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Organspende - tödliches Dilemma oder ethische Pflicht? - Essay | Organspende und Selbstbestimmung | bpb.de

Organspende und Selbstbestimmung Editorial Wie tot sind Hirntote? Alte Frage - neue Antworten Organspende - tödliches Dilemma oder ethische Pflicht? - Essay Transplantationsmedizin zwischen Fortschritt und Organknappheit. Geschichte und aktuelle Fragen der Organspende Mein Körper - mein Eigentum? Kann ein regulierter Organmarkt den Organmangel beheben - und zu welchem Preis? Tierorgane und Gewebezüchtung als Alternativen zum Spenderorgan? Zum Wandel im Umgang mit der menschlichen Leiche: Hinweise und Erklärungsversuche

Organspende - tödliches Dilemma oder ethische Pflicht? - Essay

Anna Bergmann

/ 14 Minuten zu lesen

Bei der Transplantationsmedizin stehen sich widersprechende Ethiken gegenüber: die Lebensrettung durch Organspenden und die damit verbundenen Tabuüberschreitungen, die unsere Vorstellungen über Menschenwürde aus den Angeln heben.

Einleitung

Für die Popularisierung der "Gemeinschaftsaufgabe Organspende" wird in Deutschland ein hoher medialer und finanzieller Aufwand betrieben. Unter der Schirmherrschaft des Bundesgesundheitsministeriums wurde bereits 1979 "zur Verbreitung des Gedankens der uneigennützigen Organspende nach dem Tode" der Arbeitskreis Organspende (AKO) eingerichtet. Seit Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes 1997, mit dem die erweiterte Zustimmungslösung eine rechtliche Grundlage erhielt, bietet der AKO einen kostenlosen telefonischen Informationsservice an. Aufrufe zur Organspende liegen in Ämtern, Kirchen und Schulen sowie in Wartezimmern, Apotheken und Kliniken aus, da im Transplantationsgesetz Bundesbehörden und Krankenkassen auf eine Verbreitung der Organspendeausweise verpflichtet wurden. Mit immer neuen Kampagnen wird seit über einem Jahrzehnt die deutsche Bevölkerung mit der Organspende vertraut gemacht.

Denn trotz aufwändiger Initiativen scheint der Mangel an Organen ein chronisches Problem der Transplantationsmedizin zu sein: Zwischen dem Bedarf und dem "Organangebot" klafft eine große Lücke, die, wie der ehemalige Chefarzt der Medizinischen Klinik in Gladbeck Linus Geisler erklärte, dem System der Transplantationsmedizin selbst geschuldet ist. Zum einen erzeugt dieses System immanent einen immer größeren Bedarf an Organen - beispielsweise durch Organabstoßungen sowie Schädigungen anderer gesunder Organe von Empfängern infolge der immununterdrückenden Medikamente, was den Bedarf von weiteren Transplantaten potenziert. Zum anderen ist die Gefahr, einen Hirntod zu erleiden, sehr gering. Daher bleibt "die Illusion der 'leeren Warteliste' (...) immer eine Illusion". Aber angesichts der großen Diskrepanz zwischen den zur Verfügung stehenden Organen und dem Spenderbedarf werden kontinuierlich neue politische Konzepte zur Beseitigung dieses Dilemmas erarbeitet (Einführung der Widerspruchslösung, Äußerungspflicht zur Organspende oder Eingriffe in Krankenhausstrukturen).

