Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Im dunkelsten Belarus | Belarus | bpb.de

Belarus Editorial Im dunkelsten Belarus Belarus? Uns doch egal! Eine Polemik Lukaschenka forever? Belarussischer Autoritarismus Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen Opposition und Zivilgesellschaft in Belarus Belarus zwischen der EU und Russland: Ende der Schaukelpolitik

Im dunkelsten Belarus

Timothy Snyder

/ 15 Minuten zu lesen

Der Roman Paranoia des Belarussen Viktor Martinowitsch geht davon aus, dass man in einem Polizeistaat immer beobachtet wird. Echtes Alleinsein nährt Paranoia.

Einleitung

Im Sommer mieten sich junge Paare in der belarussischen Hauptstadt Minsk Ruderboote. Sie lassen sich scheinbar ziellos von der Strömung der Swislatsch treiben, bis sie unter eine Brücke kommen. Dort rudern sie so lange es geht gegen den Strom, um vor der Sonne und neugierigen Augen geschützt zu sein. Der auf Russisch geschriebene Roman Paranoia des belarussischen Autors Viktor Martinowitsch geht von der Prämisse aus, dass dies unmöglich ist. In einem Polizeistaat wie der belarussischen Diktatur von heute, der immer größere Kontrolle anstrebt, wird man immer beobachtet. Die jungen Liebenden beobachten einander, egal ob sie es merken oder nicht. Der einzige Weg, in einer solchen Gesellschaft ganz sicher zu sein, ist das Aufgeben der Liebe, aber echtes Alleinsein nährt Paranoia.

Zu Beginn des Romans ist der junge Schriftsteller Anatoli allein, seine geliebte Lisa ist aus ihrer Wohnung in der Karl-Marx-Straße verschwunden. Er schiebt Zettel unter ihrer Tür hindurch, wo sie vom KGB pflichtbewusst gesammelt, kopiert und interpretiert werden. Diese Polizeidokumente eröffnen den Roman und bieten dem Leser einen Blick auf den jungen Mann aus Sicht der Behörden. Dann erinnert Anatoli sich an eine Beziehung, die in ihrer Reinheit zunächst verblüffend erscheint (sein Nachname Newinski klingt wie "unschuldig"). In einem Café begrüßt ein junger Mann eine junge Frau mit der Frage: "Hast du lange gewartet?" Sie antwortet: "Mein ganzes Leben lang." Es folgt eine so leidenschaftliche Liebesaffäre, dass die beiden den Namen des anderen erst erfahren, als sie sich streiten. Die Quelle der Spannung ist Lisas anderer Geliebter: Murawjow, der Minister für Staatssicherheit, der den Staat (offensichtlich Belarus) kontrolliert, alle wichtigen Ämter innehat und Menschen verschwinden lassen kann.

Murawjow, nicht nur Diktator, sondern auch Pianist, ist weniger Big Brother als Big Lover; in Paranoia werden Konventionen der Menage à trois kunstvoll mit denen der Antiutopie kombiniert. Lisa scheint schwanger zu sein. Wer ist der Vater? Anscheinend deutet sie gegenüber beiden Männern an, sie könnten es sein. Lisa scheint ermordet worden zu sein. Wer ist der Täter? Murawjow behauptet, es nicht zu wissen, doch das wirkt unglaubhaft, und er würde so etwas auch kaum zugeben. Zunächst sucht Anatoli nach Lisa und konfrontiert Murawjow, aber im Verhör gesteht er den Mord. Hat sein Geständnis irgendeine Beziehung zu dem, was wirklich geschah? Oder hilft Anatoli dadurch dem Regime, dessen neuesten Mord zu vertuschen? Sind er und Murawjow in irgendeiner Weise Komplizen?

