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Populismus als Totengräber oder mögliches Korrektiv der Demokratie? | Populismus | bpb.de

Populismus Editorial Wesensmerkmale des Populismus Populismus und der Gestaltwandel des demokratischen Parteienwettbewerbs Populismus und Massenmedien Populismus als Totengräber oder mögliches Korrektiv der Demokratie? Immigrationsfragen: Sprungbrett rechtspopulistischer Parteien Tabus in öffentlichen Debatten. Zur Fragwürdigkeit von verschwiegenen Bereichen Tabu, Tabuvorwurf und Tabubruch im politischen Diskurs Narrative Spiegelung als Interventionsstrategie - Essay

Populismus als Totengräber oder mögliches Korrektiv der Demokratie?

Florian Hartleb

/ 17 Minuten zu lesen

Der Populismus wird immer wieder als Steigbügelhalter des Extremismus sowie als eine Gefahr für die repräsentative Demokratie oder für den demokratischen Diskurs gedeutet. Doch können ihm auch positive Wirkungen zukommen.

Einleitung

Populismus wird in allen politischen Lagern wie auch in einschlägigen wissenschaftlichen Diskursen mehrheitlich als Gefahr wahrgenommen. Nur wenige schließen mögliche Korrektivfunktionen des Populismus ein; auch eher dann, wenn sie global argumentieren oder die Zunahme populistischer Tendenzen als Bestandteil westlicher Demokratien deuten. Fest steht, dass Populismus aufgrund konstanter elektoraler Erfolge zu einem Dauerthema der europäischen Politik geworden ist. Insbesondere die schrumpfenden sozialdemokratischen und christdemokratisch-konservativen (Volks-)Parteien zeigen sich besorgt. Angesichts der aktuellen Krise der Euroländer, die für eine Diskussion über Stärken und Schwächen des europäischen Projekts sorgt und neue Regularien notwendig macht, geht die Sorge um, dass vor allem rechtspopulistische Parteien die Krisengewinner sein könnten.

Immer wieder erzielen sie auf nationaler Ebene wie etwa in Frankreich, Österreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz oder Skandinavien Wahlerfolge. Bei den Wahlen in Schweden im Jahr 2010 und Finnland im Jahr 2011 konnten rechtspopulistische Parteien erstmals in die nationalen Parlamente einziehen. In Norwegen und Dänemark sind sie bereits lange etabliert. Inzwischen kann man in Westeuropa von einer "zweiten Generation" der Rechtspopulisten sprechen, da sich mit Marine Le Pen (Front National in Frankreich) und Heinz-Christian Strache (Freiheitliche Partei Österreichs) die Parteispitzen erneuert haben. Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso äußerte sich in einer Grundsatzrede im September 2011 im Europäischen Parlament besorgt: "Populistische Bewegungen stellen die größten Errungenschaften der Europäischen Union infrage - den Euro, den Binnenmarkt, ja sogar den freien Personenverkehr." Offenkundig wird damit um Unterstützung für Hilfsmaßnahmen, Rettungspakete, Eurobonds und eine neue Form von economic governance gerungen, durch die Konstruktionsfehler in der Eurozone behoben werden sollen.

Pejorative Verwendung

Für viele dient der Populismusbegriff einer manichäischen Einteilung des politischen Spektrums in Gut und Böse. Das ist kein Spezifikum des Populismus, sondern trifft auch auf andere Begriffe wie Totalitarismus, Extremismus, Fundamentalismus oder Terrorismus zu. Beim Populismus fällt aber die Ambivalenz auf: Durch die Zuschreibung populistisch im politischen und medialen Diskurs wird der Vorwurf transportiert, der andere betreibe keine sachlich-seriöse Politik, sondern versuche mittels nicht einzulösender Versprechungen oder eitler Selbstdarstellung die öffentliche Meinung zu manipulieren. So verstanden wird Populismus als nahezu diffamierend charakterisiert. Im öffentlichen Sprachgebrauch dominiert also eine pejorative Verwendung.

Manche Beobachter gehen weiter: Populismus firmiere "außerhalb der Wissenschaft nur noch als rhetorische Worthülse (...), die man dem Gegner überstülpt". Eine Untersuchung britischer Zeitungen bestätigt die These, dass der Begriff fast willkürlich genutzt wird: Sehr unterschiedliche Akteure, in verschiedenen politischen Kontexten und mit divergierenden Programmen werden als "populistisch" etikettiert.

