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Neue Proteste, alte Krisen: Ende des autoritären Sozialvertrags | Arabische Zeitenwende | bpb.de

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Neue Proteste, alte Krisen: Ende des autoritären Sozialvertrags

Cilja Harders

/ 16 Minuten zu lesen

Die Ursachen für die Proteste liegen in der Krise des autoritären Sozialvertrags. Dieser Krise liegt eine "Transformation ohne Transition" zugrunde: rapider sozialer Wandel bei politischer Stagnation und Repression.

Einleitung

Zeitpunkt, Intensität und Erfolg der Proteste, die im Dezember 2010 in Tunesien begannen und auf andere arabische Staaten übergriffen, waren sehr überraschend. Der demokratische Aufbruch in der Region hat gängige Stereotypen wie die Dominanz des Islamismus als einzige relevante Opposition infrage gestellt. Allerdings ist das Bild, das die Region derzeit bietet, nicht einheitlich. In Ägypten und Tunesien hat ein zähes Ringen um die Umsetzung der von vielen gewünschten radikalen Veränderungen begonnen. Die Proteste in Syrien und Bahrain werden von den herrschenden Eliten niedergeschlagen. In Libyen hat die NATO interveniert. Im Jemen oszilliert die Transformation zwischen Bürgerkrieg und friedlichem, ausgehandeltem Abgang des Präsidenten. In Marokko, Algerien, Irak, Libanon, den palästinensischen Gebieten und Jordanien kommt es zu Protesten und Demonstrationen. Selbst in den konservativen Ölmonarchien gibt es Versuche des öffentlichen Protests. Die Ursachen für die Proteste liegen in der Krise des autoritären Sozialvertrags, der das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Region regelt. Zu dieser Krise kam es aufgrund der "Transformation ohne Transition": eines rapiden, sozialen Wandels bei gleichzeitiger politischer Erstarrung und Repression.

Die arabischen Gesellschaften durchlaufen seit Jahren tiefgreifende soziale, politische, kulturelle und ökonomische Transformationen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. So konnte die wirtschaftliche Entwicklung nicht mit der demografischen mithalten: Einerseits gab es hohe Wachstumsraten und gute makroökonomische Daten, andererseits wuchs die soziale Ungleichheit. Es fanden Veränderungen in den Geschlechter- und Generationenverhältnissen statt, die patriarchale Strukturen im Privaten infrage stellten. Die politische Kultur veränderte sich durch vielfältigere Medienlandschaften, die digital und via Satellit lokale Gesellschaften global vernetzen. Nicht zuletzt hat die Denationalisierung von Politik auch vor den autoritären arabischen Staaten nicht haltgemacht: Jenseits formalisierter staatlicher Strukturen agieren nationalstaatlich verankerte, doch transnational vernetzte Akteurinnen und Akteure wie innerarabische Migrantinnen und Migranten, die islamistische Bewegung und - wesentlich schwächer ausgeprägt - die Menschenrechtsbewegung.

Diese Veränderungen wurden jedoch nicht von einem politischen Wandel im Sinne einer Liberalisierung oder gar Demokratisierung der Systeme begleitet: Die Regimes setzten auch weiterhin auf den autoritären Sozialvertrag, in dem wohlfahrtsstaatliche Leistungen im Tausch für politische Demobilisierung angeboten wurden. Auf Krisen sowie politische, soziale und ökonomische Herausforderungen reagierten die Regimes - in je spezifisch ausgeprägter Weise - mit Repression, Islamisierung, Informalisierung, Kooptation und begrenzter politischer sowie ökonomischer Liberalisierung. Diese fünf Anpassungsstrategien trugen lange, nicht zuletzt auch, weil der Westen in den Autokraten Garanten für Stabilität sah. Doch wurden ihre sozialen Fundamente durch den Rückzug des Staates infolge von neoliberalen Wirtschaftsreformen seit dem Ende der 1990er Jahre zunehmend brüchig: Die Widersprüche zwischen einer Rhetorik des paternalistisch-versorgenden Staates und den harten Krisenrealitäten sowie die zunehmende politische Mobilisierung neuer Akteursgruppen führten zu einer - in den einzelnen Staaten unterschiedlich tiefgreifenden und umfassenden - Legitimitätskrise.