Der 1977 geborene Martinowitsch wurde unter der Diktatur erwachsen, die Aljaksandr Lukaschenka seit 1994 im postsowjetischen Belarus errichtet hat. Im Roman erneuert er einige Hauptthemen der klassischen osteuropäischen Dissidentenliteratur. Das System sind nicht nur die Herrscher, es sind auch die Beherrschten. Selbstkontrolle ist wichtiger als Kontrolle; Liebende verraten einander wissentlich oder unwissentlich; wir alle verraten letztlich uns selbst. In Anatoli zeichnet Martinowitsch einen Schriftsteller, der zwar die Ästhetik des Totalitarismus kritisiert, aber von dessen Macht angezogen ist. Anatoli scheint zu begehren, was Murawjow besitzt. Er beschreibt ausführlich den Latte macchiato, den Lisa trinkt, das Produkt eines Lebensstils, der nur innerhalb des Systems möglich ist. Er ist von ihrem schwarzen Wagen mit den KGB-Nummernschildern zugleich abgestoßen und fasziniert. Anatoli begegnet dem Staat im attraktiven Medium des Körpers einer jungen Frau oder der würdigen Plattform der Hochkultur. Am Schluss tritt Anatoli Murawjow gegenüber, nachdem der Minister für Staatssicherheit Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 gespielt hat.

Ähnlichkeiten und Anspielungen

Das Belarus des Romans ähnelt sehr stark der Diktatur Lukaschenkas. Belarus ist ein mittelgroßer osteuropäischer Staat, der im Westen an Polen, im Osten an Russland, im Norden an Litauen und Lettland und im Süden an die Ukraine grenzt. Ein halbes Jahrtausend lang war er das Zentrum des mittelalterlichen Großfürstentums Litauen, dann der polnisch-litauischen Adelsrepublik und wurde im späten 18. Jahrhundert eine Grenzregion des Russischen Reichs. Weil das gesamte heutige Belarus im 19. Jahrhundert von den Zaren beherrscht wurde, war die Entwicklung einer Nationalbewegung schwierig. Die Hauptreligion des Landes war zunächst die Unierte Kirche, die dem orthodoxen Ritus folgte, aber dem Vatikan unterstellt war. Sie wurde dann mit der russisch-orthodoxen Kirche vereinigt. Die belarussische Sprache ähnelt sowohl dem Russischen als auch dem Polnischen, daher strebten lokale Eliten den sozialen Aufstieg durch die Übernahme einer dieser beiden Sprachen an.

Die Nationalbewegung fand Anfang des 20. Jahrhunderts Anhänger, aber eine kurzlebige Belarussische Volksrepublik wurde bald von der Sowjetunion absorbiert. Die sowjetische Führung ermunterte zunächst die belarussische Kultur, bis Stalin fast alle wichtigen belarussischen Autoren im Großen Terror ermorden ließ. Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten Sowjetpartisanen belarussische Lehrer als Kollaborateure mit den Deutschen. Die Juden des Landes sprachen meist Belarussisch, und auch einer der ersten großen Nationalaktivisten war Jude. Die deutschen Massenerschießungen von Juden während des Krieges brachten diese Gruppe fast zum Verschwinden. In den Jahren nach dem Krieg gab es nur eine Synagoge in einem Land, das einmal ein Zentrum jüdischen Lebens gewesen war.

Nach dem sowjetischen Sieg wurde Belarus auf Kosten Polens nach Westen erweitert, und Zehntausende Polen und Juden wurden aus den neuen Gebieten nach Polen vertrieben. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde Minsk als sowjetische Metropole wiederaufgebaut, die russische Sprache fest verankert und Stützpunkte der Roten Armee entlang der neuen sowjetischen Westgrenze errichtet. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde Belarus ein unabhängiger Staat.

Martinowitsch gibt nur wenige und indirekte historische Anspielungen, doch sie lassen wenig Zweifel über den Schauplatz. Der Roman spielt in einer Großstadt, die in jedem Detail dem heutigen Minsk entspricht. Die Herausforderung des Regimes war offensichtlich: Der Roman verschwand nach zwei Tagen aus den Regalen.