So sind auch die heutigen linken Bewegungen in Lateinamerika allgemein als populistisch anerkannt. Sie gelten als sozialrevolutionär, zielen auf radikale Reformen und versuchen, die Rückständigkeit und chronische Instabilität des eigenen Landes durch einschneidende Veränderungen in Staat und Gesellschaft zu überwinden. Auch gibt es europäische Politikerinnen und Politiker, die Populismus im positiven Sinne gebrauchen: als Eigenbeschreibung ihrer Volksnähe. Im amerikanischen Sprachgebrauch hat Populismus gar eine weitaus positivere Konnotation als im europäischen. Populismus ist vor allem von jenen, denen diese Gabe fehle, zu etwas "an sich Ungehöriges" gemacht worden; der Populismus-Rüffel selbst könne daher populistisch sein - im Sinne eines demagogischen Ersatzes für sachliche Argumente. Schon im Jahr 1931 argumentierte der Historiker John Hicks, der Begriff populist (populistisch) habe seinen Ursprung als spöttischen Beinamen, um die Anhänger der People's Party in den USA zu diskreditieren. Kurzum: Die Diskussionen darüber, ob und wie der Terminus medial aufgefasst wird, sind keineswegs neu.

Solange sich der Populismus innerhalb des demokratischen Spektrums bewegt, kann ihm sogar ein potenziell emanzipatorischer Impuls zugrunde liegen: Wer als "Populist" bezeichnet wird, gilt im positiven Sinne als jemand, der die Probleme der "kleinen Leute" versteht, sie artikuliert und direkt mit dem Volk kommuniziert, und im negativen Sinne als jemand, der dem Volk nach dem Mund redet und dem Druck der Straße nachgibt.

Europäischer Kontext

Vier Dimensionen erscheinen im europäischen Kontext als konstitutiv, womit sich eine strukturelle und typologische Leitlinie des Populismus ergibt:

  • Technische Dimension. Populismus vereinfacht und konstruiert einen direkten Gegensatz zwischen einem als homogen gedachten "Volk" und dem "Establishment". Die antielitäre Haltung offenbart sich durch eine chronische, agitatorisch untermalte Beschwerdeführung im Sinne des "Tabubrechers".

  • Inhaltliche Dimension. Populismus kapriziert sich als "Anti-ismus" mit konkreten Inhalten. So macht neuerdings ein Antiislamismus innerhalb des europäischen Rechtspopulismus von sich reden. Als weitere Feindbilder firmieren "Globalkapitalisten", die Figur des "Sozialschmarotzers" oder eben der Immigranten.

  • Personelle Dimension. Eine eloquente und charismatische Person macht sich häufig zur Anwältin des "Volkswillens", die in Robin-Hood-Manier gegen das "Establishment" kämpft.

  • Mediale Dimension. Massenmedien gehen oft eine symbiotische Beziehung mit dem Populismus ein, mit dem Kalkül von Schlagzeilen.

Der Rechtspopulismus umfasst ein Konglomerat aus Strömungen, die an die "einfachen Leute" und nicht an bestimmte Schichten, Klassen, Berufsgruppen oder Interessen appellieren. Sowohl privilegierte Schichten als auch gesellschaftliche Randgruppen dienen als Sündenböcke für soziale Missstände. Hieraus ergeben sich zwei zentrale Aspekte: die vertikale Dimension als allgemeines Merkmal des Populismus, das heißt, die Abgrenzung gegen die politische Klasse (Institutionen, Altparteien). Sie kommt in einer Stimmung des "Wir" gegen "Die-da-oben" zum Ausdruck. Der zweite Aspekt ist die horizontale Dimension als spezifisch rechte Variante des Populismus, das heißt, die Abgrenzung gegen Immigranten oder "Fremde". Sie kommt in einer Stimmung des "Wir" gegen "Die-da-draußen" zum Ausdruck. Gerade in diesem exklusiven und exkludierenden Moment des Rechtspopulismus liegen enorme Gefährdungspotenziale.

Steigbügelhalter des Extremismus?