Vor diesem Hintergrund ging und geht es bei den Umbrüchen nicht nur um den Rückzug der Autokraten, sondern um die radikale Veränderung des politischen Systems aus Korruption, Klientelismus, Unterdrückung, Polizeigewalt und eng begrenzten Räumen der politischen Gestaltung. Deshalb forderten die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, in Tunesien und anderen Staaten: "Das Volk will das System stürzen." Hierin liegt das zugleich "unideologische" und zutiefst radikale Moment dieser Proteste: die Rückeroberung des Politischen als Raum der kollektiven friedlichen Aushandlung um die wünschenswerte gesellschaftliche Ordnung. Die während der Massenproteste in Ägypten und Tunesien artikulierte Herrschaftskritik ist nicht naiv, sie ist sich bewusst, dass Veränderungen nur längerfristig zu erwarten sind. Viele Gruppen sind auf Debatte und die Rückeroberung des ergebnisoffenen demokratischen Prozesses hin orientiert. Sie beziehen sich nur am Rande auf die ehemals dominanten ideologischen Paradigmen des arabischen Sozialismus, Panarabismus oder Islamismus. Die Öffnung nach dem Fall der Diktatoren eröffnet allerdings auch demokratie- und pluralismusfeindlichen Kräften neue politische Räume.

Konzeptionelle Anmerkungen

Revolutionäre Umbrüche werden durch Krisen ausgelöst: Die Legitimität des herrschenden Regimes wird aufgrund akuter oder latenter politischer, ökonomischer oder kultureller Krisen hinterfragt. Staatliches Versagen mit Blick auf Leistungen oder Teilhabemöglichkeiten wird öffentlich angeprangert, und aus einer solchen Dynamik heraus kann die Systemfrage gestellt werden. Aus ökonomischen und politischen Krisen erwachsen jedoch nicht automatisch Proteste oder gar ein Regimewandel. Entscheidend ist das Zusammenspiel von objektiver Situation und dem subjektiven Empfinden von Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Mit anderen Worten: Krisen müssen als bearbeitbare und durch Menschen gemachte Probleme thematisiert werden, damit aus ihnen Mobilisierungspotenzial erwächst.

Zugleich muss es artikulierbare Alternativen geben. Insofern ist für das Verständnis der Umbrüche in der arabischen Welt ein Blick auf Akteurskonstellationen, strukturelle Faktoren und nicht zuletzt auch auf die situative Dynamik entscheidend. Die Akteurskonstellationen werden in autoritären Kontexten am besten sichtbar, wenn man einen breiten Politikbegriff anlegt. Angesichts der Einschränkung und Repression von unabhängiger politischer Partizipation waren beispielsweise Massenproteste in Tunesien, Libyen und Syrien besonders überraschend, da die organisierte Zivilgesellschaft bisher als zu schwach galt, um die Regimes herauszufordern. Daher könnte hier ein Blick auf die kleinräumigen lokalen und informellen Strukturen besonders instruktiv sein. In Ägypten, Jordanien, Marokko und Algerien ruhten beziehungsweise ruhen die Mobilisierungen dagegen auf einer vergleichsweise breiten zivilgesellschaftlichen Basis.

Offener Protest ist gerade unter Bedingungen des Autoritarismus nur eine von vielen möglichen Artikulationsweisen und historisch nicht die häufigste. Informelle, symbolische und verdeckte Formen der Partizipation sind ebenso wichtig. Gerade diese Formen, die von Medien und Politikern häufig nicht als "politisch relevant" wahrgenommen werden, müssen erfasst werden, um einen informierten Blick auf das politische Feld in den jeweiligen Staaten zu werfen. Dann wird sichtbar, dass die Massenproteste des Jahres 2011 keineswegs vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis langfristiger Mobilisierungs- und Veränderungsprozesse sind.

