu Bürgerkrieg, Staatszerfall oder Sezessionen.

Einleitung

Die Regimes Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens galten als korrupt und repressiv. Gleichzeitig hielt man sie jahrzehntelang für weitgehend stabil und anpassungsfähig. Symbol dieser Stabilität waren nicht zuletzt Herrscher und Herrscherfamilien, die über Jahrzehnte an der Macht blieben. Diese Verkrustung brach auf, als sich Mitte Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid selbst verbrannte, weil er für sich keine Lebensperspektive mehr sah. Dem Fanal folgten Massenproteste, die von der Jugend der Mittelschicht initiiert und von breiten Teilen der Zivilgesellschaft wie den Gewerkschaften und Berufsvereinigungen mitgetragen wurden. Tunesiens Regime versuchte, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen. Doch als führende Militärs sich weigerten, bei der blutigen Unterdrückung mitzuwirken, und sich auf die Seite der Demonstrierenden stellten, brach die Diktatur zusammen. Nach jahrzehntelanger Herrschaft floh der Präsident Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Land. Der rasche Erfolg beim Sturz der Autokraten - im Monat darauf trat auch der ägyptische Präsident Husni Mubarak infolge von Massenprotesten zurück - ermutigte junge Menschen von Marokko bis Saudi-Arabien, den Unmut über ihre Lebensbedingungen auf die Straße zu tragen und nicht länger vor Regimegewalt zurückzuweichen. Im Frühjahr und Sommer 2011 kam es so vor dem Hintergrund vergleichbarer Missstände in nahezu allen arabischen Ländern zu Protesten, die sich teilweise zu Aufständen auswuchsen. Ausnahmen bildeten lediglich die Komoren, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar. Selbst außerhalb der arabischen Welt - etwa in China, im Iran oder in Israel - fanden die Protestierenden Nachahmer und stieß ihr Vorbild erneute Demonstrationen an.

Sowohl die gesellschaftlich-politischen Träger der Proteste als auch die von ihnen artikulierten Anliegen unterscheiden sich von Land zu Land. In erster Linie geht es den Protestierenden darum, dass ihre Lebensbedingungen verbessert werden und sie stärker an Wachstum und Entwicklung partizipieren können. Dies halten sie allerdings nur dann für erreichbar, wenn Korruption und Vetternwirtschaft bekämpft, die Möglichkeiten politischer Teilhabe ausgeweitet sowie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung eingeführt werden. Je nach Landeskontext und Umgang des Regimes mit den Protesten ergeben sich daraus unterschiedliche Zielsetzungen: Das Spektrum der Forderungen reicht von der Abschaffung ethno-konfessioneller Diskriminierung über die Erweiterung parlamentarischer Mitspracherechte und der konstitutionellen Beschränkung von Monarchien bis hin zur vollständigen Beseitigung der Regimes. Eines aber haben alle Proteste in der arabischen Welt gemein: Sie verbinden soziale, wirtschaftliche und politische Forderungen - Fortschritte in allen drei Bereichen werden als unabdingbar gesehen, damit "ein Leben in Würde" möglich ist. Damit zielen die Proteste auf Missstände, die zwar seit langem bestehen, sich in den vergangenen Jahren aber zugespitzt haben.

Nach dem Sturz Ben Alis und Mubaraks rüsteten sich die arabischen Regimeeliten ihrerseits, um Proteste in ihren Ländern zu verhindern, einzudämmen oder niederzuschlagen. Gleichzeitig versprachen sie Schritte zur Linderung sozioökonomischer Notlagen, machten umfangreiche Geldgeschenke und kündigten politische Reformen an, die bislang allerdings vielfach rein kosmetischer Natur blieben. Im März 2011 sahen zahlreiche Beobachter bereits ein Ende des "Arabischen Frühlings" gekommen - zu signalisieren schienen dies der bewaffnete Machtkampf in Libyen und die Intervention des Golfkooperationsrates in Bahrain, welcher die dortigen Proteste blutig unterdrückte.