Belarus als Reisender zu betreten oder zu verlassen bedeutet Bekanntschaft mit dem KGB. Auf dem europäischen Flughafen, von dem aus man nach Minsk fliegt, patrouilliert ein Beamter oder eine Beamtin im Abflugbereich. An einem bestimmten Punkt überprüft er oder sie den Ausweis aller Passagiere, allerdings ist nicht klar, mit welcher Befugnis. Bei der Abreise kontrolliert ein offensichtlicher KGB-Funktionär am Flughafen von Minsk erneut die Papiere, bevor man an Bord der Maschine geht. Dann geht er mit. Wahrscheinlich begleitet er einen Offiziellen auf einer Auslandsreise, denn ab einer gewissen Wichtigkeit dürfen Belarussen nicht ohne politischen Aufpasser reisen. Aber vielleicht beobachtet er auch einen selbst. Sobald man diesen Gedanken hat, ist man Teil der Welt der Paranoia, über die Martinowitsch schreibt.

Nur an Orten wie Flughäfen fällt einem der KGB auf, deshalb beginnt man nachzudenken, wer Geheimpolizist ist und wer nicht. Für Belarussen kommt die Erkenntnis fast immer zu spät, nämlich bei einer Verhaftung. Die übrigen - und sehr zahlreichen - Polizeikräfte sollen dagegen höchst sichtbar sein. Durch Tarnanzüge sollen Soldaten ungesehen kämpfen, aber wenn sie von den Einsatzkräften in Minsk getragen werden, erhöhen sie das Gefühl der Bedrohung. An Straßenecken und auf U-Bahnhöfen stehen Soldaten des Innenministeriums in Galauniformen mit Schlagstöcken oder Pistolenhalftern. Dazu kommt die allgegenwärtige uniformierte Stadtpolizei. Alle diese Sicherheitsorgane werden von Lukaschenka kontrolliert; Innenministerium und KGB unterstehen seinem Sohn Viktor. Die Offiziere tragen große Mützen, schlecht sitzende Uniformen und Aktentaschen. Die Wehrpflichtigen tragen rote Sterne an den Ärmeln, was an eine Sowjetvergangenheit erinnert, die sie nie kennengelernt haben. Sie sprechen Russisch miteinander, die dominierende Sprache des Landes und die Kommandosprache des Militärs. Etwa einer von 43 belarussischen Bürgern dient in der Armee, ein Anteil, der weit über dem von Belarus' Nachbarn und unter den höchsten in der Welt liegt. Die Existenz und lange Dauer der Wehrpflicht ist eine Form der sozialen Kontrolle. Junge Menschen, die eine Bedrohung für das Regime darstellen könnten, werden früh eingezogen und weit entfernt von zuhause stationiert.

Der öffentliche Raum von Minsk, den die Sowjetbehörden nach der Zerstörung der Stadt durch die Deutschen entwarfen, erlaubt wenig Alleinsein. Martinowitsch lässt Anatoli eine Stadt beschreiben, die für den KGB nach Maß entworfen ist, mit langen, breiten Ausfallstraßen und weit offenen Plätzen. Auf dem riesigen Unabhängigkeitsplatz im Stadtzentrum kann man nirgends sitzen. Minsk ist so sauber, dass Wien im Vergleich schmuddelig wirkt. Die Straßen werden permanent von uniformierten Reinigungskräften gefegt. Martinowitsch schmückt sein fiktives Minsk mit attraktiven Reklametafeln, auf denen Batman-ähnliche KGB-Offiziere zu sehen sind. Tatsächlich gibt es in der realen Stadt Drehplakate, die abwechselnd den Triumph der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg feiern und Frauen in Bikinis zeigen. "Sie gingen nach Hause", schreibt Martinowitsch einmal über seine Liebenden, "wohin sollten sie sonst gehen?" Im Zentrum von Minsk erstrecken sich kilometerlange Häuserblocks ohne eine einzige Sitzbank. Die Botschaft ist klar: Wenn du deine Arbeit getan hast, gehe zurück in deine Wohnung. Aber die Wohnung ist wie im Sowjetsystem, das Lukaschenka in vielerlei Hinsicht fortsetzt, keine Privatsphäre wie im Westen. Obwohl das Privateigentum gesetzlich geschützt ist, lässt sich die Eigentümerschaft jederzeit aus formalen Gründen anfechten.