Krise des autoritären Sozialvertrags

Die arabischen Staaten werden seit längerem mit Entwicklungskrisen konfrontiert, die zu einer erheblichen Legitimitätskrise geführt haben. Darauf reagierten die Regimes mit den oben genannten Anpassungsstrategien, die auf Depolitisierung und Demobilisierung der Bevölkerungen zielten. Beispielsweise versprach der nasseristische Sozialvertrag in Ägypten Entwicklung und Wohlstand im Austausch mit Loyalität, die innerhalb klientelistischer Bahnen kontrolliert und depolitisiert werden konnte. In den 1990er Jahren wurde daraus ein "Sozialvertrag der Informalität": Er griff die depolitisierende Seite des nasseristischen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft auf, minimierte jedoch im Zeitalter neoliberaler Wirtschaftsreformen die wohlfahrtsstaatliche Rolle. An die Stelle von Rechten und Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger traten kaum einklagbare Möglichkeiten des informellen Handelns und der klientelistischen Interessensvermittlung. Zwar beruhte auch der "Sozialvertrag der Informalität" darauf, dass der Staat minimale Wohlfahrts-, Partizipations- und Sicherheitsleistungen zur Verfügung stellte. Doch wenn diese Versorgung systematisch verringert wird, hat dies Folgen für die Legitimität des Regimes. Die Kritik daran spiegelte sich in der Forderung der ägyptischen Demonstranten nach "Brot, Würde, Freiheit" beziehungsweise nach "Würde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit". Diese Slogans kritisierten ein System, in dem der Staat "seine" Seite des Sozialvertrags nicht mehr erfüllte.

Zwar hat es seit Mitte der 1970er Jahre begrenzte politische Liberalisierung in fast allen arabischen Staaten gegeben: So wurden in den Golfstaaten erstmals Wahlen durchgeführt und Räume für die Zivilgesellschaft geöffnet, in Syrien brach nach dem Amtsantritt von Bashar al Assad im Jahr 2000 der "Damaszener Frühling" an, welcher der Opposition etwas Gehör verschaffen konnte, in Marokko, Jordanien, Ägypten, Algerien, Libanon, Irak und den palästinensischen Gebieten wurden Wahlen unter Beteiligung unterschiedlicher Parteien durchgeführt, wenn auch nur die palästinensischen Wahlen als überwiegend frei und demokratisch galten. Durch die begrenzte und kontrollierte Liberalisierung bot sich den herrschenden Eliten die Möglichkeit, relevante Personen und Gruppen zu kooptieren und dadurch begrenzte Legitimität durch scheindemokratische Prozeduren und Institutionen herzustellen. Auch blieben die etablierten Oppositionsparteien einschließlich der in vielen arabischen Staaten scharf bekämpften Islamisten das Symbol für eine machtlose Opposition, die sich mehr oder minder freiwillig in eine inszenierte Fassadendemokratie einbinden ließ. So beteiligten sich diese Parteien in Ägypten nicht an den Massenprotesten, während ihre jungen Mitglieder sehr aktiv waren.

Dennoch kam es zu einer praktischen Pluralisierung des politischen Feldes und zu einer nicht beabsichtigten Stärkung der Akteure in der Fassadendemokratie, welche die Autorität der Regimes bereits vor den Protesten immer wieder herausforderte. So waren in Ägypten rund um die Kommunalwahlen 2008 intensive Auseinandersetzungen innerhalb der ägyptischen Regierungspartei NDP zu beobachten. Ähnliches gilt für die Prozesse im Vorfeld der Parlamentswahlen 2010. Viele Mitglieder der Regierungspartei gaben ihrer Empörung über undemokratische Praktiken bei der Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten Ausdruck, woraus eine eigene Bewegung entstand: Im Januar 2011 bildete sich ein paralleles "Volksparlament" von ausgeschlossenen Parlamentariern und an Universitäten bildeten sich parallele Studierendenausschüsse.