Aber der Druck auf die Herrscher hielt in vielen Ländern an, und die Proteste weiteten sich aus, in der Regel gerade in Reaktion auf den Einsatz tödlicher Gewalt durch die Regimes. In anderen Ländern, wie Syrien, brachte die Unzufriedenheit mit den Herrschenden überhaupt erst ab Mitte März 2011 eine nennenswerte und im Folgenden stetig zunehmende Zahl von Demonstrierenden auf die Straße. Auch in anderen Staaten der Region zeigt sich, dass die bislang ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um die Proteste zu beenden und die Herrschaftssysteme in ihrer jetzigen Form dauerhaft zu erhalten. Nicht nur sind viele der Ad-hoc-Maßnahmen auf Dauer kaum finanzierbar; es wurden auch klare Signale gesetzt, dass die Mächtigen nicht unantastbar sind, sondern national oder international zur Rechenschaft gezogen werden können. In Tunesien und Ägypten müssen sich mittlerweile höchste Amtsträger, ihre Familienangehörigen und Günstlinge wegen Korruption und Gewalt gegen Zivilisten vor Gericht verantworten. Die Aufklärung von Kriegsverbrechen in Libyen wurde vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an den Internationalen Strafgerichtshof überwiesen. In ihrer jetzigen Form werden die Regimes daher keinen Bestand haben. Insofern ist der "Arabische Frühling" eine historische Zäsur. Doch wäre es verfrüht, schon jetzt ein Ende der arabischen Autokratien zu konstatieren.

Sozioökonomische Missstände:

Zu den zentralen Beweggründen der Protestierenden gehören sozioökonomische Missstände. Denn obwohl die arabischen Volkswirtschaften in den vergangenen Jahren mit wenigen Ausnahmen fast durchweg moderate oder sogar hohe Wachstumsraten verzeichneten, ist es ihnen nicht gelungen, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei stehen alle Staaten vor der Herausforderung, ihre schnell wachsende und junge Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. In Tunesien, Katar und Bahrain liegt der Anteil der unter 35-Jährigen bei knapp 60 Prozent; im Irak, Jemen, Oman, den palästinensischen Gebieten und Syrien gehören sogar rund drei Viertel dieser Altersgruppe an. Junge Menschen sind besonders stark von Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und beruflicher Perspektivlosigkeit betroffen. So liegt etwa in Ägypten selbst nach offiziellen Angaben der Anteil der Arbeitslosen bei den 20- bis 24-Jährigen bei fast 50 Prozent. Oft sind es gerade die besser Ausgebildeten, die ohnehin höhere Erwartungen an ihre Zukunft hegen, die kein Auskommen, keine Jobperspektiven und keine Karriereaussichten haben.

Von den Wirtschaftsreformen der vergangenen Dekaden, die vor allem auf Liberalisierung und Privatisierung abzielten, aber die Einführung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen vernachlässigten, profitierten in der Regel diejenigen, die eng mit dem Regime verknüpft oder mit den politischen Entscheidungsträgern verwandt und befreundet waren. Besonders deutlich wurde dies in Ländern wie Ägypten oder Syrien. Für das Gros der Bevölkerung, insbesondere diejenigen, die in den ländlichen Gebieten leben, brachten die Reformen hingegen kaum Fortschritte. Im Gegenteil: Die Lebenshaltungskosten stiegen, staatliche Subventionen wurden abgebaut und die soziale Schere öffnete sich weiter.

Vernachlässigte Entwicklung:

Nur in wenigen Ländern wurde in eine landesweit ausgeglichene und nachhaltige Entwicklung investiert. Schon die "Arab Human Development Reports" wiesen darauf hin, dass es in den meisten Staaten der Region nicht gelungen ist, soziale Ungleichheiten abzubauen und die menschliche Entwicklung entscheidend voranzubringen. So gibt es nach wie vor arabische Staaten mit hoher Armut und einem geringen Bildungsniveau. Besonders drastisch wird dies durch den Grad der Alphabetisierung illustriert: Während dieser im Sudan knapp 70 Prozent beträgt, liegt er in Ägypten bei nur 66 Prozent, im Jemen bei 61 Prozent, in Mauretanien bei 57 Prozent und in Marokko bei 56 Prozent. Mit Ausnahme der kleinen Golfstaaten haben nicht einmal die ressourcenreichen Länder angemessen in die menschliche Entwicklung investiert: Algerien, Irak und Sudan etwa liegen weit zurück; die Golfstaaten stehen trotz ihrer sozialkonservativen Orientierung im Vergleich deutlich besser da - auch was die Schulbildung von Mädchen angeht.

