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Organspende und Selbstbestimmung Editorial Wie tot sind Hirntote? Alte Frage - neue Antworten Organspende - tödliches Dilemma oder ethische Pflicht? - Essay Transplantationsmedizin zwischen Fortschritt und Organknappheit. Geschichte und aktuelle Fragen der Organspende Mein Körper - mein Eigentum? Kann ein regulierter Organmarkt den Organmangel beheben - und zu welchem Preis? Tierorgane und Gewebezüchtung als Alternativen zum Spenderorgan? Zum Wandel im Umgang mit der menschlichen Leiche: Hinweise und Erklärungsversuche

Wie tot sind Hirntote? Alte Frage - neue Antworten

Sabine Müller

/ 17 Minuten zu lesen

Neue Erkenntnisse widerlegen die bisherige Begründung für die Gleichsetzung von Hirntod und Tod. Diskutiert werden die Abschaffung der Tote-Spender-Regel oder ein Verbot von Organentnahmen aus hirntoten Patienten.

Einleitung

Vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes. Nach einem länger dauernden Kreislaufstillstand ist kein integriertes Funktionieren der kritischen Systeme des Organismus mehr möglich, und es setzt eine unaufhaltsame Desintegration aller Teilsysteme, einschließlich des Gehirns, bis zum Zerfall des Organismus ein. Während das Herz unabhängig vom Gehirn schlägt, bedarf die Atmung der kontinuierlichen Steuerung durch das Atemzentrum im Hirnstamm. Fällt dieses durch einen Hirnstamminfarkt oder ein Schädelhirntrauma aus, versagt die eigenständige Atmung. Durch Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage kann der drohende Kreislaufstillstand aufgehalten werden; mit Hilfe einer Herz-Lungen-Maschine kann der Kreislauf auch langfristig stabilisiert werden.

Nach einem Hirnstamminfarkt oder -trauma sind meist neben dem Atemzentrum auch weitere Funktionen des Hirnstamms betroffen, insbesondere solche, die für die Steuerung von Reflexen und absichtlichen Bewegungen notwendig sind. Aber sofern unter anderem die Hirnrinde (Kortex) noch funktioniert, kann der Patient noch bei Bewusstsein sein; dieser Zustand wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet. Wenn in diesem Zustand außerdem das Bewusstsein fehlt und dieses Fehlen als dauerhaft eingeschätzt wird, wird angenommen, dass der Patient hirntot ist.

Der Begriff des Hirntods ist aufgrund der Möglichkeit des zeitlichen Auseinanderfallens von Herzversagen und Gehirnversagen durch die Herz-Lungen-Maschine geprägt worden. Ob ein vollständig gelähmter Patient bei Bewusstsein ist, ist schwer festzustellen. Die meisten Locked-in-Patienten können noch ihre Augen in vertikaler Richtung bewegen, da diese Bewegung von Nervenzellen gesteuert wird, die oberhalb des durch Hirnstamminfarkt betroffenen Gebiets liegen. Beim Super-Locked-in-Syndrom ist auch die vertikale Augenbewegung nicht mehr möglich, so dass alle klinischen Merkmale der Bewusstlosigkeit vorliegen. Dieses Syndrom ist nur mit funktioneller Bildgebung oder elektrophysiologischen Messungen vom Hirntod unterscheidbar.

Die "neurologische" Todesdefinition wurde 1968 vorgeschlagen. Anlass war die Verurteilung eines Arztes in Japan, der einem hirntoten Patienten Organe zur Transplantation entnommen hatte, wegen Mordes. Dadurch war das Problem der Rechtssicherheit in der Organbeschaffung akut geworden. Das daraufhin gegründete Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death schlug vor, das "irreversible Koma" als neues Todeskriterium zu definieren. Als dessen Merkmale wurden festgelegt: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm (EEG). Das Komitee hielt diese neue Todesdefinition aus zwei Gründen für notwendig: Erstens sei die Belastung durch nicht mehr zu rettende, künstlich beatmete Patienten sehr hoch, sowohl für die Patienten als auch für deren Angehörige und die Krankenhäuser; zweitens führten obsolete Kriterien für die Todesdefinition zu einer Kontroverse über die Beschaffung von Transplantationsorganen. Inzwischen wurde der vom Harvard Committee definierte Begriff des irreversiblen Komas durch den Begriff des Hirntods ersetzt. Unter irreversiblem Koma wird heutzutage ein Koma verstanden, das bei traumatischer Ursache (wie einer Schädel-Hirn-Verletzung) länger als ein Jahr, bei nichttraumatischer Ursache (wie einer Vergiftung) länger als drei Monate dauert. Komapatienten sind tief bewusstlos, können aber selbstständig atmen und zeigen Reflexe und gewisse Bewegungen. Die Ursache ist meist eine Schädigung des Kortex. Heute gilt in den meisten europäischen Ländern der Hirntod als Kriterium für die legale Organentnahme - mit Ausnahme von Großbritannien: Dort gilt die Hirnstammtod-Definition. Ein Patient mit Super-Locked-in-Syndrom gilt dort also als tot, obwohl er noch bei Bewusstsein sein kann.