Auch Ärzte haben Anstrengungen unternommen, um das Organaufkommen zu optimieren: 2008 wurde in den USA der Spenderkreis um eine vom Hirntod unabhängige Patientengruppe erweitert, die mittlerweile auch in einigen europäischen Ländern (Österreich, Schweiz, Niederlanden, Belgien, Spanien) als Organspender dient: die non heart-beating donors. Hierbei handelt es sich um Patienten mit einem Herzstillstand, der durch eine medizinische Behandlung durchaus reversibel sein kann. Dennoch wird ohne Reanimationsbemühungen mit der Organentnahme bei diesen Patienten schon zwei bis zehn Minuten nach der Todesfeststellung begonnen, wobei der Körper durch Beatmung und Herzmassage weiterhin für den Transplantationszweck versorgt wird. Mit der Einführung dieser Spendergruppe wurde die dead donor rule ("Tote-Spender-Regel") aufgegeben, an der sich alle bisherigen ethischen Richtlinien der Organspende orientierten. Dieser Schritt war an die Erwartung geknüpft, dass es "am Ende vielleicht mehr herztote Spender als hirntote" geben könnte. Ein weiterer Aspekt ist für die spärliche Resonanz in der Bevölkerung ausschlaggebend: Transplantationsmediziner und Politiker monierten 2005, dass "nur etwa 40 Prozent der Krankenhäuser mit Intensivstationen an der Gemeinschaftsaufgabe Organspende beteiligt waren". Mit anderen Worten: Bis 2005 machten in Deutschland 60 Prozent aller Krankenhäuser mit Intensivstationen keine Meldungen von hirntoten Patienten. Die klinische Beteiligung konnte auch bis 2009 kaum gesteigert werden.

Diese Tatsachen verweisen - so die These dieses Beitrags - auf ein ethisches Problem, das in der verpflanzungsmedizinischen Praxis begründet liegt. Es wurzelt in den durch eine Organentnahme berührten Tabus, deren ethisches Fundament mit der Organgewinnung aus dem Körper von Hirntoten kollidiert. Kurzum: Zwei sich widersprechende Ethiken stehen in einem konkurrierenden Verhältnis: auf der einen Seite geht es um die potenzielle Lebensrettung durch Organspenden, auf der anderen Seite sind damit Tabuüberschreitungen verbunden, die unsere Vorstellungen über Menschenwürde, medizinische Ethik und den sozialen Umgang mit einem sterbenden sowie toten Menschen aus den Angeln heben.

"Todeszeichen - Der Augenschein trügt"

1997 wurde Florian Lethen von einem Auto erfasst. Nachdem er am Unfallort reanimiert worden war, teilte eine Ärztin seiner Familie mit, dass sein Leben aufgrund einer Hirnblutung nicht zu mehr retten sei, und der Hirntod kurz bevorstünde. Bald darauf kam die Todesnachricht. Seine Angehörigen befürworteten eine Organspende. Auf einem Formular kreuzten sie jene Organe an, die sie zu spenden bereit waren: Herz, Lunge, Leber und Nieren. Florians Vater bereute später diese Entscheidung und erhob Vorwürfe gegen die Transplantationsmedizin. Wie viele Angehörige, die nach einer Organspende gefragt werden, hatte auch er keine Vorstellung davon, dass während der Organentnahme der Körper seines Sohnes noch in einem lebendigen Zustand sein musste und daher eine Begleitung seines Kindes bis zum letzten Atemzug ausgeschlossen war.

Vergegenwärtigen wir uns das Prozedere einer Explantation: Für die Organentnahme wird der Körper des Spenders mit einem Schnitt vom Brust- bis zum Schambein geöffnet. Erst jetzt erleidet der Hirntote durch systematisches medizinisches Handeln jenen Tod, der uns durch seine Zeichen als Herztod bekannt ist - beispielsweise indem vor der Entnahme des Herzens mehrerer Liter der kardioplegischen (herzlähmenden) Lösung in die große Körperschlagader (Aorta) gegeben und so der Herzstillstand herbeigeführt wird. Wenn der Herztod eingetreten ist, wird in der Regel noch Gewebe entnommen: Augen, Knochen und selbst eine Häutung kann erfolgen. Hinsichtlich ihrer methodischen Vorgehensweise stellt die Transplantationsmedizin eine Zergliederung des Lebendigen dar, indem sie Teile aus dem Körper von Patienten herausschneidet und diese in den Leib anderer todkranker Menschen wieder einfügt. Selbst das Sterben wird in der Hirntoddefinition zerlegt: Galt einst der Herztod als Ende des Lebens, ist nun der Todeszeitpunkt durch die Behauptung, die Person des Menschen sei bereits durch den Zusammenbruch des Gehirnkreislaufs verstorben, vorverlegt worden. So verfügt der Spenderkörper zwar weiterhin über Zeichen des Lebens, aber der "Tote" hat die ihm bisher zugeschriebenen Wesensmerkmale verloren, denn Stillstand der Atmung und des Herzens, Leichenblässe, Verwesung, Totenstarre und -flecken sind seit der Einführung der Hirntodkriterien im Jahre 1968 keine zwingenden Todeszeichen mehr. Das Herz von Hirntoten schlägt, ihre Lungen atmen mit technischer Hilfe, sie verdauen, scheiden aus, werden bis zu ihrem Herztod medizinisch genährt und gepflegt - und sind von der Erscheinung her nicht von anderen Komapatienten zu unterscheiden.