Zugespitzt hat sich die Situation vor allem in den Staaten, die von Nahrungsmittelimporten abhängen. Hier wirkten sich die im Zuge der globalen Nahrungsmittelkrise stark gestiegenen Preise besonders auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung aus: Im Februar 2011 erreichte der Nahrungsmittelpreisindex der Food and Agriculture Organization (FAO) mit 236 Punkten einen Höchststand seit Beginn seiner Erfassung 1990. Der Weltweizenpreis hat sich allein von Juli 2010 bis Februar 2011 mehr als verdoppelt. Dramatische Auswirkungen hatten diese Preissteigerungen etwa in Ägypten, dem größten Weizenimporteur der Welt. Denn Steigerungen des globalen Preisniveaus schlagen sich dort spürbar auf den Endverbraucherpreis nieder, obwohl Lebensmittel staatlich subventioniert werden. In Ägypten geben die Haushalte rund 40 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus; die Inflation in diesem Bereich lag 2010 bei rund 20 Prozent. Nicht zuletzt deshalb taucht bei den Protesten immer wieder die Forderung nach bezahlbaren Grundnahrungsmitteln auf.

Verengung des politischen Raums:

Auch im politischen Bereich gab es Anlass für großen Unmut. Insbesondere hatten viele in den autoritären Staaten der arabischen Welt die Hoffnung aufgegeben, dass ein Wandel durch politische Beteiligung innerhalb der bestehenden Ordnungen, etwa durch Wahlen, möglich sei. Zwar wurden in vielen arabischen Ländern politische Reformen durchgeführt, die eine gewisse Öffnung mit sich brachten - zunächst nach Ende des Kalten Kriegs und später unter dem westlichen Demokratisierungsdruck, der den Anschlägen vom 11. September 2001 folgte. Allerdings entstanden keine repräsentativeren oder inklusiveren Systeme. Zudem wurde der politische Raum von den Regimes erneut verengt, nachdem 2005 und 2006 bei Wahlen im Irak, in Ägypten und in den palästinensischen Gebieten Kräfte des politischen Islams erhebliche Zugewinne erzielten. Dem amerikanischen Demokratieindex "Freedom House" zufolge waren Anfang 2011 von den Mitgliedern der Arabischen Liga nur die Komoren, Kuwait, Libanon und Marokko als "teilweise frei" einzustufen; alle anderen fielen in die Kategorie "nicht frei". Im globalen Vergleich schneidet die Region insgesamt am schlechtesten ab, was den Status politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten betrifft. Mit wenigen Ausnahmen blieben die Bewertungen für arabische Staaten in den Jahren 2007 bis 2011 entweder gleich oder verschlechterten sich sogar.

Manipulierte und gefälschte Wahlen, wie in Jordanien oder Ägypten im Spätherbst 2010, trugen dazu bei, Parlamente und Abstimmungsverfahren in den Augen der Bevölkerung weiter zu diskreditieren. Brisant ist dies auch deshalb, weil in vielen Gesellschaften der Region die Wahrnehmung vorherrscht, die bestehende Ordnung werde nicht zum Wohle der breiten Masse aufrechterhalten - im Sinne eines autoritären Entwicklungsstaates -, sondern diene vor allem der Bereicherung einer korrupten Elite. Diese Sichtweise ist durch die Enthüllungen von "WikiLeaks" seit Ende 2010 über Korruption, Vetternwirtschaft sowie Bereicherung und "unmoralisches Verhalten" der Eliten noch einmal verstärkt worden, etwa in Algerien, Libyen, Marokko, Saudi-Arabien, Syrien und Tunesien.