Populismus wird als "Extremismus light" oder als Vorbote, Indikator oder gar Synonym für Extremismus aufgefasst, wobei der westeuropäische Rechtspopulismus aufgrund seiner "fatale(n) Nähe zum faschistischen Gedankengut" häufig als eine Art "neuer Faschismus" verstanden wird. Die Rückgriffe des Rechtspopulismus auf den Faschismus sind zwar selektiver Natur, doch streben Rechtspopulisten keine radikale Umwälzung der bestehenden Werteordnung an. Die populistischen Antihaltungen entspringen einem zielgruppenorientierten Opportunismus, nicht einer konsequenten Systemgegnerschaft. Als "Anti-Partei-Partei" verweigern sich Rechtspopulisten einer Kooperation mit den "Alt-Parteien" und zielen auf eine destruktive Verweigerung im politischen Prozess ab.

Die Diskussion über mögliche Verbindungslinien des Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus oder gar zum Rechtsterrorismus entfachte im Sommer 2011 von Neuem. Der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring Breivik - als Massenmörder verantwortlich für eine Bombenexplosion im Osloer Regierungsbezirk und den Tod von insgesamt 77 Menschen, meist jugendliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlagers - war einst Jungfunktionär der norwegischen Fortschrittspartei. Der 32-Jährige war aus der Partei ausgetreten, da sie ihm "zu moderat" schien. Im europäischen Vergleich ist die immigrationsfeindliche norwegische Fortschrittspartei weniger radikal als etwa Front National (FN), die FPÖ oder Vlaams Belang.

Doch Breiviks "Manifest" passt auch entgegen der Meinung einiger Beobachter nicht zur rechtspopulistischen Programmatik. Das speist sich aus vielen, auch terroristischen Versatzstücken, die er im Internet fand und verarbeitete. Insgesamt wünscht sich der Täter auf obskure Weise als Tempelritter das Mittelalter zurück und wendet sich stark gegen den vermeintlichen "Kulturmarxismus" in Europa nach 1945 und die vermeintliche "Massenimmigration durch Islamisten".

Obwohl Breivik im Manifest auf die Erfolge rechtspopulistischer Parteien und ihren Antiislamismus rekurriert, teilen sie nur einige Ideen, insbesondere den Antiislamismus. Wie der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders (Partei für die Freiheit) führt Breivik die apokalyptische "Eurabientheorie" (Islamisierung Europas) aus. Strittig bleibt aber, ob Breivik eher unter dem Blickwinkel eines isolierten, psychotischen Terroristen betrachtet werden sollte statt als Anhänger einer Bewegung, zu der er sich als typisches terroristisches Propagandainstrument stilisierte. Die meisten rechtspopulistischen Parteien Europas distanzierten sich nach Breiviks Massaker von dem "Werk eines aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachten Einzelnen", wie der FN erklärte. Sie wiesen all jene zurück, "die mit Terror, Angstmacherei, mit Gewalt und dem Aufruf zur Gewalt agieren" (Dänische Volkspartei), und betonten, dass der "Widerstand gegen die multikulturelle Idee keinem Aufruf zur Gewalt gleichkomme" (Geert Wilders). Skandalös hingegen war die Äußerung Mario Borghezios, Europa-Abgeordneter der italienischen Lega Nord, der das Pamphlet des Attentäters verteidigte: "100 Prozent der Ideen Breiviks sind richtig, manche sind sogar ausgezeichnet." Einen Tag später korrigierte sich Borghezio.

Generell lässt sich kein Zusammenhang zwischen der Stärke von rechtspopulistischen Parteien und der Anzahl rechtsextremistischer Gewalttaten nachweisen. In Deutschland etwa ist letztere hoch, wie auch die bekannt gewordenen rechtsterroristischen Strafakte mit Enthüllung offenbar skandalöser Pannen der deutschen Sicherheitsbehörden - wiederholt auch der Verfassungsschutzämter - beweisen, obgleich es keine nennenswerte rechtspopulistische Partei gibt.

Zerstörer der europäischen Einigung?

Trotz des fortschreitenden Integrationsprozesses ist die EU innerhalb der europäischen Bevölkerung nicht sehr populär. Blickt man auf die von der Europäischen Kommission veröffentlichten Umfragen im Rahmen des Eurobarometers, so fällt auf, dass quer durch Europa eine Mehrheit die EU für eine schlechte Idee hält. Die Krise der Eurozone verstärkt diese Furcht. Bei der jüngsten Parlamentswahl in Finnland im April 2011 wurde gegen die von der EU getragene Rettung Portugals mobilisiert, so dass die euroskeptische Partei Wahre Finnen fast aus dem Stand heraus auf knapp 20 Prozent der Stimmen kam. Die Partei stand im Wahlkampf dafür, Hilfszahlungen an die Schuldenländer zu blockieren und den Rettungspakt nachzuverhandeln.

