Gezielte Grenzverletzungen - Castingshows und Werteempfinden
Provokationen jeglicher Art gehören mittlerweile zum festen Repertoire der Castingshows. Das Fernsehpublikum wird dadurch zum voyeuristischen Beobachter moralischer Grenzverletzungen. Verschieben sich die Tabugrenzen?Einleitung
Castingshows erzielen vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren hohe Einschaltquoten. Der Erfolg der Sendungen ist eng mit deren Protagonisten, ihrer Machart und ihren Produktionsweisen verknüpft. Die "Normalität" der Protagonisten, ihrer Sprache und der verhandelten Themen rückt Formate des sogenannten Reality-TV an die Lebenswelt des jugendlichen Publikums heran wie kaum ein anderes Fernsehangebot. Dabei geht es um weit mehr als "nur" triviale Unterhaltung. Reality-TV-Angebote bieten Kommunikationsmöglichkeiten zur Interaktion mit anderen. Die Sendungen liefern Material für verschiedene normative Diskurse, und sie bieten Möglichkeiten zur Verortung der Zuschauenden in wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen (Identitäts-)Räumen von Nation, Klasse, Geschlecht oder Ethnie.[1] Dabei erhöhen polarisierende Charaktere, verbale Ausfälle, körperliche Übergriffe und sexualisierte Darstellungen von Nacktheit die Einschaltquoten und machen die Sendungen zum Gesprächsthema. Die Zuschauer und Zuschauerinnen können über das Gesehene lachen, mit den Kandidaten und Kandidatinnen mitfiebern und sich mit ihnen identifizieren.Neben der Freude am Erfolg von Kandidaten spielt im Rezeptionsprozess von Jugendlichen jedoch auch Schadenfreude eine große Rolle.[2] Insbesondere in der Medienpädagogik werden diese Rezeptionsmuster kontrovers diskutiert. Vor allem die abwertende und erniedrigende Zurschaustellung von Menschen wird als Grenzüberschreitung wahrgenommen, die Sensationslust und Voyeurismus am Schicksal und (Fehl-)Verhalten der dargestellten Personen fördert. Auch die kommerzielle Ausbeutung menschlicher Selbstdarstellungen zu Unterhaltungszwecken wird kritisch bewertet. Castingshows werden mithin als Formate analysiert, die ein neoliberales Bild der Selbstoptimierung idealisieren. Die in ihnen vermittelten Erwartungen und Werte des sozialen Zusammenlebens wie Selbstvermarktung, Anpassungsbereitschaft um jeden Preis, Wille zur Selbstausbeutung oder Unterwerfung könnten - so die Befürchtung - negativen Einfluss auf die überwiegend jungen Zuschauer haben.[3] Darstellungen wehrloser, schutzbedürftiger Personen oder von Menschen, die für sie offensichtlich Ekel erregende und unangenehme Aufgaben erfüllen müssen, werden als Verletzung der Menschenwürde empfunden.
So äußerte die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) in Bezug auf die Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" ("DSDS") bereits mehrfach Befürchtungen, die Präsentation beleidigender Äußerungen und antisozialen Verhaltens, die Häme und Herabwürdigung anderer als legitim darstelle, könne bei Kindern eine desorientierende Wirkung haben. Im Jahr 2008 hatte die KJM mehrere Folgen der fünften "DSDS"-Staffel beanstandet und ein Bußgeld in Höhe von 100000 Euro verhängt. Zwei Jahre später stellte die KJM erneut einen Verstoß gegen die Jugendschutzbestimmungen fest.[4]
Obwohl über Castingshows und deren Wirkungen auf Jugendliche und junge Erwachsene heftig diskutiert wird, mangelt es bislang an empirischen Daten. Fragen nach den individuellen Rezeptions- und Nutzungsweisen sowie Aneignungsmustern von Castingshows insbesondere durch Jugendliche und junge Erwachsene sind bisher wenig erforscht. Erst in den vergangenen Jahren wendet sich die Wissenschaft diesem Thema stärker zu. Im Folgenden wird beschrieben, welche Erkenntnisse zur Faszination und Rezeption von Castingshows durch Jugendliche und junge Erwachsene vorliegen. Dabei gehen wir detaillierter auf eigene Arbeiten ein, die im Kontext eines Forschungsprojekts zu Skandalisierungen im Reality-TV und deren Bedeutung für Jugendliche entstanden sind.[5]