Neue Formen der Kommunikation:

Gleichzeitig hat sich in vielen Ländern der Region eine zumindest teilweise unabhängige Presse herausgebildet, die nicht zuletzt Fragen von Korruption, Vetternwirtschaft und Polizeigewalt kritisch kommentiert. Dadurch hat sich der öffentliche Diskurs verändert, Tabus sind durchbrochen worden. Hinzu kommt, dass auch in den arabischen Ländern gerade junge Menschen digital gut vernetzt sind. Dank elektronischer Medien können sie aktuelle Entwicklungen fast in Echtzeit verfolgen. Mobiltelefone und soziale Online-Netzwerke ermöglichen es, Gleichgesinnte schnell und kostengünstig zu mobilisieren. Politische Debatten in der arabischen Welt werden heutzutage sehr viel weniger zentral gesteuert, als dies noch zu Zeiten von Gamal Abdel Nassers panarabischem Radiosender "Sawt al-Arab" der Fall war. Heutzutage wird der öffentliche Diskurs unter arabischen Jugendlichen mitbestimmt von Blogs, "Facebook" und "Twitter" - von Kommunikationsmitteln, die bedeutende Effekte der Solidarisierung und Nachahmung erzeugen können.

Als mindestens ebenso entscheidend für die "revolutionäre Ansteckung" über Landesgrenzen hinweg sowie für Massenmobilisierung hat sich der katarische Satellitensender "Al Jazeera" erwiesen - nicht zuletzt, weil das Satellitenfernsehen in der arabischen Welt nach wie vor deutlich stärker verbreitet ist als das Internet. Letztlich ist es das Zusammenwirken der elektronischen Medien, Online-Netzwerke und klassischer Formen öffentlicher Mobilisierung, das für die Protestbewegungen kennzeichnend ist. Eine besondere Rolle spielen auch mit Handy-Kameras aufgenommene Bilder. Denn diese sorgen dafür, dass die Proteste und die Reaktionen der Regimes an der Zensur vorbei dokumentiert und über Satellitensender oder Internet in die Wohnzimmer der Region und der Welt übertragen werden. Dabei zeigt sich allerdings auch, dass die Handy-Bilder nur bedingt zur Aufklärung beitragen und eine unabhängige Berichterstattung nicht ersetzen können.

Träger und Strukturen der Proteste

In Tunesien und Ägypten waren es vor allem die gut gebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Mittelschicht, welche die Anti-Regime-Proteste initiierten und mithilfe sozialer Medien Massenproteste organisierten. In Ägypten bildete sich während der Demonstrationen die "Coalition of the Youth of the Revolution" heraus, ein Bündnis, in dem sich sechs Gruppierungen zusammenschlossen und sich auf ein gemeinsames Führungsgremium einigten. Die Revolutionäre unterscheiden sich deutlich voneinander, was ihren jeweiligen politischen, ideologischen und religiösen Hintergrund angeht. Allerdings spielten diese Verortungen bei ihrem Protest zunächst keine Rolle. Vielmehr forderten sie alle einen Bruch mit der Mubarak-Ära und einen politischen Neuanfang.

Sie hatten Erfolg: Die Massendemonstrationen, die am 25. Januar 2011 begannen, veränderten die politische Landschaft nachhaltig. Präsident Mubarak, der fast 30 Jahre das Land regiert hatte, trat zurück, das Parlament wurde aufgelöst und die ehemalige Regimepartei, die National Democratic Party (NDP), verboten. Dies konnte allerdings nur gelingen, weil die Demonstranten schnell das Militär auf ihrer Seite hatten und ihre Forderungen in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Zustimmung stießen beziehungsweise sie an bereits formierte soziale Bewegungen und frühere Protestbewegungen anknüpfen konnten. Dabei war für den Erfolg der Protestbewegung auch die Unterstützung durch breitflächige Streiks seitens der unabhängigen Gewerkschaften in den Industriestädten der Peripherie sowie der Suezkanalarbeiter entscheidend.