Kritik am Hirntodkriterium

Kritiker der Gleichsetzung von Tod und Hirntod wie der Philosoph und Nobelpreisträger Hans Jonas halten am klassischen Todeskonzept fest. Sie plädieren dafür, den Komapatienten oder den Hirntoten im Zweifel so zu behandeln, als sei er noch auf der Seite des Lebens, da wir die exakte Grenze zwischen Leben und Tod nicht kennen, und der Mensch nicht von seinem Körper zu trennen oder im Gehirn zu lokalisieren sei. Jonas warnt davor, das Hirntodkriterium in den Dienst der Organbeschaffung zu stellen. Der Therapieabbruch bei hirntoten Patienten sei nur dann gerechtfertigt, wenn er dem Interesse des Patienten selbst diene, aber nicht für fremdnützige Zwecke. Auch Gehirnforscher und andere Wissenschaftler stellten fest, dass die Gleichsetzung von Hirntod und Tod aus physiologischer Sicht unhaltbar sei und veröffentlichten 1995 eine Erklärung für ein verfassungsgemäßes Transplantationsgesetz und gegen die Gleichsetzung hirntoter Patienten mit Leichen.

Dagegen vertreten einige Bioethiker eine Kortextod-Definition, bei der sie zwischen der Person und dem Organismus unterscheiden. Dieser Ansicht nach gibt es zwei Arten von Tod: der Tod des Organismus, der mit dem Tod des Hirnstamms einsetzt, da dieser das integrierte Funktionieren des gesamten Organismus gewährleiste, sowie der Tod der Person, der mit dem Tod des Kortex einsetzt, da dieser Bewusstsein und mentale Aktivität hervorbringe. Individuen im dauerhaften Koma sollten als Organspender verwendet werden; da sie keine Personen mehr seien, sei ihre Tötung nicht verwerflicher als das Töten einer Pflanze.

Einige künstlich beatmete Hirntote zeigen noch eine körperliche Integration: Sie halten ihre Homöostase (Selbstregulierung) durch zahlreiche (endokrine und kardiovaskuläre) Funktionen aufrecht, regulieren selbstständig ihre Körpertemperatur, bekämpfen Infektionen (etwa durch Fieber) und Verletzungen, reagieren auf Schmerzreize mit Blutdruckanstieg, produzieren Exkremente und scheiden diese aus. Hirntote Kinder wachsen und können sogar ihre Geschlechtsentwicklung fortsetzen. Hirntote Schwangere können die Schwangerschaft über Monate aufrechterhalten und von gesunden Kindern entbunden werden; so wurden bis 2003 zehn erfolgreiche Schwangerschaften von Hirntoten dokumentiert. Die Annahme, dass nach dem Hirntod unmittelbar und notwendig der Herzstillstand und die körperliche Desintegration eintreten, ist durch etwa 175 dokumentierte Fälle (bis 1998) widerlegt worden, in denen zwischen Hirntod und Herzstillstand mindestens eine Woche und bis zu 14 Jahre lagen. Durch die Fälle "chronischen Hirntods" wird die Hypothese der engen kausalen und zeitlichen Relation von Hirntod und Tod des gesamten Organismus widerlegt.

Hirntoddiagnostik

Laut deutschem Transplantationsgesetz (TPG) dürfen lebenswichtige Organe nur von Toten entnommen werden. Wie der Philosoph Ralf Stoecker bemerkt, ist die entscheidende Frage unbeantwortet geblieben, nämlich ob hirntote Menschen auch tatsächlich tot sind. Kaschiert worden sei dieser Umstand dadurch, dass die Bundesärztekammer die Deutungshoheit an sich gezogen und konstatiert habe, dass "mit dem Hirntod naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt" sei. De facto gilt seitdem der Hirntod (definiert als Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm) als Kriterium für eine legale Organentnahme. Die Methoden zur Diagnose dieser Ausfälle waren vom Gesetzgeber "dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft" (Paragraf 3 TPG) anheim gestellt worden, der von der Bundesärztekammer festzustellen und in Richtlinien zur Feststellung des Todes umzusetzen war.