Mit Islamisierung reagierte das ägyptische Regime auf die Herausforderung durch islamistische Kräfte, die in den 1980er und 1990er Jahren das Regime auch mit Gewalt bekämpften. Gemeint ist hier der Versuch der Staatsführung, die kulturelle Hegemonie (welche religiöse Akteure in vielen arabischen Staaten erringen konnten) dadurch zu bekämpfen, dass sich die Regimes religiöser gaben als die Islamisten. Für Ägypten hieß das: scharfe Zensur, immer wieder Skandale um "blasphemische" Literatur, Schauprozesse gegen Homosexuelle und "Satanisten" (beziehungsweise als solche diffamierte Hardrock-Fans) oder Medienkampagnen gegen westliche "Unmoral". Der Kampf gegen die islamistischen Gruppen wurde einerseits mit Gewalt und Repression gefochten, andererseits mit den Mitteln der Kulturpolitik.

Repression ist ein Grundpfeiler jeder autoritären Herrschaft. Sie wurde in vielen anderen arabischen Staaten durch den Ausnahmezustand, die Verfassung, das Strafrecht und durch extralegale Maßnahmen abgesichert: Alle bürgerlichen Rechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden massiv eingeschränkt; Menschen konnten ohne Anklage inhaftiert und an Militär- und Sondergerichte überwiesen werden; faire Verhandlungen und menschenwürdige Behandlung im Gefängnis waren nicht garantiert. Diese Repression wurde nicht nur gegen politische Gegner ausgeübt, sondern auch gegen "normale" Bürgerinnen und Bürger: Händler auf dem Bürgersteig, Studierende auf dem Campus oder junge Leute, die "verdächtig" aussahen.

Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass sich der Volkszorn in Ägypten vor allem gegen die Polizei richtete. Überall im Land brannten Polizeistationen, die Orte der Alltagsgewalt des Staates gegen seine Bürgerinnen und Bürger. Das starke Empfinden, der Staatsgewalt im Zweifel hilflos ausgesetzt zu sein, vom Staat nicht unterstützt, sondern bekämpft zu werden, verbirgt sich unter anderem hinter der Forderung nach "Würde". Nicht umsonst fand die Facebook-Seite "We are all Khaled Said", die aus Protest über die Ermordung Khaled Saids eingerichtet wurde, rasch viele Anhänger. Said, der in seinem Blog über die Verwicklung der Polizei in den Drogenhandel berichtete, wurde von der Polizei ermordet. Sein Schicksal ist paradigmatisch für die umfassende Unsicherheit und Repression. Insofern ist die Forderung nach Würde ebenso im Sinne unveräußerlicher Menschenwürde und damit Schutz vor Gewalt und Ungerechtigkeit zu verstehen wie auch als Forderung, Überleben in Würde sichern zu können.