Wie in Ägypten so lag auch in Tunesien der Vorteil der "Revolutionäre" zunächst in ihren dezentralen Organisationsstrukturen. Denn dies erschwerte es den Regimes, gegen die Aktivisten vorzugehen. Während des nach dem Führungswechsel einsetzenden Aushandlungsprozesses über die Konditionen des politischen Übergangs und die Ausgestaltung des neuen Systems verwandelte sich dieser Vorteil allerdings in einen Nachteil: Es gelang den Allianzen, welche die Revolutionen vorangetrieben hatten, nicht, weiterhin entscheidenden Einfluss zu entfalten. So konnten die Aktivisten zwar durch die Mobilisierung von Protesten Druck auf die Militärführung ausüben und spezifische Forderungen durchsetzen. Es gelang ihnen aber nicht, ihren Einfluss im formalen politischen Prozess zu verankern. Zudem verloren sie sukzessive den Rückhalt für weiter gehende Reformforderungen in der Bevölkerung. Unwahrscheinlich ist auch, dass es ihnen gelingen wird, bei den ersten Wahlen nennenswerte Erfolge zu erzielen.

In anderen Ländern, die vom "revolutionären Virus" angesteckt wurden, stammten die Initiatoren der Proteste nicht wie in Tunesien und Ägypten überwiegend aus der Jugend der Mittelschicht. Sie rekrutierten sich vielmehr aus bestimmten ethnischen oder konfessionellen Gruppierungen (so spielten etwa in Bahrain die Schiiten eine herausgehobene Rolle), aus Kreisen der etablierten Oppositionsparteien (wie es im Jemen überwiegend der Fall ist) oder aus Bevölkerungsgruppen, die sich sozioökonomisch oder politisch marginalisiert sehen (etwa den Stämmen im südlichen Syrien). Alle betonten allerdings sowohl den friedlichen als auch den konfessions- und ethnienübergreifenden Charakter ihrer Proteste.

Nicht überall bildeten sich rasch Massenbewegungen heraus. In Syrien etwa verliefen Protestaufrufe zunächst im Sande - aus Angst der Bevölkerung vor Repression und Bürgerkrieg, aber auch, weil das syrische Regime durchaus mehr Legitimität aufweisen konnte als die Regimes in Tunesien und Ägypten. Erst ab Mitte März erhielten die Proteste dort - in Reaktion auf die Verhaftung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen - nennenswerten Zulauf. Als ein entscheidendes Manko erwies sich allerdings, dass sich die urbane Mittelklasse in den beiden größten Städten des Landes, Damaskus und Aleppo, den Protesten (zumindest bis Mitte September 2011) nicht anschloss. Auch blieben diese im Wesentlichen lokal organisiert und voneinander isoliert: Obwohl sie sich gegenseitig inspirierten und sich ein Netzwerk "Lokaler Koordinationskomitees" herausbildete, kämpfte im Sommer 2011 jede syrische Stadt quasi ihren eigenen Kampf. Die Komitees bildeten auch keine gemeinsame Führung analog zur ägyptischen Jugendkoalition. Selbst infolge diverser Treffen von Vertretern der In- und Auslandsopposition gelang es (bis September 2011) nicht, ein weitgehend akzeptiertes Führungsgremium zu etablieren, ähnlich etwa dem libyschen Übergangsrat. Als zu unterschiedlich erwiesen sich die spezifischen Forderungen und Zukunftsvorstellungen der einzelnen Bevölkerungsgruppen und politischen Gruppierungen, als zu groß das gegenseitige Misstrauen. Auch verliefen nicht alle Auseinandersetzungen ohne Gewalt; so eskalierten beispielsweise die Proteste in Libyen und gingen schnell in einen bewaffneten Machtkampf über.