Gefährden populistische Parteien den europäischen Einigungsprozess? Manche rechtspopulistischen Parteien verhalten sich gegenüber der EU ambivalent. Im Unterschied zu rechtsextremen Positionen lehnen Rechtspopulisten den europäischen Einigungsprozess jedoch nicht ab. Vorrangig kritisieren sie das "Wie", nicht das "Ob". Populisten, die längerfristig "überleben" wollen, werden allem Anschein nach nicht zum Boykott der EU aufrufen, sondern vielmehr "eine ökonomische und kulturelle Festung Europa" anpreisen und vermarkten.

Weite Beachtung hat wohl auch daher die phänomenologische Unterscheidung von "hartem" und "weichem" Euroskeptizismus gefunden, die Paul Taggart und Aleks Szczerbiak 2002 mit Blick auf die damaligen osteuropäischen EU-Beitrittskandidaten getroffen haben: Die "weiche" Form bedeutet die qualifizierte Ablehnung bestimmter Aspekte des Integrationsprojektes oder der EU in seiner gegenwärtigen institutionellen Form. Geläufig ist hier das Argument, nationale Interessen stünden dem supranationalen Vertragswerk entgegen. Die "harte" Form lehnt die "Idee Europa" hingegen in ihren Grundsätzen ab - und damit folgerichtig auch die Mitgliedschaft in beziehungsweise den Beitritt zur EU.

Rechtspopulisten sind in der Regel "weiche" Euroskeptiker. Rechtsextremisten hingen lehnen als "harte" Euroskeptiker die Idee eines gemeinsamen und zusammenwachsenden Europas aus fundamentalen Gründen ab. Der Integrationsprozess wird weiterhin von den Regierungen der Mitgliedstaaten getragen, so dass Euroskeptizismus wohl eher als ein Oppositionsinstrument in den nationalen Parteienwettbewerben genutzt werden wird.

Freilich gibt es auch hier Gegentendenzen, wie in Großbritannien zu beobachten ist. Euroskeptizismus ist im europäischen Parteienwettbewerb, auch bedingt durch den begrenzten Einfluss der europäischen Integration auf die nationalen Parteiensysteme, keine Mainstreamerscheinung. Für eine euroskeptische Parteienfamilie fehlt es trotz derartiger konjunktureller Gelegenheitsstrukturen dennoch an einem strukturellem Identitätskern, Vertrauen und Solidarität untereinander sowie einer programmatisch-strategischen Agenda, obwohl beträchtliche Teile in der europäischen Öffentlichkeit euroskeptisch eingestellt sind. Diese Teile können ihren Unmut aber lediglich indirekt, über die second order elections zum Europäischen Parlament und eine im Vertrag von Lissabon zementierte, aber in der Praxis diffizil umsetzbare Bürgerinitiative kundtun. Das heißt, eine populistische oder euroskeptische "Internationale" ist unwahrscheinlich.

Dem Problem des Rechtspopulismus wird im nationalen Rahmen zu begegnen sein. Euroskeptikern oder Eurorealisten kommt immerhin das Verdienst zu, Debatten über Legitimität, Effizienz, das "Wie" von Integration, Interdependenz zwischen den nationalen Regierungen und der EU sowie mehr Demokratie auf dem europäischem Level angestoßen und im Sinne des Actio-reactio-Prinzips und des agenda setting forciert zu haben. Auf den notgedrungen häufiger werdenden europäischen Krisengipfeln innerhalb der Kommission und in den anderen EU-Institutionen können sie ohnehin keinen Einfluss ausüben.

Gefahr für die repräsentative Demokratie?

Gemäß ihrem primär identitären Politikverständnis fordern populistische Parteien eine "Demokratisierung des politischen Systems" - ein abstraktes Postulat, das oberflächlich betrachtet als wenig angreifbar erscheint. Der Populismus setzt auf eine rationale Seite, die sich mit jeder Theorie über die Grundlagen der Demokratie in Einklang bringen lässt: Politische Entscheidungsträger müssen bei offenkundigem Fehlverhalten auch jenseits regulärer Wahlen über Volksbegehren und Volksentscheid ihres Amtes enthoben werden können. Die Sach- und Fachkompetenz, die notwendig ist, um Entscheidungen in Systemen mit immer komplexeren Zusammenhängen zu treffen, übergehen populistische Parteien.