Hinter Informalisierung verbirgt sich in Ägypten und vielen anderen arabischen Staaten ein tief in der Gesellschaft verankertes System von informellen Handlungsspielräumen, Klientelismus und Korruption, das gerade armen Menschen ihre staatsbürgerlichen Rechte für informelle Spielräume abkauft. Der alte nasseristische Sozialvertrag wurde durch einen "Sozialvertrag der Informalität" ersetzt: Politische Exklusion und Kontrolle wurden nicht mehr durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen "bezahlt", sondern durch die Eröffnung informeller Handlungsspielräume. So leben große Bevölkerungsguppen in informellen Siedlungen, die durch informelle Transportsysteme versorgt werden. Dort werden Kanalisationsrohre in gemeinschaftlicher Eigenleistung verlegt, Strom und Wasser werden abgezweigt. Informelle Netzwerke der Nachbarschaft oder der Familie sind überlebenswichtig. Formale Institutionen wie Wahlen sind dabei eng mit informellen Institutionen wie Familien- und Herkunftsnetzwerken oder Mechanismen der informellen Konfliktmediation verknüpft. Dabei spielen lokale Notabeln als Vermittler und Schlichter eine wichtige Rolle. Genau diese Strukturen wurden in Ägypten und Tunesien 2011 als Antwort auf die von den Regimeeliten provozierte Unsicherheit aktiviert. Es entstanden Nachbarschafts- und "Volkskomitees" zum Schutz der Bewohner vor Regimegewalt und Kriminalität. Dieses Arrangement der informellen Handlungsspielräume wurde durch den Rückzug des Staates zunehmend brüchig, wie die wütenden Proteste rund um die Nahrungsmittelkrise 2008 zeigten. Dabei ging es nicht nur um Brot, sondern auch um die Kritik an Korruption - in der Wahrnehmung der Menschen war die Mangelversorgung Folge von lokaler Spekulation und bewusst herbeigeführter Preissteigerung. Damit war auch eine zunächst "unpolitische" Forderung nach subventionierten Nahrungsmitteln eingebettet in den breiteren Kontext der Kritik an einem korrupten Regime. An dieses Muster knüpften die Slogans vom Tahrir-Platz mit "Brot, Würde, Freiheit" an.

Die Anpassungsstrategie der begrenzten wirtschaftlichen Liberalisierung ist eng mit der Privatisierung von Dienstleistungen verbunden, durch welche die informelle und unbezahlte Aneignung öffentlicher Güter immer schwieriger wurde. Seit 2004 kam es zu einem verstärkten Privatisierungs- und Liberalisierungsschub in Ägypten. Davon profitierten vor allem diejenigen ökonomischen Eliten, die Präsidentensohn Gamal Mubarak nahestanden. Sie waren bis Januar 2011 im Kabinett und häufig mit branchennahen Portfolios vertreten. So hat sich in kürzester Zeit mit der vom Internationalen Währungsfonds und der EU unterstützten Strukturanpassungs- und Liberalisierungspolitik ein oligarchisches System herausgebildet, dessen zentrale Akteurinnen und Akteure im Unterschied zu den Eliten der 1990er Jahre zunehmend bereit waren, die Kosten für Liberalisierung und Privatisierung (wie Inflation, Nahrungsmittelkrisen, Arbeitslosigkeit oder Subventionsabbau) unabhängig von längerfristigen Entwicklungserwägungen auf die verarmende Bevölkerungsmehrheit abzuwälzen.

Diese ökonomische Situation verstärkte aber auch die Widerstandsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung wie die seit 2006 erstarkende Arbeiterbewegung in Ägypten zeigt. Damals wurde der Keim für die unabhängige Gewerkschaftsbewegung gelegt, die sich gegen den massiven Widerstand der Regimegewerkschaften formierte und im Januar 2011 eine wichtige Rolle spielte. Auf dem Tahrir-Platz ging die Ära einer kontrollierten und kooptierten Arbeiterbewegung in Ägypten zu Ende, während in Tunesien die zunächst ebenfalls regimetreuen Gewerkschaftsstrukturen zentral für die Verbreitung und Vertiefung der Proteste waren. Zugleich entzündeten sich an den Streiks in Ägypten Solidaritätsaktivitäten, die wegweisend sein sollten wie etwa die Arbeit der "Jugend des 6. April".