Die Bundesärztekammer hat 1998 den folgenden Ablauf für die Feststellung des Hirntodes vorgeschrieben: Im ersten Schritt ist zu prüfen, welche Art von Hirnschädigung vorliegt. Dabei sind bestimmte Befunde, deren Symptome denen des Hirntods ähneln, aber reversibel sind, auszuschließen (wie Intoxikation, Relaxation, metabolisches Koma, Hypothermie, Hypovolämie, postinfektiöse Polyneuritis). Im zweiten Schritt muss festgestellt werden, dass Koma (im Sinne einer tiefen Bewusstseinsstörung), Areflexie (Regungs- und Reflexlosigkeit) und Atemstillstand vorliegen. Im dritten Schritt ist die Irreversibilität der Hirnschädigung festzustellen. Apparative Diagnostik ist dafür nur bei Kindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr sowie bei primärer Schädigung in der hinteren Schädelgrube zwingend vorgeschrieben. Andernfalls reicht eine Beobachtungszeit von 12 bis 72 Stunden (je nach Art der Hirnschädigung). Die Bundesärztekammer legt explizit fest: "Der Hirntod kann in jeder Intensivstation auch ohne ergänzende apparative Diagnostik festgestellt werden."

Die von der Bundesärztekammer vorgeschriebene Diagnostik erfasst nur Teilbereiche des Gehirns: Bei Patienten, für die keine apparative Diagnostik vorgeschrieben ist, müssen nur Hirnstammfunktionen untersucht werden. Die Funktionen des Kortex sowie des Klein- und Mittelhirns werden dabei nicht untersucht. Denn ein Koma ist kein hinreichendes Symptom zur Diagnose einer Schädigung des Kortex; auch Störungen des retikulären aktivierenden Systems (RAS) im Hirnstamm können ein Koma verursachen. In Zweifelsfällen kann zusätzlich apparative Diagnostik eingesetzt werden, beispielsweise wenn die Ursache der Gehirnschädigung nicht bekannt oder die klinische Untersuchung nicht vollständig möglich ist. Dazu kommen verschiedene Verfahren infrage, die entweder den Blutfluss im Gehirn oder die elektrische Hirnaktivität messen wie ein EEG.

Die klinische und die apparative Hirntoddiagnostik führen häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen; nach einer Studie der Universitätsklinik Newark sogar in elf Prozent der Fälle. Denn zum einen sind die Methoden unterschiedlich empfindlich, zum anderen können klinisch nur Hirnstammfunktionen erfasst werden, während einige apparative Diagnosemethoden das ganze Gehirn untersuchen können. Die American Academy of Neurology hat 2010 der von ihr selbst 1995 vorgeschriebenen Hirntoddiagnostik eine fehlende wissenschaftliche Fundierung bescheinigt: Es gebe weder ausreichende wissenschaftliche Nachweise für die richtige Beobachtungszeit, um die Unumkehrbarkeit des Hirntodes festzustellen, noch für die Zuverlässigkeit der verschiedenen Atemstillstandstests und der verschiedenen apparativen Verfahren. Weitere Forschung sei notwendig.

Es bestehen zahlreiche Unterschiede zwischen den Richtlinien zur Hirntoddiagnostik verschiedener Staaten. Diese betreffen vor allem Grenzwerte für die diagnostischen Tests (wie zum Pupillenreflex, zum Atemstillstand und zur Kerntemperatur) sowie Bestimmungen, unter welchen Bedingungen apparative Diagnostik eingesetzt werden muss. Während in vielen Staaten (wie in Norwegen, Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Mexiko und Argentinien) apparative Zusatzdiagnostik vorgeschrieben ist, gilt das in Deutschland nur in den oben genannten Spezialfällen.