Trotz der in der Verfassung verankerten Rechte ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Um irgendetwas in der Öffentlichkeit zu tun, müssen die Bürger zunächst ankündigen, was sie tun wollen, und die Organisation angeben, in deren Rahmen die Aktion stattfinden wird. Aktion und Organisation müssen vom Staat ausdrücklich anerkannt und registriert sein. Wenn die Behörden eine Organisation verschwinden lassen wollen, bedrohen sie den Besitzer des Gebäudes, in dem sie angemeldet ist, und verfolgen dann ihre Mitglieder wegen illegaler Mitgliedschaft in einer Gruppe ohne offizielle Adresse. Das Schreckgespenst der "Registrierung" ist ein Versuch, völlige soziale Kontrolle zu erlangen. Weihnachten 2009 verkündeten 15 belarussische Bürger in rotweißer Kleidung mit falschen Bärten, sie wollten "als unregistrierter Weihnachtsmannverein" Weihnachtsstimmung verbreiten. Man sagte ihnen, in diesem Fall würden sie gerichtlich belangt. Im Mai 2010 löste Einsatzpolizei eine kleine Demonstration für Schwulenrechte auf. Im Juli begingen mehrere Hundert junge Leute einen militärischen Gedenktag mit einer öffentlichen Kissenschlacht. Die Einsatzpolizei nahm mehrere Dutzend von ihnen fest. Die Kissenschlacht war als Flashmob durch elektronische Medien organisiert worden, die die Behörden noch nicht völlig unter Kontrolle haben. Doch die wenigen Internetcafés müssen ihre Kunden der Polizei melden. Nur etwa acht Prozent der Bevölkerung hat Zugang zum Internet, und nur die Regierung darf Webseiten betreiben. Wie das ganze öffentliche Leben sind die Universitäten durchdrungen von staatlichen Nichtregierungsorganisationen. Oberschüler müssen Lukaschenkas Jugendbund beitreten, wenn sie studieren wollen. Ihre Professoren müssen an ideologischen Orientierungssitzungen teilnehmen. Alle Universitäten und Schulen, einschließlich der privaten, werden vom Bildungsminister kontrolliert. Die Akademie der Wissenschaften untersteht direkt dem Präsidenten.

Martinowitschs Protagonist Anatoli sieht "Stabilität" als das Ziel des Regimes an. Neben der Beherrschung der öffentlichen Sphäre und der Isolierung der Bürger verfolgt Lukaschenka noch eine dritte Strategie, die man "Verpflanzlichung" nennen könnte. Vielleicht ähnelt seine Ideologie am ehesten der von Marschall Pétains Vichy-Regime: eine Idealisierung von Heim und Herd, ein ungleiches und erstickendes Bündnis mit einem mächtigen Nachbarn im Osten und eine ständige Frontstellung gegen Außenseiter.

Lukaschenkas ideales Belarus ist ein Agrarland: "Ich bin nicht wie andere Präsidenten. In mir steckt eine Kuh." Lukaschenka regiert ein Land, in dem die Landwirtschaft immer noch kollektiviert ist; er selbst war einmal Kolchosendirektor. Bauern sind Staatsangestellte, denen der Boden nicht gehört und die wenig Aussicht haben, ihn zu verlassen. Die Armut auf dem Land, vielleicht das wichtigste Erbteil der Sowjetära, wird als idyllisch dargestellt. Das inoffizielle Nationalmotto ist "Blühe Belarus!" Lukaschenkas Propaganda stellt das eigene Volk nicht als politisch reife Nation dar. Es ist eher eine ethnische Gruppe in Folklorekostümen aus der Sowjetzeit, die irgendwo zwischen Feldern und Vieh lebt und sich nur um ihre Ernährung und ihr Dach über dem Kopf kümmert.