Schon vor der Revolution deutete sich eine Spaltung der Wirtschaftseliten entlang ihrer ökonomischen Orientierung an. Dies macht die aktuelle Rolle des Militärs in Ägypten besser verständlich. Derzeit dominieren in Ägypten neue, ökonomisch global orientierte Akteure, die das alte, national orientierte Kapital und seine Interessen, darunter vor allem das Militär, das ein wichtiger Wirtschaftsakteur ist, wirtschaftlich und politisch zu marginalisieren drohten. Zur Elitenspaltung kam es vor allem, weil der Führungskader des Militärs die Politik der Gruppe um Gamal Mubarak ebenso ablehnte wie die Idee der Amtsnachfolge für den Mubarak-Sohn. Vor diesem Hintergrund muss das Verhalten der Offiziere in der Hochphase der Massenproteste bewertet werden, als sie lieber einen aus ihren Reihen opferten und sich von Mubarak lossagten, als systematische militärische Gewalt gegen die Demonstranten anzuwenden.

Die Kritik an Korruption und Oligarchisierung der Wirtschaft ist nicht nur in Ägypten von herausragender Bedeutung. In allen arabischen Staaten kontrollieren kleine, unmittelbar oder mittelbar mit den politischen Eliten verbundene Gruppen zentrale und produktive Wirtschaftssektoren: In Tunesien richtete sich der Volkszorn vor allem gegen die Familie des Präsidenten, die als kleptokratisch und verantwortlich für systematische Korruption galt. Im Juni 2011 sieht sich Bashar al Assad in Syrien gezwungen, seinen Cousin, den Oligarchen Rami Makhlouf, zu "opfern", der sich "freiwillig" aus allen Geschäften (wie Mobilfunk, Immobilien) zurückzog. In Jordanien richtet sich ebenfalls ein öffentlicher Diskurs gegen die angebliche Verschwendungssucht der Königin Rania, der hier wie auch vorher in Tunesien nicht zufällig eher die Ehefrauen der Herrscher als die Herrscher selbst kritisiert.

Dynamiken und Forderungen

Während die Krise des autoritären Sozialvertrags strukturell und umfassend ist, muss sie dennoch als solche thematisiert werden, damit Menschen mobilisiert werden. Zugleich lässt sich in allen Staaten eine Eigendynamik der Proteste beobachten. Am 25. Januar 2011, dem ersten Tag der Großdemonstrationen in Kairo, richteten sich die Slogans gegen Repression und Polizeigewalt und forderten Gerechtigkeit und Freiheit. Daraus wurde schon wenig später und in Reaktion auf die gewaltvolle Repression der Proteste eine umfassende Forderung nach dem Sturz des Systems. In Tunesien, Bahrain, Libyen und Jemen konnte eine ähnliche Dynamik beobachtet werden: Repression führte zur Radikalisierung der Systemkritik, zur Mobilisierung von bisher Unbeteiligten und zu einer neuen Dynamik zwischen "Straße" und Regime.

Diese artikuliert sich jedoch unterschiedlich. Im Jemen war lange das Ziel, Präsident Salih durch Verhandlungen zum Rücktritt zu bewegen, um den Weg für Reformen frei zu machen. In Syrien war das Ziel der Demonstranten zu Beginn nicht, das System zu stürzen, sondern zu reformieren. In Jordanien wird die haschemitische Monarchie nicht grundsätzlich infrage gestellt. In Algerien sind gewaltvolle lokale Proteste seit zwei Jahren eine alltägliche Erscheinung, während eine regimekritische Massenmobilisierung ausbleibt. In Marokko wurde lange die spezifische Verknüpfung von weltlicher und religiöser Führungsrolle des Königs nicht angetastet, auch wenn sich zunehmend Unzufriedenheit über seine Versuche einer kontrollierten Reform zeigen. Im Libanon steht der Konfessionalismus in der Kritik. In den palästinensischen Gebieten ging es um das Ende der Kämpfe zwischen Hamas und Fatah.