Reaktionen von hirntoten Patienten bei der Organentnahme

Eine Untersuchung von Hans-Joachim Gramm et al. hat gezeigt, dass bei zwei von 30 als hirntot diagnostizierten Organspendern die Konzentrationen der Botenstoffe Noradrenalin, Dopamin und Adrenalin sowie Blutdruck und Herzfrequenz bei der Organentnahme sprunghaft anstiegen. Ob es sich dabei um Rückenmarksreflexaktivität handelte, wie die Autoren vermuten, oder um Schmerzreaktionen, ist unklar. Vor diesem Hintergrund wurde bereits im Jahr 2000 eine Vollnarkose für hirnstammtote Organspender gefordert, allein schon um das Unbehagen für das Operationspersonal zu reduzieren. Schmerz- und Beruhigungsmittel seien neben Arzneimitteln zur Entspannung der Muskeln notwendig, da bei hirnstammtoten Patienten häufig noch höhere Hirn- und Rückenmarksfunktionen feststellbar seien, und da dramatische Veränderungen des Blutflusses während der Operationen auftreten könnten. In der Schweiz ist Vollnarkose für hirntote Patienten zur Organentnahme vorgeschrieben - in Deutschland nicht. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation hält eine Narkose für "überflüssig", schreibt aber vor, dass "der Organspender zur Optimierung der chirurgischen Tätigkeit sowie zur Vermeidung dieser spinalen Reflexe relaxiert und ein Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg durch entsprechende Medikamente (z.B. Opiate) behandelt" wird.

Wie häufig Fehldiagnosen des Todes sind, ist unbekannt; sie werden selbstverständlich nicht in Fachzeitschriften publiziert. Allerdings wurden einige Fälle von "Hirntod-Mimikry" hochrangig publiziert. Deren Ursachen waren Pestizidvergiftung, eine Baclofen-Überdosis (Wirkstoff zur Muskelentspannung) beziehungsweise ein fulminantes Guillain-Barré-Syndrom (neurologische Erkrankung mit vollständiger Lähmung). Letzteres ist vor allem bei vorangehender Kopfverletzung mit dem Hirntod zu verwechseln, weil diese irrtümlicherweise für die Ursache der hirntodartigen Symptome gehalten werden kann. In diesen Fällen hatten die Ärzte die lebenserhaltenden Maßnahmen fortgesetzt, obwohl die klinische Diagnostik für den Hirntod sprach. Alle beschriebenen Patienten wurden wieder gesund. Die Autoren dieser Studien warnen vor Fehldiagnosen des Hirntodes in ähnlichen Fällen.

Trilemma in der aktuellen Debatte über den Hirntod

Die aktuelle Debatte über den Hirntod wird in renommierten medizinischen, ethischen und juristischen Fachzeitschriften geführt. Der President's Council on Bioethics (das US-amerikanische Pendant zum Deutschen Ethikrat) hat im Dezember 2008 das Grundlagenpapier Controversies in the Determination of Death publiziert. Darin konstatiert er, dass der anhaltende Dissens zum Hirntodkriterium sowie neue empirische Ergebnisse zum integrierten Funktionieren des Körpers von Hirntoten eine erneute Debatte über den Hirntod erforderten. Der Rat räumt ein, dass das integrierte Funktionieren des Körpers nicht unbedingt kurz nach Eintritt des Hirntodes aufhört - die Annahme des engen zeitlichen und kausalen Zusammenhangs war bisher das Hauptargument für die Gleichsetzung von Hirntod und Tod.

Dieses Argument ist nach Auffassung des Rates nicht mehr aufrechtzuhalten. Das Gehirn sei nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen; vielmehr sei die Integration eine emergente Eigenschaft des ganzen Organismus. Der Rat räumt auch ein, dass die Behauptung, kurz nach dem Hirntod trete unweigerlich der Tod ein, kaum überprüft und sogar eine selbsterfüllende Prophezeiung sei: Patienten mit der Diagnose Hirntod würden entweder Organspender oder ihre künstliche Beatmung würde abgestellt.

Es werden drei Optionen als mögliche Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass sich die Gleichsetzung von Tod und Hirntod naturwissenschaftlich nicht aufrechterhalten lässt, diskutiert: (1) eine neue Rechtfertigung der Gleichsetzung von Hirntod und Tod, (2) die Abschaffung der Tote-Spender-Regel, (3) der Verzicht auf Organentnahmen aus hirntoten Patienten. Der Rat selbst lehnte die zweite und die dritte Option ab: die zweite weil dadurch Qualität und Quantität des Organangebots reduziert würden, und die dritte wegen ethischer und rechtlicher Bedenken. Die Mehrheit des Rates entschied sich daher für die erste Option.