Lukaschenkas Entnationalisierungskampagne ist keineswegs der Primitivismus eines Provinzlers, sondern funktioniert als schlaue Strategie der Beziehungen nach außen. Statt den individuellen Charakter des Volkes zu betonen, hat Lukaschenka seine Bürger als ideologisches Rohmaterial behandelt. Er hat gewissermaßen den Nationalstolz seines Volkes nach Russland exportiert, wo Politiker, die sich nach dem Imperium zurücksehnten, den Glauben hegten, eines Tages könnten sich beide Länder wieder vereinigen. Im Austausch gegen die Tolerierung der russischen Vorstellung, Belarus sei gar keine Nation, und den Versuch, dies unter den Belarussen selbst zu verbreiten, hat Lukaschenka billiges Erdgas aus Russland bezogen. Er hat russischen Staatschefs von Jelzin bis Medwedew mit unterwürfiger Rhetorik geschmeichelt und nennt Russland die "Mama" Belarus'. Er hat verschiedenen Formen der wirtschaftlichen Einheit mit Russland zugestimmt und außerdem die politische Vereinigung versprochen. Da er aber sicherstellte, dass keine dieser Vereinbarungen je verwirklicht wurde, ist es ihm durch russische Energiesubventionen gelungen, der Gesellschaft ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Sicherheit zu geben. Seine bis vor kurzem sehr erfolgreiche Herrschaftsstrategie gründete darauf, russische Herzen durch panslawische Rhetorik und belarussische Haushalte durch billiges Erdgas zu erwärmen.

Belarussische Geschichte

In den vergangenen fünfzehn Jahren ist den Belarussen eine Geschichte erzählt worden, die dieses seltsame Arrangement rechtfertigen soll. Während die meisten Staaten nach der Unabhängigkeit ihre Nationalgeschichte herausstellen, leugnet das Regime, dass es überhaupt viel belarussische Geschichte gibt. Lukaschenka ließ zunächst sowjetische Geschichtsbücher in den Schulen benutzen und beauftragte dann seinen früheren Geschichtslehrer Jakov Treschtschenok, ein neues Lehrbuch zu schreiben. Nach seiner Darstellung ist die politische Geschichte Belarus' weitgehend identisch mit der sowjetischen: Dank der russischen Revolution gewannen die Belarussen ein politisches Bewusstsein und entfalteten sich unter der brüderlichen Führung Moskaus. Belarussen und Russen standen gegen die deutschen Invasoren zusammen. Zum Glück wurde die sowjetische Herrschaft nach dem Krieg wiederhergestellt und nach Westen ausgedehnt, wodurch das belarussische Volk ihre Segnungen genießen konnte.

Die Belarussen sind mit ihrer jüngsten Geschichte allein, denn fast niemand außerhalb seiner Grenzen erkennt die Katastrophe der deutschen Besatzung an. Mangels anderer Darstellungen werden die Belarussen gerade durch dieses Leiden zur alten sowjetischen Version von der Erlösung durch die Befreier der Roten Armee gezogen. Etwa jeder fünfte Bewohner der belarussischen Sowjetrepublik starb während der deutschen Besatzung. Über 300000 Belarussen wurden bei deutschen Antipartisanenaktionen erschossen, und weitere Hunderttausende verhungerten in Kriegsgefangenenlagern. Die Katastrophe wurde für die sowjetische Gegenpropaganda ausgebeutet. 1940 ermordete das NKWD polnische Offiziere im westrussischen Wald von Katyn. Um Verwirrung zu stiften, wählten die Sowjetbehörden ein belarussisches Dorf mit dem ähnlichen Namen Khatyn für ein Mahnmal, das an von den Deutschen zerstörte Dörfer erinnerte. Im April 2010, als die russische Führung beschloss, die Opfer von Katyn gemeinsam mit den Polen zu ehren, erlebte Lukaschenkas Belarus einen Anfall der Eifersucht auf das Martyrium anderer. Als der polnische Präsident und 95 andere Menschen beim Flugzeugabsturz ums Leben kamen, war Lukaschenka der einzige Präsident eines Nachbarlandes, der keinen Tag der Staatstrauer erklärte. Kurz nach dem Unfall wurde in einer belarussischen Zeitung angedeutet, Polen trage irgendwie die Schuld an dem Massenmord, den Stalin in Katyn befahl.