Neben "Würde" war und ist "friedlich" ein wichtiger Ruf bei den meisten Demonstrationen - ob in Syrien, Jemen oder Ägypten. Darin liegt nicht nur eine Absage an die Gewalt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit innergesellschaftlichen Gewalterfahrungen entlang konfessionalisierter oder ethnisierter Linien. Das algerische und das libanesische Trauma spielen dabei eine wichtige Rolle: 1988 erreichten ebenfalls überwiegend junge Menschen eine kurzzeitige Liberalisierung in Algerien. Sie endete mit einem Militärputsch und Bürgerkrieg, nachdem sich bei den Parlamentswahlen 1991 ein Sieg der Islamisten abzeichnete. Die bisher nicht erfolgte Aufarbeitung solcher Erfahrungen stellt eine zentrale Blockade für breitere Mobilisierung in Algerien dar, da die Menschen eine Wiederholung fürchten. Auch im Libanon, Syrien, Irak, Jordanien und Jemen ist der Rekurs auf die zurückliegenden Bürgerkriegserfahrungen zentral. Die Regimes instrumentalisieren einerseits die Ängste der Menschen, andererseits entsprechen diese Ängste durchaus der öffentlichen Meinung. Dies schränkt die Möglichkeiten der gruppenübergreifenden Mobilisierung erheblich ein. Das Stabilitätsparadigma wurde und wird durch die herrschenden Eliten regelmäßig evoziert, angeblich, um die Gesellschaften vor sich selbst zu schützen - und vor "externen Verschwörungen".

Dieser instrumentelle und strategische Rückgriff auf eine mögliche gewaltvolle Austragung ethno-religiöser Differenzen als Abwehr von legitimen Forderungen ist ambivalent. Einerseits spiegelt er die konkreten Ängste der Bevölkerung wider und weist auf objektive Spannungslinien und gesellschaftliche Spaltungen hin. Andererseits wird dieser Diskurs jedoch von der Bevölkerung auch als bewusste Strategie der Angst aufgefasst und konterkariert. Die Betonung von nationaler Einheit bei öffentlichen Protesten - in Ägypten zwischen Christen und Muslimen, in Syrien zwischen Ethnien und Religionsgruppen - deuten zudem darauf hin, dass einem Teil der Protestierenden bewusst ist, dass ethno-religiöse Gewaltdynamiken keine Automatismen sind. Im Gegenteil: Die langjährige Instrumentalisierung solcher Differenzen im Sinne von "Teile- und Herrsche-Strategien" durch die Regimes haben solche Diskurse auch delegitimiert. Historische Erfahrungen müssen sich nicht notwendigerweise wiederholen: Sie bieten immer auch die Chance politischen Lernens.

Was ist das Besondere und Überraschende an den arabischen Protesten?

  • Zeitpunkt und bisher nicht gekannte Möglichkeiten erfolgreicher übergreifender Massenmobilisierungen

  • Starke Präsenz der Jugendkoalitionen: Sie umfassen eine heterogene Gruppe von überwiegend gut ausgebildeten Menschen zwischen 15 und 40 Jahren, die den Autoritarismus des Staates und den Patriarchalismus ihrer Gesellschaften herausfordern

  • Neuartige Artikulation von politischen, sozialen und ökonomischen Zielen: Der Fokus liegt auf Würde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit

  • Neue Modi der Mobilisierung wie die Besetzung des öffentlichen Raums und die netzwerkförmige Organisierung von Koalitionen

  • Neue Ressourcen der Mobilisierung wie Mobilfunk, Blogs, soziale Netzwerke und Satellitenfernsehen

  • Unbekannte Blüte lokaler Partizipation und Mobilisierung in einigen arabischen Staaten in den vergangenen Jahren

  • Sehr unterschiedliche Reaktionen der Sicherheitsapparate und des Militärs zwischen Repression und Unterstützung der Proteste

  • Keine regionalen Domino-Effekte, sondern Differenzierung nach Kontext

  • Infragestellung westlicher Stereotypen mit Blick auf den Islam, die angebliche Demokratie- und Frauenfeindlichkeit der arabischen Welt