1. Option: Neudefinition von Leben und Tod:

Um am Hirntodkriterium festhalten zu können, hat der Rat eine neue "philosophische" Definition des lebenden Organismus formuliert. Danach wird als notwendiges Kriterium für das Leben eines Organismus die Arbeit der Selbsterhaltung durch Auseinandersetzung mit der Umwelt bestimmt. Diese setze drei fundamentale Fähigkeiten voraus: (1) Offenheit für die Welt, (2) die Fähigkeit, auf die Welt einzuwirken, und (3) die gefühlte Notwendigkeit, die zum Handeln antreibt, um zu erlangen, was man braucht und als verfügbar erkennt. Diese Fähigkeiten zeigten sich in Anzeichen von Bewusstsein oder Wachheit, in Schmerzreaktionen und im spontanen Atmen. Dies entspricht genau den Kriterien des Hirntod-Konzepts.

Der philosophische Kunstgriff einer Neudefinition des Lebens, die deutlich vom Lebensbegriff der Biologie abweicht (und nach der Embryonen nicht leben), ist ein Zugeständnis einerseits an das Tötungsverbot, andererseits an die Transplantationsmedizin. Dies drängt den Eindruck einer interessengeleiteten Ethik auf, die überdies das wissenschaftliche Prinzip der Falsifizierbarkeit missachtet. Der Bioethiker Franklin G. Miller und der Kinderintensivmediziner Robert T. Truog sehen in der Stellungnahme des Rates einen (verständlichen) Versuch, sich durchzumogeln. Truog konstatiert, dass der medizinische Berufsstand für das Hirntodkriterium den Preis der Selbsttäuschung zahlen musste, um die Vorteile der Organtransplantation nicht zu gefährden. Auch andere Bioethiker wie Seema Shah bezeichnen die Gleichsetzung von Tod und Hirntod als "legale Fiktion": Es sei unwahrscheinlich, dass die heftige Kontroverse über die Todesbestimmung in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur lange geheim gehalten werden kann. Sie plädieren daher für die zweite Option, also die Abschaffung der Tote-Spender-Regelung.

2. Option: Abschaffung der Tote-Spender-Regel:

Dieter Birnbacher, Philosoph und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, stellt fest, dass "der Hirntod als Kriterium des organismischen Todes klarerweise ungeeignet" ist. "Bei der Explantation von Organen von Hirntoten werden (...) diese Organe einem lebenden menschlichen Individuum entnommen." Statt Hirntote entgegen der empirischen Evidenzen für tot zu erklären, fordert Birnbacher, die Tote-Spender-Regel aufzugeben, das heißt die Vorschrift, dass nur aus Toten lebensnotwendige Organe entnommen werden dürfen. Dennoch plädiert Birnbacher für die Beibehaltung des Hirntodkriteriums: In ethischer Hinsicht habe das bewusste Leben einen höheren Wert und eine höhere Schutzwürdigkeit als das unbewusste. Das Hirntodkriterium sei geeignet, den Bewusstseinstod festzustellen und daher pragmatisch gerechtfertigt, um den Zeitpunkt für einen Behandlungsabbruch und gegebenenfalls eine Organexplantation zu bestimmen.

Allerdings ist in der Ethik die Abstufung der Schutzwürdigkeit von Lebewesen aufgrund wertbegründender Eigenschaften wie Bewusstsein eins der am erbittertsten umkämpften Prinzipien. Daher fordern auch mehrere Bioethiker und Mediziner das Eingeständnis, dass Hirntote noch leben - und die Abschaffung der Tote-Spender-Regel, damit weiterhin Organe aus hirntoten Patienten entnommen werden können. Hintergrund ist, dass die Explantation lebensnotwendiger Organe aus einem lebenden Menschen juristisch als Totschlag oder auch als Mord gilt. Sie ist weder mit dem deutschen Strafrecht noch mit der ärztlichen Standesethik kompatibel. Wenn hirntote Patienten als lebend anerkannt würden und dennoch die zum Tod führende Organentnahme aus ihnen legalisiert werden sollte, bedürfte dies einer höchstrichterlichen Entscheidung - und einer ethischen und gesellschaftlichen Debatte.