Dennoch: In den ersten acht Monaten zeichneten sich die Proteste des "Arabischen Frühlings" überwiegend durch eine gewaltarme und zivile Form aus. Gewalt gegen Menschen ging in erster Linie von Regimekräften aus. Dies führte in Libyen und im Jemen dazu, dass auch Teile der Opposition beziehungsweise bislang benachteiligte Stammesführer zu den Waffen griffen. Deutlich wurde auch: Je brutaler der Gewalteinsatz seitens der Regimes wurde, desto schwieriger war die Lage zu beruhigen. In der Regel kam es gerade in Reaktion auf den Einsatz von Scharfschützen oder schwerem Gerät gegen Zivilisten zu einem Anwachsen der Proteste: Die Menschen waren nicht länger bereit, sich zu beugen und willkürliche Gewalt hinzunehmen.

Als ein Muster zeigte sich überdies, dass dem Militär eine entscheidende Bedeutung für den Verlauf der Auseinandersetzungen zukam. Stellte sich die Armee rasch auf die Seite der Protestierenden, kam es zu einem relativ gewaltarmen Führungswechsel (so in Tunesien und Ägypten). Spaltete sie sich, war ein bewaffneter Machtkampf die Folge (so in Libyen und im Jemen). Blieb sie in weiten Teilen loyal (so in Syrien), wirkte sich dies in einer besonders rücksichtslosen Repression der Proteste aus und verhinderte einen Erfolg der Demonstranten. Ein solcher Einsatz delegitimierte zugleich das Regime und führte zu einer Pattsituation. Ähnliches gilt auch für Bahrain: Selbst wenn es dem Königshaus Mitte März 2011 mit Hilfe der Intervention des Golfkooperationsrates gelang, die Protestbewegung zu unterdrücken, die den Protesten zugrunde liegenden Probleme sind keineswegs gelöst, das Konfliktpotenzial keineswegs entschärft worden.

Die Proteste in der arabischen Welt haben nicht nur Auswirkungen auf die Herrschaftssysteme - sie haben auch den gesellschaftlichen Diskurs und die Attraktivität ideologischer Strömungen verändert. Dabei ist es zunächst zu einer Pluralisierung der politischen Landschaft gekommen, insbesondere in Tunesien und Ägypten. Die Rebellionen haben zudem deutlich gemacht, dass die Alternative "Autoritarismus oder Islamismus", die von den Herrschenden immer wieder konstruiert worden ist, keine Gültigkeit (mehr) besitzt. Denn von Islamisten wurden die Proteste bislang überwiegend weder initiiert noch dominiert. Dies bedeutet nicht, dass Vertreter des politischen Islams bei der Gestaltung der neuen Ordnungen keine Rolle spielen werden. Im Gegenteil: Inklusivere Systeme werden es mit sich bringen, dass auch Islamisten daran partizipieren. In Tunesien und Ägypten zeichnet sich das bereits deutlich ab. Zu erwarten ist aber, dass es innerhalb des islamistischen Spektrums zu hitzigen Programmdebatten und Zerwürfnissen kommen wird. In einem kompetitiven Umfeld formieren sich neben den Islamisten auch andere gesellschaftliche Kräfte wie etwa liberale und sozialdemokratische. Dies mag sich bei den ersten Wahlen noch nicht entscheidend auswirken, bei künftigen Urnengängen dürften sie aber durchaus relevante Stimmenanteile auf sich vereinigen können.

Durch die Errungenschaften der Protestbewegungen hat in der arabischen Welt auch die radikale Ideologie Al Qaidas (zumindest vorläufig) an Attraktivität verloren. Ihren Vertretern war es schließlich nicht gelungen, die verhassten Herrscher zu stürzen oder die eigenen Visionen zu verwirklichen. Zugleich jedoch könnte es Al Qaida gelingen, seine Operations- und Rückzugsräume zu vergrößern, wenn die Schwächung staatlicher Zentralgewalt (etwa im Jemen) weiter anhält. Der Iran wiederum versuchte zwar anfänglich, die Umwälzungen in den arabischen Ländern als eigenen Erfolg auszugeben und zu "islamischen Revolutionen" umzudeuten. Doch das iranische Modell streben die Protestierenden nicht an - auch nicht die Schiiten in Bahrain oder Saudi-Arabien, selbst wenn ihnen das von den Herrschenden unterstellt wird. Auch geriet die iranische Führung in Erklärungsnot, als die Massenproteste in Syrien begannen, mit dessen Regime Teheran eng verbündet ist.