Nach der Revolution ist vor der Revolution

Die Mauer der Angst ist durch friedlichen Protest gefallen. Dies ist eine nicht mehr hintergehbare Erfahrung dieses Frühjahrs. Sie wird ausgehend von Ägypten und Tunesien mittelfristig weitreichende Wirkungen auf die Regimes, die Gesellschaften und die Region entfalten. Vieles wird von der Haltung der internationalen Akteure, die in der Region eine starke Rolle spielen, abhängen. Bisher haben die USA und Europa mit den Autokraten leben können. Sie galten als Garanten der Stabilität, wenngleich auch als reformbedürftige. Die Menschenrechtsverletzungen und der Mangel an Demokratie waren weder in Brüssel noch in Washington unbekannt. Jetzt sucht der Westen einen neuen Umgang mit den geostrategischen und politischen Veränderungen.

Der auch von externen Akteuren immer wieder - wenn auch halbherzig - geforderte, demokratische Wandel bietet große Chancen, aber er produziert auch Unsicherheit. Am Beispiel der höchst unterschiedlichen Reaktionen auf die Gewalt in Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien zeigt sich zugleich die alte Gemengelage aus geostrategischer Interessenswahrnehmung durch diplomatische Vermittlung. Vieles wird zudem von den innenpolitischen Entwicklungen in Tunesien und Ägypten abhängen. Dort ist der Weg in die Demokratie hoch umstritten: frühe Wahlen oder späte, erst eine Verfassungsgebende Versammlung oder eine Verfassungsreform, erst die Parlamentswahl, dann die Präsidentenwahl? Wer würde von welchem Arrangement profitieren und welche Rolle spielt die wirtschaftliche Situation der Menschen für ihre Entscheidungen? Welchen Einfluss haben die vielfältigen Diskurse der Angst und Verunsicherung? Wie stark sind die Beharrungskräfte der alten Eliten und Geheimdienste?

Doch auch jetzt sollte das Interesse nicht einseitig auf die Eliten gerichtet werden. Alle Akteurinnen und Akteure sind zentral für die Zukunft der Transformation. Weiterhin wird die Dynamik zwischen "Straße" und dem Militär in Ägypten entscheidend sein. Hier spiegelt sich der hohe Grad an Mobilisierung und Organisation während der Massenproteste auch nach dem Sturz der Diktatoren wider. Die Menschen werden sich ihre mühsam erkämpfte neue Würde, das Recht auf Teilhabe und den friedlichen Streit um die beste politische Ordnung nicht einfach wieder nehmen lassen. Darin liegt die große Hoffnung auf dem langen Weg zu "Freiheit, Würde, sozialer Gerechtigkeit".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (Hrsg.), Proteste, Revolutionen, Transformationen - die Arabische Welt im Umbruch, Berlin 2011.

  2. Vgl. Asef Bayat, Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, Amsterdam 2010; Lisa Wedeen, Ambiguities of Domination, Chicago 1999.

  3. Vgl. Cilja Harders, Staatsanalyse von unten - urbane Armut und politische Partizipation in Ägypten, Hamburg 2002.

  4. Vgl. Asef Bayat, Making Islam Democratic, Stanford 2007.

  5. Vgl. Laleh Khalili/Jilian Schwedler, Policing and Prisons in the Middle East, New York 2010.

  6. Vgl. Thomas Demmelhuber/Stephan Roll, Herrschaftssicherung in Ägypten, SWP-Studie, (2007) S 20; Ulrich Wurzel, Limits to Economic Reform in an Authoritarian State. Egypt since the 1990s, Berlin 2007.

  7. Vgl. Paul Aarts, The Middle East: a region without regionalism or the end of exceptionalism?, in: Third World Quarterly, 20 (1999) 5, S. 911-925; Paul Amar, Why Mubarak is Out, in: Jaddaliyya vom 1.2.2011.

Dr. phil., geb. 1968; Professorin und Leiterin der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients, Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin, Ihnestraße 22, 14195 Berlin. E-Mail Link: charders@zedat.fu-berlin.de