Dieses Verfahren bezieht sich auf ein Körpermodell, das historisch auf die im 17. Jahrhundert begründete kartesianische Körpermaschine zurückgeht: Dem im menschlichen Gehirn verorteten Geist wurde ein entseelter und nach Gesetzen der Mechanik funktionierender Körper entgegengesetzt. Einen Höhepunkt dieser mechanistischen Anthropologie bildet die vom Hirntodkonzept abhängige Transplantationsmedizin. Auf der Methode der Körperzergliederung beruhend, setzt diese Therapieform die Logik der kartesianischen Körpermaschine hinsichtlich des Sterbeprozesses fort. Als Sitz der Person und daraus folgernd auch ihres Todes trennt das Hirntodkonzept das Gehirn vom Sterben des so verstandenen "noch überlebenden übrigen Körpers" ab, der weiterhin als lebendig gilt. Der Todeseintritt wird damit auf einen einzigen Zeitpunkt und ein einziges Organ fixiert, wodurch nicht nur der prozesshafte Charakter des Sterbens im biologischen Sinne, sondern das Sterben auch als soziales Ereignis verleugnet werden. Während es sich früher um einen "Tatbestand der Vivisektion" gehandelt habe, sei es nun einzig der Macht einer Definition zu verdanken, dass der Todeszeitpunkt für Transplantationszwecke vorverlegt wurde.

Wie flexibel die Hirntodvereinbarung selbst ist, verdeutlicht ihre Geschichte: 1968 legte eine Kommission der Harvard Universität Kriterien für den Hirntod fest. Das Ausbleiben aller Reflexe war hier ein zentrales Todeskriterium, denn das Rückenmark wurde in dieser Definition morphologisch zum Gehirn gezählt. Noch im selben Jahr wurde die Areflexie als obligates Zeichen des Hirntodes aufgegeben und der Tod eines Menschen nunmehr auf das Schädelinnere eingegrenzt. Seither dürfen Hirntote bis zu 17 Reflexe aufweisen wie Wälzen des Oberkörpers oder Hochziehen der Arme und Schultern.

An der Durchsetzung dieser Todesdefinition war der deutsche Neurochirurg Wilhelm Tönnis (1898-1978) maßgeblich beteiligt. In seiner Funktion als beratender Neurochirurg beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe war seine Forschung in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus eingebettet. In den 1960er Jahren arbeitete Tönnis in der Bundesrepublik Deutschland als Direktor der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung an der Wiederbelebbarkeit von hirnverletzten Patienten. Die 1963 von ihm und seinem Mitarbeiter Reinhold Frowein aufgestellten Kriterien für den "cerebralen Tod" eines an der Lungenmaschine noch atmenden Komapatienten waren für die Durchsetzung des heute gültigen Hirntodkonzepts maßgebend.

Trotz der juristischen Festschreibung als Leichnam ist nach wie vor der Umgang mit Hirntoten von Unsicherheit beherrscht, insbesondere bei Operationsschwestern und Anästhesisten. Sie sehen, wie der "überlebende Körper" auf seine Öffnung und auf die kalte Nähr- und Konservierungslösung reagiert, die dem Spender vor der Organentnahme gegen Verwesungsprozesse eingeflößt wird und das Blut ausschwemmt. Um irritierende Reaktionen auf diese Eingriffe (wie Bewegungen, Hautrötungen, Schwitzen, steigender Puls und Blutdruck) zu unterdrücken, werden dem Hirntoten Schmerzmittel und muskelentspannende Medikamente verabreicht. Ein Großteil der Explantationen findet unter Narkose statt. Zu Beginn einer Organentnahme sind es in der Regel die Anästhesisten, die festlegen, wie mit dem Problem einer sich bewegenden Leiche umzugehen ist: "Manche Kollegen sagen, man sollte Fentanyl geben, um auf spinaler Ebene Reflexe zu unterdrücken. Fentanyl ist ein Opiat. Das ist immer wieder eine Diskussion wert (...), weil der eine oder andere sagt: 'Warum ein Opiat? Das ist doch ein Toter!'"