Ausblick

Wie die Region in ein paar Jahren aussehen wird, lässt sich kaum seriös prognostizieren. In einigen Fällen dürften die Proteste zu weiteren Umstürzen führen. Nach Libyen scheint dies auch im Jemen nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Auch in Syrien ist eine Rückkehr zum Status quo, wie er sich vor März dieses Jahres darstellte, höchst unwahrscheinlich. Derzeit zeichnen sich drei Hauptmuster ab, nach denen die Regimes mit den Protesten und Aufständen umgehen: der Sturz des alten Führungspersonals und Einstieg in einen Transformationsprozess (Tunesien, Ägypten, Libyen); Reformen (Marokko, Jordanien) beziehungsweise Repression und Geldgeschenke, um den Status quo zu erhalten (Saudi-Arabien); Repression und Einsatz militärischer Gewalt (Bahrain, Jemen, Syrien). Zu erwarten ist, dass mittelfristig auch unterhalb der Schwelle eines (abrupten) Regimewechsels Anpassungen stattfinden werden, die über kurzfristige Maßnahmen deutlich hinausgehen - Anpassungen, die letztlich einem graduellen Regimewandel gleichkommen. Bei den Ländern, die bereits einen Übergang eingeleitet haben (Tunesien, Ägypten, Libyen) oder in denen das Regime die Kontrolle über weite Teile des Staatsgebiets verloren hat (Jemen), stellt sich die Frage, ob der Übergang zu einer repräsentativeren, freieren und gerechteren Ordnung gelingen wird.

Gelegentlich wird der "Arabische Frühling" mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen. Richtig ist, dass der Wandel auch in der arabischen Welt aus den Gesellschaften heraus erkämpft wird und die Umbrüche dort eine ähnlich bedeutende Zäsur darstellen wie 1989. Denn hat die breite Bevölkerung erst einmal die Angst vor dem Repressionsapparat der Herrschenden verloren, lässt sich der "Sicherheitsstaat" nicht mehr dauerhaft aufrechterhalten. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass die arabischen Länder, in denen tatsächlich ein Führungs- oder Regimewechsel eingeleitet wird, politisch und wirtschaftlich eine ähnlich rasche Transformation durchlaufen werden, wie dies in Mittel- und Osteuropa der Fall war. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Gesellschaften und Volkswirtschaften der arabischen Welt und jenen Mittel- und Osteuropas zu Beginn der 1990er Jahre: Viele arabische Gesellschaften sind ethnisch und konfessionell stark fragmentiert und insofern eher mit den Gemeinwesen Südosteuropas zu vergleichen. Sie weisen zudem nur relativ kleine Mittelschichten auf und sind in vielen Fällen von großen Einkommens- und Vermögensunterschieden geprägt. Im Bereich der menschlichen Entwicklung hinken die arabischen Länder deutlich hinterher. Weil ihre Bevölkerungen im Durchschnitt sehr jung sind und nach wie vor rasch wachsen, stehen sie vor besonders großen Herausforderungen, was Bildung, Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen angeht. Und, anders als bei den mittel- und osteuropäischen Staaten, fehlt hier ein entscheidender Anreiz für schnelle politisch-wirtschaftliche Liberalisierung und demokratische Konsolidierung: das Angebot der EU-Mitgliedschaft bei erfolgreichen Reformen gemäß den Kopenhagener Kriterien, wie es im Juni 1993 vom Europäischen Rat konkretisiert wurde. All dies dürfte dazu beitragen, dass die Transformation in den arabischen Ländern wesentlich holpriger verlaufen, länger dauern und von herberen Rückschlägen gekennzeichnet sein wird. Absehbar ist, dass es in den kommenden Jahren nicht nur eine Phase der Instabilität geben wird, die in einigen Fällen auch mit Bürgerkrieg, Staatszerfall oder Sezessionen einhergehen könnte, sondern auch ein breiteres Spektrum an politischen Systemen, als dies bislang in der arabischen Welt der Fall war.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In den VAE kam es zu vereinzelten Protesten von Gastarbeitern. Dass es weder in den Emiraten noch in Katar nennenswerte Demonstrationen gab, erklärt sich durch den hohen Lebensstandard in beiden Ländern: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Katar bei rund 77000 US-Dollar, in den VAE bei rund 56000 US-Dollar. Der Staat wird hier nicht durch Steuerzahlungen seiner Bürgerinnen und Bürger finanziert; vielmehr erhalten diese umfassende staatliche Wohlfahrtsleistungen. Zudem ist in beiden Ländern der Anteil eigener Staatsbürger - mit jeweils rund 20 Prozent der Bevölkerung - gering.