Ob eine Aufweichung des Tötungsverbots bei ausdrücklicher Zustimmung des Patienten ethisch akzeptabel und rechtlich möglich ist, ist eine schwierige Frage. Je nachdem wie eine gesetzliche Regelung hierzu konkret ausgestaltet würde, könnte diese implizieren, dass auch das Verbot aktiver Sterbehilfe fallen müsste. Allerdings bestehen zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Tötung eines hirntoten Patienten durch Organentnahme und der aktiven Sterbehilfe: Im ersten Fall wird keine Hilfe zum oder beim Sterben geleistet, sondern das Sterben verlängert und erschwert. Das Leben wird also verlängert, wenn auch nicht zum Wohl des Patienten, während es durch aktive Sterbehilfe verkürzt wird. Damit entfällt ein wichtiger Grund, warum eine Tötung ein Unrecht darstellt. Wenn die Organentnahme auf ausdrücklichen Wunsch des sterbenden Patienten geschieht, wird seine Autonomie respektiert; damit entfällt ein weiterer wichtiger Unrechtsgrund. Wären die einzigen Unrechtsgründe der Tötung eines Menschen, dass dadurch dessen Recht auf Selbstbestimmung missachtet und ihm Lebenszeit weggenommen wird, dann wäre eine Tötung durch Organentnahme mit Zustimmung des Patienten kein Unrecht.

Wenn die Tote-Spender-Regel für Organentnahmen aus Hirntoten aufgegeben werden soll, aber die zentralen medizinethischen Prinzipien des Respekts vor der Patientenautonomie und des Nichtschadens beachtet werden sollen, müssten für jeden Einzelfall folgende Fragen streng geprüft werden: Hat der Patient tatsächlich zur Organentnahme im Falle eines Hirntodes eingewilligt? Leidet er nicht bei der Explantation? Dazu wären folgende Veränderungen gegenüber der gegenwärtigen Praxis erforderlich: Die Organentnahme aus hirntoten Patienten wäre nur dann legitim, wenn der Patient rechtsverbindlich zur Organentnahme im Falle eines Hirntodes zugestimmt hat.

Das setzt sein informiertes Einverständnis zur Prozedur der Hirntoddiagnostik und der Organentnahme voraus. Die Zustimmung zur Organentnahme "nach der ärztlichen Feststellung des Todes", wie es in den heute in Deutschland üblichen Organspendeausweisen heißt, ist nicht ausreichend, da diese sich auf einen allgemein geteilten Begriff des Todes bezieht, nicht auf den speziellen und umstrittenen Begriff des Hirntodes. Die Zustimmung zur Tötung darf keinesfalls durch die Einwilligung von Dritten ersetzt werden. Die erweiterte Zustimmungslösung, die derzeit in Deutschland gilt, dürfte danach nicht für Hirntote, sondern höchstens für Patienten nach irreversiblem Herzkreislaufstillstand gelten. Schließlich müsste die Organentnahme so durchgeführt werden, dass dem Patienten mit Sicherheit kein Leid zugefügt wird. Dies impliziert Vollnarkose.

3. Option: Verbot von Organentnahme aus

hirntoten Patienten:

Soll am absoluten Tötungsverbot festgehalten werden, muss die Explantation von Organen aus hirntoten Patienten verboten werden. Die Organentnahme wäre dann nur noch zu erlauben, wenn Hirntod und Herzstillstand nachgewiesen worden sind. Das hätte allerdings zur Folge, dass die "besten Organe" nicht mehr für Transplantationen zur Verfügung stünden, insbesondere keine Herzen.

Der Kardiologe David W. Evans und der Philosoph Michael Potts lehnen die Abschaffung der Tote-Spender-Regel ab. Sie sehen zum einen die Gefahr eines ethischen Dammbruchs, so dass bald auch Komapatienten zur Tötung freigegeben werden. Dammbruch-Argumente sind allerdings relativ schwache Argumente, da sie auf Spekulationen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen basieren. Ein anderes wichtiges Argument ist, dass die Tötung von Patienten durch Ärzte, selbst mit deren Einverständnis, die Arzt-Patienten-Beziehung massiv beschädigt.

Fazit

Das Argument des "Organmangels" ist keine Rechtfertigung, um billigend in Kauf zu nehmen, dass Organe aus sterbenden Patienten entnommen werden, deren Einverständnis dazu nicht gegeben ist. Da die Bewertung eines nur noch organismischen Lebens als weniger schützenswert sowohl unter Ethikern als auch in der Bevölkerung umstritten ist, sollte eine solche Wertentscheidung nicht zur Grundlage der Gesetzgebung werden, sondern der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen werden. Konkret heißt das, dass jede Bürgerin und jeder Bürger entscheiden dürfen sollte, ob sie oder er zur Organspende bereit ist oder nicht, und falls ja, ob dafür die Hirntoddiagnose ausreichen soll oder zusätzlich der Herzstillstand eingetreten sein muss.