"Justified Killing"

Die Transplantationsmedizin wird seit ihrem ersten großen Aufschwung, der durch die Hirntodvereinbarung von 1968 möglich wurde, von einer wissenschaftlichen Kritik an dem Todeskonzept seitens der Medizin, Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaft und Theologie begleitet. Körper und Person eines Menschen bilden in der Hirntodkritik eine Einheit, die weder medizinisch noch anthropologisch voneinander getrennt werden kann. So erklärte Joachim Gerlach, Professor für Neurochirurgie, 1969 die Hirntoddefinition als eine medizinische Kompetenzüberschreitung: Der Personenbegriff sei durch naturwissenschaftliche Methoden nicht nachweisbar, vielmehr handele es sich um eine philosophische, nicht aber um eine medizinische Kategorie.

Diese These wurde im Zuge einer in den USA seit 2008 wieder aufgeflammten Fachdiskussion über die wissenschaftlich nicht aufrechtzuerhaltende Identifikation des Hirntodes mit dem Tod eines Menschen bestätigt. Speziell Transplantationsmediziner, die den Diskurs über die anfangs erwähnte Gruppe der non heart-beating donors anführen, verwerfen die Hirntodvereinbarung - allerdings nicht, um das Tötungsverbot, das mit der Organentnahme aus dem Körper eines noch lebenden Menschen überschritten wird, ethisch infrage zu stellen, sondern um es zu enttabuisieren. Mit einem Zirkelschluss fundieren sie die ethische Legitimation der Verwendung von non heart-beating donors mit der seit langem praktizierten Organgewinnung aus dem Körper von hirnsterbenden Patienten. So erklärten der renommierte Professor für Anästhesiologie und medizinische Ethik Robert D. Truog und der Professor für Bioethik Franklin G. Miller im Jahr 2008: "Die Begründung dafür, warum diese Patienten [Hirntote, A.B.] für tot gehalten werden sollen, war nie völlig überzeugend. Die Hirntoddefinition erfordert den kompletten Ausfall aller Funktionen des gesamten Gehirns, dennoch bleiben bei vielen dieser Patienten wesentliche neurologische Funktionen erhalten." In einem weiteren Artikel postulieren Truog und Miller eine Alternative zur "Tote-Spender-Regel" und fragen, wie es ethisch zu begründen sei, "Organe von hirntoten Patienten zu entnehmen, wenn sie nicht wirklich tot sind". Sie entbinden die Explantation vom Tötungsverbot und erklären: Es sei nicht ganz falsch, im Zusammenhang der Organgewinnung von einem "justified killing" zu sprechen. Nur würde diese Rhetorik die Transplantationsmedizin kompromittieren. Die "Tote-Spender-Regel" könne jedoch fallengelassen werden, ohne dass Transplantationsmediziner sich eines Verbrechens schuldig machten. Sich daraus ergebende juristische Fragen, bis wann ein Mensch Objekt eines Tötungsdelikts ist, und bis wann er das Grundrecht auf Leben mit all seinen Schutzwirkungen genießt, scheinen unter der Prämisse des aus therapeutischen Gründen gerechtfertigten Tötens hinfällig zu werden. Stattdessen beruht die hiesige Todesvorstellung weiterhin auf der Grundannahme, wie vom Professor für Neurologie Heinz Angstwurm verdeutlicht, dass es sich bei einem Hirntoten um einen "lebenden Zellbestandteil" handelt. Experimente an enthaupteten Tieren dienen als Indizien für diese Todesvorstellung. So sieht Angstwurm den Beweis darin, dass in dem "restlichen Körper" enthaupteter Katzen "intensivmedizinisch der Kreislauf erhalten wurde".