Es gibt auch den an die Adresse des Populismus gerichteten Vorwurf, er höhle die Demokratie quasi "von innen" aus. In der Tat richtet er sich gegen langfristige administrative Entscheidungsprozesse, weshalb besonders Konsensdemokratien ins Visier genommen werden. Die Befürchtungen von einer Gefahr für die Demokratie haben sich aber bislang als haltlos erwiesen, ebenso die Ankündigungen eines "Neuaufbaus" der Demokratie, wie es etwa Jörg Haider in den 1990er Jahren mit den Worten von einer "Dritten Republik" tat.

Paul Taggart beispielsweise macht ein ambivalentes Verhältnis zwischen Populismus und repräsentativer Demokratie aus: Populistische Bewegungen würden repräsentative Politik als dysfunktional angreifen. Vor allem mutieren Ausmaß, Komplexität und Undurchschaubarkeit der repräsentativen Politik zu Zielscheiben populistischer Agitation. Populismus sei gleichsam ein Maß zur Messung der Gesundheit repräsentativer Systeme. Er wirkt als Negativreaktion gegenüber der Philosophie, den Institutionen und Praktiken repräsentativer Demokratie. Die Vorbehalte gegen das Repräsentativprinzip lassen sich dadurch plausibel machen, dass mit diesem die oftmals unspektakulär wirkende Notwendigkeit verbunden ist, Kontroversen und Kompromisse zu suchen.

Wenig Beachtung finden Populisten in der Debatte um Postdemokratie und die generelle Zukunft des repräsentativen Systems. Die von Populisten schon lange geforderten plebiszitären Elemente, mehr als Korrektiv gesehen, werden inzwischen breit diskutiert. Insgesamt sind die Demokratien in Zentral- und Osteuropa innerhalb der EU konsolidiert, sieht man von Rückschlägen und populistischen Aufwallungen wie etwa in Ungarn ab.

Gefahr für den demokratischen Diskurs?

Moderne Parteiendemokratien im zusammenwachsenden Europa sind durch ein hohes Maß an politischer Diplomatie und political correctness gekennzeichnet, ohne auf diesem Parkett unbedingt immer Resultate zu erzielen. Dazu gehört auch, heikle Punkte auszuklammern oder nicht an die Öffentlichkeit zu bringen beziehungsweise in Symbolpolitik lieber den Blick auf Erfolge und erzielte Errungenschaften zu lenken. Die zur Schau gestellte Rhetorik der populistischen Bewegungen stellt daher einen Affront gegen die vom "Konsens der Demokraten" getragenen guten politischen Sitten dar. Sie treten als "Störer eines Burgfriedens der Etablierten" auf, die sie durch stillschweigend beschlossene Übereinkünfte und Tabuisierungen zum schlecht gelittenen Eindringling machten. Die Populisten wollen nach eigener Diktion diesen Konsens aufbrechen; kalkulierte Entgleisungen verbaler Natur gehören deshalb zum Tagesgeschäft ihrer Agitation. Gezielt richtet sich der Blick gegen "Die-da-oben", die durch den Tabubruch herausgefordert werden sollen.

Populistische Politiker wollen mit dem "inszenierte(n) Gestus von mutigen Tabubrechern" das Image pflegen, dass sie ungeniert ihre Meinung sagen, die Dinge beim Namen nennen und nicht "um den heißen Brei herumreden". Sie zielen auf Themen, über die entweder gar nicht oder nur auf eine vermeintlich festgelegte Weise gesprochen werden kann. Der Populismus will Vorsichtigkeit und Zurückhaltung über Bord werfen, er verurteilt zaghaftes, diplomatisches Lavieren, nutzt die Strategie einer gezielten Regelverletzung, inszeniert sich als "aufklärerischer Kämpfer" gegen "irrationale Tabus". Die saloppe und abwertende Beschimpfung der politischen Gegner erfolgt zum Zwecke der negativen Fremddarstellung. Eine herabsetzende Wortwahl und die provokante Anrede von politischen Personen zählen zum Standardrepertoire.