Es sollte sicher ausgeschlossen werden, dass potenzielle Organspender gegen ihren Willen durch die Organentnahme getötet werden und dabei leiden. Daher sollten EEG, Angiographie und in ungeklärten Fällen funktionelle Bildgebung zur Sicherung der Hirntoddiagnose sowie Vollnarkose für die Entnahme gesetzlich vorgeschrieben werden. Eine Organentnahme sollte nur erlaubt sein, wenn ein schriftliches Einverständnis vorliegt. Das bedeutet, dass die derzeit in Deutschland geltende erweiterte Zustimmungslösung durch die enge Zustimmungslösung ersetzt werden sollte.

Die Kluft zwischen Organnachfrage und -angebot sollte nicht durch ethisch fragwürdige Maßnahmen zur Erhöhung des Organangebots überbrückt werden, sondern vorrangig durch Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage wie Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht, Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder Hepatitis. Die Transplantationsmedizin wird vielleicht in einigen Jahren als Brückentechnologie betrachtet werden, die gebraucht wird, bis ethisch und medizinisch bessere Lösungen - wie vollimplantierbare Kunstherzen und Organe aus dem Labor - verfügbar sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Steven Laureys, Death, unconsciousness and the brain, in: Nature Reviews Neuroscience, 6 (2005) 11, S. 901f.

  2. Vgl. Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School, A definition of irreversible coma, in: Journal of the American Medical Association, 205 (1968) 6, S. 337f.

  3. Vgl. Multi-Society Task Force of PVS, Medical aspects of the persistent vegetative state, in: New England Journal of Medicine, 330 (1994) 22, S. 1499-1508.

  4. Vgl. Royal College of Physicians Working Group, Criteria for the Diagnosis of Brain Stem Death, in: Journal of the Royal College of Physicians, 29 (1995) 5, S. 1869-1872.

  5. Vgl. Hans Jonas, Against the stream: comments on the definition and redefinition of death, in: ders. (ed.), Philosophical Essays, Chicago-London 1974, S. 132-140.

  6. Vgl. Hans-U. Gallwas et al., zit. nach: Johannes Hoff/Jürgen in der Schmitten, Wann ist der Mensch tot?, Reinbek 1995; Gerhardt Roth, "Hirntod" bzw. "Hirntodkonzept", Ausschuss für Gesundheit, 17. Sitzung vom 28.6.1995, S. 24f., online: www.transplantation-information.de/
    hirntod_transplantation/hirntod_kritik
    _dateien/hirntod_kritik.htm (1.4.2011).

  7. Vgl. Richard M. Zaner (ed.), Death. Beyond whole-brain criteria, Dordrecht 1988; Jeff McMahan, Brain death, cortical death and persistent vegetative state, in: Helga Kuhse/Peter Singer (eds.), A Companion to Bioethics, Oxford 1998.

  8. Vgl. Alan Shewmon, The brain and somatic integration, in: Journal of Medicine and Philosophy, 25 (2001) 5, S. 457-478.

  9. Vgl. David J. Powner/Ira M. Bernstein, Extended somatic support for pregnant women after brain death, in: Critical Care Medicine, 31 (2003) 4, S. 1241-1249.

  10. Vgl. D. Alan Shewmon, Chronic 'brain death', in: Neurology, 51 (1998) 6, S. 1538-1545.

  11. Vgl. Ralf Stoecker, Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland, in: Dirk Preuß/Nikolaus Knoepffler/Klaus-M. Kodalle (Hrsg), Kritisches Jahrbuch der Philosophie. Körperteile - Körper teilen, Würzburg 2009, S. 41-59.

  12. Bundesärztekammer, Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes, in: Deutsches Ärzteblatt, 95 (1998), S. A-1861.

  13. Vgl. Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz) vom 5.11.1997, neugefasst durch Bekanntmachung vom 4.9.2007 I 2206, geändert durch Artikel 3 G vom 17.7.2009 I 1990, online: http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/
    tpg/gesamt.pdf (1.4.2011).