  2. Vgl. die Indikatoren in: Muriel Asseburg, Der Arabische Frühling, SWP-Studie, (2011) 17.

  3. So betrug das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Ägypten, Sudan und Syrien 2010 im Vergleich zum Vorjahr jeweils etwa fünf Prozent, im Jemen und im Libanon je rund acht Prozent, in Libyen knapp elf Prozent und in Katar sogar 16 Prozent. Vgl. The World Bank, GDP growth (annual %), online: http://data.worldbank.org/indicator/NY.
    GDP.MKTP.KD.ZG (16.8.2011).

  4. Vgl. Wenke Apt, Aufstand der Jugend, SWP-Aktuell, (2011) 16.

  5. Vgl. U.S. Census Bureau, Midyear Population, International Data Base, 2011, online: www.census.gov/ipc/www/idb/groups.php (15.8.2011).

  6. Vgl. Central Agency for Public Mobilization and Statistics, Egypt: Labour Force Search Result for the Third Quarter, 21.11.2010, online: www.capmas.gov.eg/news.aspx?nid=503&lang=2 (15.8.2011).

  7. Vgl. United Nations Development Programme (UNDP), Arab Human Development Reports, online: www.arab-hdr.org (15.8.2011).

  8. Vgl. UNDP, Human Development Report 2010, New York 2010, S. 192ff.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. FAO, Food Price Index, März 2011, online: www.fao.org/worldfoodsituation/wfs-home/foodpricesindex/en (15.8.2011).

  11. Vgl. Sarah Johnstone/Jeffrey Mazo, Global Warming and the Arab Spring, in: Survival, 53 (2011) 2, S. 14.

  12. Vgl. Freedom House, Freedom in the World, online: www.freedomhouse.org/template.cfm?page=363&year=2011 (15.8.2011).

  13. Vgl. Daily News Egypt vom 16.2.2011.

  14. Vgl. Muriel Asseburg/Stephan Roll, Ägyptens Stunde null?, SWP-Aktuell, (2011) 10.

  15. Vgl. Muriel Asseburg, In Syrien fällt der Tag des Zorns vorerst aus, in: INAMO Special "Game over", (2011) 2, S. 91.

  16. Vgl. International Crisis Group, Popular Protest in North Africa and the Middle East (VI): The Syrian People's Slow Motion Revolution, Middle East/North Africa Report, (2011) 108.

  17. Vgl. Heiko Wimmen, Syrien, SWP-Aktuell, (2011) A 35.

  18. Vgl. Graham Usher, The Reawakening of Nahda in Tunisia, in: MERIP vom 30.4.2011; Mohamed Hafez, The Islamist movements after 25 January, in: Al-Ahram Weekly Online: http://weekly.ahram.org.eg/2011/1056/
    focus.htm (15.8.2011).

  19. Vgl. Guido Steinberg, Scheinriese Osama bin Laden, in: Tagesspiegel vom 6.5.2011.

Dr. rer. pol., geb. 1968; Leiterin der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für internationale Politik und Sicherheit, Ludwigkirchplatz 3-4,10719 Berlin. E-Mail Link: muriel.asseburg@swp-berlin.org