Diese Begründung bleibt doppeldeutig. Umso mehr Unsicherheiten entstehen im Krankenhausalltag. So orientiert sich der Todeseintritt an dem Zeitpunkt der letzten geleisteten Unterschrift (von insgesamt acht) des zweiten Hirntoddiagnostikers. Diese Handhabung liegt darin begründet, dass der Eintritt des Hirntodes selbst von einem ärztlichen Spezialisten unbeobachtbar ist. Das Kriterium der letzten geleisteten Unterschrift für den Todeszeitpunkt eines Patienten erzeugt, wie Gesa Lindemann an der zeitlichen Struktur der Hirntoddiagnostik verdeutlicht, ein flexibles Sterbedatum: So kann beispielsweise nach der ersten Todesfeststellung an einem Freitag die zweite aufgrund von Personalmangel nicht am Wochenende durchgeführt werden, so dass in diesem Fall der Patient erst am Montag verstirbt.

Dieser verwirrenden Logistik war auch Karolina Müller ausgesetzt. Die zweite Hirntoddiagnostik bei ihrem Ehemann erfolgte prompt an Heiligabend: "Für uns war die Zeit des Wartens so schrecklich, weil es für uns am besten gewesen wäre, wenn (...) er schnell gestorben wäre. (...) Und am 24. Dezember lag ja das Hirntodprotokoll vor, so dass das dann zu Ende war." Karolina Müller kann bis heute keinen Sinn darin erkennen, dass ihr Mann auch nach der Todesfeststellung medizinisch betreut wurde: "Das hat mich sehr verwundert, weil ich mir gedacht habe - das mag komisch klingen - 'wozu Medikamente, wenn er tot ist?'" Die intensivmedizinische Betreuung von Organspendern wird als "Spenderkonditionierung", neuerdings auch als "organerhaltende Therapie" bezeichnet. Für den Fall, dass hirntote Patienten trotz Therapie und erfolgloser Reanimationsversuche vor der Organentnahme an einem Herz-Kreislauf-Versagen sterben, hat man für die Kostenabrechnung die Kategorie der "frustranen Organentnahme" eingeführt.

Pietät und Totenpflege

Die auf der "Leichenspende" beruhende Praxis der Organverpflanzung ist in der Geschichte der ärztlichen Tabuüberschreitung einzigartig, denn mehrere in unserer Kultur herrschende Normen, aber auch Verbindlichkeiten der medizinischen Ethik werden verletzt: Im Laufe der großen Operation einer Organentnahme gibt es nicht eine einzige medizinische Handlung, die im Sinne des Hippokratischen Eides dem Wohl eines Hirntoten verpflichtet ist. Egal, ob wir hirntote Organspender als Patienten, Sterbende oder Leichen betrachten: Alle sonst verbindlichen Normen sind während einer Explantation außer Kraft gesetzt. Als Tote gilt ihnen nicht die so bezeichnete "heilige Scheu". Ekel, Ohnmacht, Erbrechen - extreme körperliche Reaktionen - sind aus Sektionsübungen im Medizinstudium bekannt. Sie werden durch die Zerstörungshandlung des Leichnams ausgelöst, was auf die Macht des Todestabus und auf die hohe kulturelle Bedeutung des Totenkults verweist, der seit Jahrtausenden die Verstorbenen und die Trauernden vor der Bemächtigung der Toten zu schützen versucht.