  14. Vgl. Bundesärztekammer (Anm. 12).

  15. Ebd.

  16. Vgl. Lionel S. Zuckier/Johanna Kolano, Radionuclide studies in the determination of brain death, in: Seminars in Nuclear Medicine, 38 (2008) 4, S. 271f.

  17. Vgl. Eelco F.M. Wijdicks, The case against confirmatory test for determining brain death in adults, in: Neurology, 75 (2010) 1, S. 77-83.

  18. Vgl. L.S. Zuckier/J. Kolano (Anm. 16).

  19. Vgl. Eelco F.M. Wijdicks et al., Evidence-based guidline update: Determining brain death in adults, in: Neurology, 74 (2010), S. 1911-1918.

  20. Vgl. Leonard Baron et al., Brief review: history, concept and controversies in the neurological determination of death, in: Canadian Journal of Anaesthetics, 53 (2006) 6, S. 602-608.

  21. Vgl. Eelco F.M. Wijdicks, Brain death worldwide, in: Neurology, 58 (2002), S. 20-25.

  22. Vgl. Hans-Joachim Gramm et al., Hemodynamic responses to noxious stimuli in brain-dead organ donors, in: Intensive Care Medicine, 18 (1992) 8, S. 493ff.

  23. Vgl. P.J. Young/B.F. Matta, Anaesthesia for organ donation in the brainsteam dead - why bother? Editorial, in: Anaesthesia, 55 (2000), S. 105f.

  24. Deutsche Stiftung Organtransplantation, Organspende, S. 62, online: www.dso.de/fachinformationen/
    informationsordner/pdf/informationsordner.pdf (30.3.2011).

  25. Vgl. John V. Peter et al., In-laws, insecticide - and a mimic of brain death, in: The Lancet, 371 (2008), S. 622; Marlies E. Ostermann et al., Coma mimicking brain death following baclofen overdose, in: Intensive Care Medicine, 26 (2000), S. 1144ff.; Yael Friedman et al., Simulation of brain death from fulminant de-efferentation, in: Canadian Journal of Neurological Sciences, 30 (2003) 4, S. 397-404.

  26. Vgl. Tanya Stojkovic et al., Guillain-Barré syndrome resembling brainstem death in a patient with brain injury, in: Journal of Neurology, 248 (2001), S. 430-432; Sharon Rivas et al., Fulminant Guillain Barré syndrome after closed head injury, in: Journal of Neurosurgery, 108 (2008), S. 595-600.

  27. Vgl. President's Council on Bioethics, Controversies in the determination of death. A White Paper, Washington, D.C. 2008.

  28. Vgl. ebd., S. 57.

  29. Vgl. ebd., S. 41f., S. 55.

  30. Vgl. ebd., S. 6.

  31. Vgl. ebd., S. 60-74.

  32. Vgl. Sabine Müller, Revival der Hirntod-Debatte, in: Ethik in der Medizin, 22 (2010) 1, S. 5-17.

  33. Vgl. Franklin G. Miller/Robert D. Truog, The incoherence of determining death by neurological criteria, in: Kennedy Institute of Ethics Journal, 19 (2009) 2, S. 185-193.

  34. Vgl. Robert D. Truog, Brain death - too flawed to endure, too ingrained to abandon, in: The Journal of Law, Medicine and Ethics, 35 (2007), S. 273-281.

  35. Vgl. Seema K. Shah/Franklin G. Miller, Can We Handle the Truth? Legal Fictions in the Determination of Death, in: American Journal of Law and Medicine, 36 (2010) 4, S. 1-56.

  36. Dieter Birnbacher, Der Hirntod eine pragmatische Verteidigung, in: B. Sharon Byrd/Joachim Hruschka/Jan C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik, Berlin 2007, S. 474f.

  37. Vgl. S. K. Shah/F. G. Miller (Anm. 35); Albert Garth Thomas, Continuing the definition of death debate, in: Bioethics vom 24.3.2010, S. 1-7.

  38. Vgl. Michael Potts/David W. Evans, Does it matter that organ donors are not dead?, in: Journal of Medical Ethics, 31 (2005), S. 405-409.

  39. Vgl. hierzu den Beitrag von Ellen E. Küttel-Pritzer und Ralf R. Tönjes in dieser Ausgabe.

Dr. phil., Dipl.-Phys., geb. 1966; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie CCM, Forschungsbereich Mind and Brain, Charitéplatz 1, 10117 Berlin. E-Mail Link: mueller.sabine@charite.de