Auch der Holocaust passt nicht in eine Geschichte der Belarussen als Opfer und Sieger. Genau wie Sowjethistoriker ermordete Juden als Sowjetbürger zählten, zählen belarussische Historiker sie nun als belarussische Bürger. Treschtschenok lehnt eine ethnische Einordnung der Opfer ab. Dies ignoriert den besonders mörderischen Charakter der NS-Besatzung für Juden. Die Belarussen litten im Krieg mehr als jedes andere Volk - bis auf die Juden. Heutzutage werden jüdische Altstädte und Synagogen abgerissen. 2009 wurde eine Abwasserleitung durch einen jüdischen Friedhof gegraben und zerstörte dabei Gräber. Lukaschenka nennt sich einen "orthodoxen Atheisten", und seine Ideologen stellen Belarus als Teil der Zivilisation der Ostkirche dar. Die Lehrbücher sagen wenig über Katholiken und noch weniger über Juden. Belarussische Historiker können diese wesentlich sowjetischen Positionen im Land selbst nicht kritisieren. Eine Dissertation über das Alltagsleben in der Belarussischen Sowjetrepublik zwischen 1944 und 1953 wurde 2009 abgelehnt (ebenfalls von Treschtschenok), weil sie Russland nicht als "Hebamme" Belarus' darstellte.

In Wirklichkeit hat Belarus eine lange und faszinierende Geschichte. Jahrhundertelang war das Land die Heimat von orthodoxen und katholischen Christen, Juden und Muslimen. Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz wurde im heutigen Belarus geboren, das er Litauen nannte, in einer Stadt voller Juden, nicht weit von einer Moschee. Das Gebiet des heutigen Belarus lag im Herzen des Großfürstentums Litauen. Örtliche Bojaren saßen im Parlament der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die das Großfürstentum im 16. Jahrhundert mit Polen errichtete. Staatssprache war eine dem Belarussischen ähnliche slawische Sprache. Bis zur Moderne unterschied sich die belarussische Geschichte stark von der russischen. In einem Lehrbuch für die Oberschule, das Treschtschenok auf Russisch schrieb, werden die Institutionen eines halben Jahrtausends als fremdländisch beschrieben, die Vereinigung mit Russland dagegen als schicksalhaft. Das zeigt sich deutlich an seiner Behandlung des Aufstands von 1863/64, bei dem Adlige und Bauern gegen das Zarenreich kämpften. Das Lehrbuch stellt nicht die belarussischen Rebellen heraus, sondern feiert den russischen General, der sie hängen ließ.

In Paranoia bezieht sich Martinowitsch meist stärker auf die aktuelle westliche Kultur als auf die Geschichte, beispielsweise spielt er auf den Film "Matrix" an. Paranoia zeigt die Hohlheit des belarussischen Staatssozialismus, der sich mit der kreditfinanzierten Atmosphäre westlicher Konsumkultur dekoriert. Man kann auf der Friedrich Engels-Straße einen Big Mac essen. Man kann die einheimische Belo-Cola aus rotweißen Flaschen mit vertrauter Schrift trinken, aber auch Coca-Cola-Reklame in der U-Bahn hören.

Während des Kalten Kriegs boten die USA kommunistischen Regimen Schuldenerlass im Austausch gegen die Freilassung politischer Gefangener oder Reformversprechen. Heute schuldet Belarus nicht nur westlichen Ländern und internationalen Organisationen Geld, sondern auch Russland und China.

Wahrscheinlich wird sich das System verändern, wenn die russische Führung beschließt, es sei Zeit, den Nachschub an billigem Erdgas zu stoppen. Das könnte schon bald der Fall sein. Im Juli 2010 brachte ein großer russischer Fernsehsender eine Dokumentation über Lukaschenka mit dem Titel "Der Pate". Seine wichtigste These war, dass ein Mordkommando der belarussischen Regierung hinter dem Verschwinden von fünf Bürgern steckte, die als Lukaschenka-Gegner galten. Die Sendung sprach auch die delikate Frage von Lukaschenkas unehelichem Sohn Kolja an. Der Sender NTV gehört dem Erdgaskonzern Gazprom, an dem die russische Regierung 50,1 Prozent der Anteile hält.