In unserer modernen Gesellschaft wird die Totenpflege mit dem Begriff der Pietät umschrieben. Sie beinhaltet einen Schutz der Toten und der Trauernden: zum einen den würdevollen Umgang mit den Toten. Dieser ist in dem Recht auf Totenruhe verankert; zum anderen den Schutz der Angehörigen, denen ein pietätvolles Totengedenken als Rechtsgut zusteht. Die Transplantationsmedizin muss sich über diese Angehörigenrechte und Bestattungsbräuche hinwegsetzen. Einen Krankenpfleger überkam Ekel, als Gelenke eines Spenders explantiert wurden, "wenn sie mit Hammer und Meißel an einen Toten herangehen (...), das hat für mich noch eine andere Qualität." Zudem wird das Tötungstabu dramatisch berührt, sofern professionell Beteiligte den Hirntod nicht als Tod des Menschen wahrnehmen können. In diesem Fall erzeugt die Mitarbeit an der Explantation ein Tötungsbewusstsein. Der Moment, in dem der hirntote Patient sich in eine herztote Leiche verwandelt, ist auf dem Operationstisch wie in einem Laboratorium beobachtbar und wird von dem Pflegepersonal häufig als eine traumatische Erfahrung geschildert.

Da die Transplantationstherapie auf der Nutzung des Körpers sterbender Patienten beruht, steht diese Medizin unter einem enormen Rechtfertigungsdruck. Sie muss dieses Faktum aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen, und ihr scheint dies mit Hilfe der religiösen Fundierung der Organspende durch die Deutsche Bischofskonferenz zu gelingen: "Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende ein Zeichen der Nächstenliebe." Diese Argumentation wird unmittelbar an eine Kausalität zwischen dem Tod von Patienten und der Organspendebereitschaft geknüpft. In der Pressemitteilung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration (MS) heißt es: "In Deutschland warten cirka 12000 Patienten auf ein neues Organ. (...) Jedes Jahr sterben etwa 1000 Menschen, weil nicht rechtzeitig ein neues Organ für sie zur Verfügung stand."

Die Aufforderung zur aktiven Beteiligung an der Verringerung dieses tödlichen Dilemmas durch einen Organspendeausweis beruft sich auf das religiöse Gewissen: Aus der Liaison der kartesianischen Körpermaschine mit dem christlichen Menschenbild erwächst eine Mischung aus Zweckrationalität und Altruismus. Egal, welchen moralisch hohen und pietätvollen Anstrich die Transplantationsmedizin sich zu geben vermag: Unsere ethischen Normen im Umgang mit Sterbenden und Toten, die Prämissen der medizinischen Ethik und schließlich das Tötungsverbot werden durch das Prozedere der Organgewinnung über Bord geworfen. Eine ethische Verpflichtung zur Organspende kann es daher nicht geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dietmar Mauer et al., Organspende, in: Deutsches Ärzteblatt, 102 (2005) 5, S. B-214.

  2. Vgl. Ulrike Baureithel/Anna Bergmann, Herzloser Tod, Stuttgart 1999; Anna Bergmann, Organspenden zwischen animistisch-magischen Todesvorstellungen und medizinischer Rationalität, in: Cornelia Klinger (Hrsg.), Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien-Berlin 2009, S. 24-55.

  3. Arbeitskreis Organspende (Hrsg.), Organspende rettet Leben!, Neu-Isenburg o.J., S. 8.

  4. Vgl. den Gesetzestext online: http://bundesrecht.juris.de/tpg/index.html (27.4.2011).

  5. Vgl. Anna Bergmann, Der entseelte Patient, Berlin 2004, S. 297ff.

  6. Linus Geisler, Der Mensch der Zukunft aus der Perspektive der Medizin, Festvortrag am 19.3.2005, online: www.linusgeisler.de/vortraege/0503goldene
    _eule.html (27.4.2011).

  7. Vgl. ders., Die Lebenden und die Toten, in: Universitas, 65 (2010) 763, S. 4-13; Mark M. Boucek et al., Pediatric Heart Transplantation after Declaration of Cardiocirculatory Death, in: The New England Journal of Medicine, 359 (2008) 7, S. 709-714.

  8. Ralf Stoecker, Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland, in: Dirk Preuß/Nikolaus Knoepffler/Klaus-M. Kodalle (Hrsg.), Körperteile - Körper teilen, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Würzburg 2009, S. 50.

  9. Gisela Klinkhammer, Postmortale Organspende: Hilfe für die Angehörigen, in: Deutsches Ärzteblatt, 102 (2005) 12, S. A-806, S. B-681, S. C-635.

