Wesensmerkmale des Populismus
Populismus ohne Volk?
Freiheitlich, patriotisch, islamkritisch - in dieser Reihenfolge tritt heute der Rechtspopulismus als Populismus ohne Volk auf. Aber trotz seiner Erfolge zeigt er auch Schwächen und Unwägbarkeiten wie die Parteienlandschaft insgesamt: Fluktuation, Fragmentierung, Abspaltungen, Führungs- und Richtungskämpfe, kurze Halbwertzeiten (vor allem in Deutschland)[27] sowie temporäre, teilweise starke Wählereinbußen wie bei der Lega Nord, der FPÖ und der FN.Wählersoziologisch sind im Rechtspopulismus zwei Segmente überrepräsentiert: mittelständische Gruppen (kleine Kaufleute, Handwerker, andere, durchaus prosperierende Selbstständige) und Arbeiter im privaten Sektor, die zuvor eher links gewählt haben, sich aber von den zur "neuen Mitte" drängenden Parteien der Linken nicht mehr repräsentiert, ja sogar betrogen fühlen.[28] Sie tragen unvereinbare Erwartungen an diese Parteien heran: mehr oder weniger Staat, höhere oder geringere Steuern, Abbau oder Verteidigung des Sozialstaats.
Ein Bündnis dieser heterogenen Wähler kann nur durch übergreifende Themen geschmiedet werden, die auf der Bedrohungsskala für alle Gruppen Vorrang haben: innere Sicherheit, Immigration und die EU. Die Bedrohungen werden zu einem Syndrom gebündelt und, aktuell, auf den Islam als Generalfeind externalisiert. Islamophobie ist die Kohäsionsformel dieses neuen Populismus ohne Volk. Er trägt dem Individualisierungsschub in den westlichen Gesellschaften Rechnung und appelliert nicht mehr an Volk und heartland, sondern an das "mündige" Individuum, das den Begriff der Freiheit wie eine Monstranz vor sich her trägt.[29]
Ist die Wiederbelebung der Freund-Feind-Konstellation des Kalten Kriegs unter antiislamischem Vorzeichen aber noch mit der vertikalen Polarisierung des genuinen Populismus vereinbar? Schon 1968 hat der Politiktheoretiker Isaiah Berlin zwischen echtem und falschem Populismus unterschieden.[30] Populismus ohne Volk ist falscher Populismus, der von anderen politischen Kräften instrumentalisiert und auf eine Mobilisierungstechnik reduziert wird, für die es einen adäquateren und präziseren Begriff gibt: Demagogie.