Am 19. Dezember 2010 trat Lukaschenka zum vierten Mal mit "Erfolg" bei Präsidentschaftswahlen an. Er darf so oft kandidieren, wie er will; er hat selbst zugegeben, dass seine Regierung die Ergebnisse fälscht. Er hat angedeutet, dass er solange an der Macht bleiben will, bis Kolja bereit ist, sein Nachfolger zu werden. Moskau scheint indes andere Vorstellungen zu haben. In einem Moment, wo Dmitri Medwedew und Barack Obama im Interesse der bilateralen Beziehungen zu Kompromissen bereit scheinen, ist es theoretisch denkbar, dass Russland sich den USA und der EU darin anschließen könnte, freie Wahlen in Belarus zu unterstützen. Wenn Beobachter von außen wollen, dass Wahlen frei und fair sind, müssen sie darauf bestehen, an der Stimmenauszählung teilzunehmen.

Das soll nicht heißen, es gebe keine Opposition; vielmehr ist es in Belarus unmöglich, dass Bürger an Aktivitäten wie der Stimmenauszählung teilnehmen. Lukaschenka hat das Land so dominiert, dass er Präsidentschaftswahlen wohl auch gewinnen könnte, wenn sie frei und fair wären. Doch wenn internationale Aufsicht die theoretische Chance einer Niederlage eröffnen würde, müsste er zumindest Wahlkampf führen. Das könnte Diskussionen darüber anstoßen, welche Gesellschaft Belarus im 21. Jahrhundert sein soll.

Gekürzte Fassung eines Beitrages, der am 28. Oktober 2010 in The New York Review of Books erschienen ist. Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Martin Richter, Berlin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Viktor Martinowitsch, Paranoia, St. Petersburg 2010.

  2. Im Roman heißt die Institution "Ministerium für Staatssicherheit". Der Einfachheit halber benutze ich den vertrauten Ausdruck KGB, die russische Abkürzung für "Komitee für Staatssicherheit", die auch heute in Belarus gebräuchlich ist.

  3. Vgl. z.B. Václav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1980.

  4. Gute Analysen liefern Kamil Kysinsky und Agata Wierzbowska-Miazga, Changes in the Political Elite, Economy, and Society of Belarus, in: OSW Studies, 30 (2009), und Elena Korosteleva, Was There a Quiet Revolution? Belarus After the 2006 Presidential Election, in: Journal of Communist and Transitions Politics, 25 (2009) 2.

  5. Vgl. den Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums über Belarus vom März 2010, www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2009/eur/
    136021.htm (nicht mehr online).

  6. Komsomolskaja Prawda v Belorussii vom 21.5. 2010.

  7. Vgl. Adam Eberhardt, Gra Pozorow: Stosunki rosyjsko-biaoruskie 1991-2008, Warschau 2009.

  8. Ich behandle auch die deutsche Besatzung in meinem Buch Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011 (i.E.).

  9. Die beste Darstellung der mörderischen deutschen Besatzung ist Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.

  10. Vgl. Vadim Elfimov, O dvukh storonakh medaly, in: 7 Dnei vom 29.5.2010.

  11. Vgl. Hienad Sahanowicz, Losy biaoruskiej historiografii: od sowietyzacja do zachodniorusizmu nowego typu, in: Studia Biaorutenistyczne vom 3.11.2009. Eine wertvolle Dissertation über die Westausdehnung der belarussischen Sowjetrepublik: Jan Szumski, Sowietyzacja zachodniej Biaorusi, 1944-1953, Krakau 2010.

  12. Die Probleme der modernen belarussischen nationalen Identität sind ein Hauptthema meines Buchs The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999, New Haven, CT 2003.

B.A., D. Phil., geb. 1969; Professor of History, Yale University, New Haven, CT/USA. E-Mail Link: timothy.snyder@yale.edu