  10. So Theo Lethen (Pseudonym) in einem Interview mit der Autorin im Juli 2006; vgl. im Weiteren auch: Renate Greinert, Konfliktfall Organspende, München 2008.

  11. Vgl. Vera Kalitzkus, Postmortale Organspende im Erleben der Angehörigen, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber (Hrsg.), Grenzen des Lebens, Berlin 2007, S. 156.

  12. So die Auskunft einer Anästhesistin im Interview mit der Autorin im Juli 2006; Marco P. Zalunardo, Anästhesie nach Organtransplantation, in: Rolf Rossaint/Christian Werner/Bernhard Zwißler (Hrsg.), Die Anästhesiologie, Berlin-Heidelberg-New York 2004, S. 1423.

  13. Vgl. Thomas Schlich, Die Erfindung der Organtransplantation, Frankfurt/M.-New York 1998.

  14. Vgl. Gesa Lindemann, Beunruhigende Sicherheiten, Konstanz 2003, S. 75ff.

  15. Johann Friedrich Spittler, Der Hirntod - Tod des Menschen, in: Ethik in der Medizin, 7 (1995) 3, S. 130.

  16. Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M. 1987, S. 221.

  17. Vgl. hierzu den Beitrag von Sabine Müller in dieser Ausgabe.

  18. Vgl. Gerhard Pendl, Der Hirntod. Eine Einführung in seine Diagnostik und Problematik, Wien-New York 1986, S. 30ff.; Thomas Schlich/Claudia Wiesemann (Hrsg.), Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt/M. 2001.

  19. Vgl. A. Bergmann (Anm. 2), S. 34.

  20. Vgl. G. Lindemann (Anm. 14), S. 82ff., S. 114ff.

  21. Vgl. Gerhard Schwarz, Dissoziierter Hirntod, Berlin u.a. 1990, S. 45.

  22. So eine Anästhesistin im Interview, zit. nach: U. Baureithel/A. Bergmann (Anm. 2), S. 152.

  23. Vgl. Joachim Gerlach, Gehirntod und totaler Tod, in: Münchener medizinische Wochenschrift, 111 (1969) 13, S. 734.

  24. Vgl. President's Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death: A White Paper, Washington, D.C., December 2008, online: http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/
    reports/death/(24.4.2011).

  25. Robert D. Truog/Franklin G. Miller, The Dead Donoar Rule and Organ Transplantation, in: The New England Journal of Medicine, 359 (2008) 7, S. 674.

  26. dies., Rethinking the Ethics of Vital Organ Donations, in: Hastings Center Report, 38(2008) 6, S. 41.

  27. Vgl. ebd., S. 42.

  28. Vgl. Walter F. Haupt/Wolfgang Höfling, Die Diagnose des Hirntodes, in: Fortschritte der Neurologie - Psychiatrie, 70 (2002), S. 583-590.

  29. Zit. nach: U. Baureithel/A. Bergmann (Anm. 2), S. 62f.

  30. Vgl. Gesa Lindemann, Die Praxis des Hirnsterbens, in: Claudia Honegger/Stefan Hradil/Franz Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft?, Opladen 1999, S. 598.

  31. So in einem Interview mit der Autorin im August 2006.

  32. Ebd.

  33. D. Mauer et al. (Anm. 1), S. B-213.

  34. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1968, S. 260.

  35. Vgl. Thomas Macho, Tod, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim-Basel 1997, S. 939.

  36. Zit. nach: U. Baureithel/A. Bergmann (Anm. 2), S 177.

  37. Vgl. U. Baureithel/A. Bergmann (Anm. 2), S. 145ff.

  38. BzgA, Organspende schenkt Leben, online: www.organspende-info.de/organspende/religionen/(24.4.2011).

  39. MS, Engagement für die Organspende, Pressemitteilung vom 15.11.2010, online: www.ms.niedersachsen.de/live/live.php?navigation_id=4972&article_id=91935&_
    psmand=17&mode=print (24.4.2011).

Dr. phil. habil., geb. 1953; Professorin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Frankfurt/O., Große Scharrnstraße 59, 15230 Frankfurt/O. E-Mail Link: a.l.bergmann@gmx.net