Doch im Mittelpunkt steht weniger ein rüder Ton als vielmehr eine Rhetorik, die teils moderat, teils aggressiv wirkt. Mit Hilfe von gezielt eingesetzten Tabubrüchen ist der Populist in der Lage, der Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen, indem er Themen vorgibt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht - ohne seine Kompetenz in Sachfragen unter Beweis stellen zu müssen. Dem Agitator kann ein Bonus für seinen "Mut", seine "Frechheit" oder seine "Aufrichtigkeit" selbst bei denjenigen winken, die seine provozierenden Ansichten nicht unbedingt teilen. Der Populist füllt die zuweilen "ohnehin dürftige Substanz seiner Reden" mit "dem mit Spannung erwarteten Höhepunkt: die polemische Pointe, die generalisierte Verdächtigung, das Pauschalurteil über die korrumpierte Politik der 'Altparteien'".

Dabei greift er nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül Politikfelder auf, welche die traditionellen Volksparteien Europas aus nationalen oder internationalen Opportunitätsgründen zu meiden versuchen. Wie sich in konkordant strukturierten Systemen wie beispielsweise den Niederlanden, Österreich oder nun Finnland gezeigt hat, gelangen populistische Parteien und Bewegungen besonders dort zu Einfluss, wo man lange stolz gewesen ist, Probleme nicht auf dem Weg des Konflikts, sondern auf dem der Konsenssuche zu lösen: "In dem Maße, wie die etablierten Eliten in gemeinsame Verhandlungsstrategien eingebunden sind, nehmen sie Distanz zu politischen Themen, die jenseits des Konsensusbereichs ihres eigenen Handelns liegen. Gerade zu diesen nicht-thematisierten Politikfeldern zählen jedoch die (...) politischen Forderungen" der populistischen Formationen. Dazu gehört beispielsweise die Kriminalitätsrate unter islamistischen Immigranten in Westeuropa, die dann populistisch instrumentalisiert wird.

Im diskursiven Bereich liegen vielleicht die größten Gefahren des Populismus, gerade wenn es um Minderheiten oder Symbolpolitik geht. So sind die "Burkaverbote" in Frankreich, Belgien und wohl bald auch in anderen Ländern sicherlich eine Folge der Diskursverschiebung, die von den rechtspopulistischen Parteien forciert wurde.

Positivfunktionen?

Damit liegt ein Blick auf vermeintliche Positivfunktionen des Populismus nahe. Der große Wertekonflikt ergibt sich mit einem simplifizierten Kulturkampf, der in der Ablehnung von Migrantinnen und Migranten einhergeht. So firmiert der Islam nach dem 11. September 2001 als eine globale Bedrohung, wie sie besonders in den Niederlanden und Österreich im politischen Diskurs artikuliert wird. Die etablierten Parteien werden dadurch unter Druck gesetzt. Viele reagierten mit der Verschärfung der Immigrationspolitik.

Blickt man auf die Regierungsperformanz der populistischen Herausforderer, fällt die Wirkung eher bescheiden aus. Eine Gefahr ging von ihnen nicht aus. Gerade als Juniorpartner müssen sich die populistischen Parteien in der Regel zu einem moderaten Kurs verpflichten. Leichter fällt es ihnen, in der Opposition zu agieren oder als Unterstützer einer Minderheitsregierung wie in Skandinavien Distanz zur Regierungspolitik des Establishments walten zu lassen.

In den Niederlanden hat Geert Wilders eine ähnlich komfortable Position: Er hat sich durch ein "Duldungsabkommen" mit den Regierungsparteien großen Einfluss gesichert, trägt aber keine direkte Regierungsverantwortung, weil er die Minderheitsregierung nur "duldet". So hat er jederzeit die Möglichkeit, sich von der Regierung zu distanzieren und diese zu Fall zu bringen. Gerade in Österreich kommt es seit der Regierungsbeteiligung der FPÖ zu zahlreichen Skandalen durch negative Ausuferungen in der Proporzdemokratie, an denen sich freilich auch die Rechtspopulisten beteiligen. Einst hatten sie genau diese massiv angeprangert, was ihr den Zulauf bescherte.

Sicherlich kommen demokratische Parteien in der Mediendemokratie ohne gezielten Elektoratspopulismus nicht aus. Die Frage nach der Grenze zwischen demokratischer und demagogischer Mobilisierung wird immer umstritten bleiben. Gefährlich wird Populismus aber in diesem Kontext, wenn er direkte Demokratie undifferenziert als Allheilmittel propagiert. Kein Wunder, eröffnen Volksentscheide auch die Möglichkeit, latente Vorurteile demagogisch aufzuheizen und durch demokratischen Mehrheitsbeschluss scheinbar legitimieren zu lassen. Damit kann es leicht und unbemerkt zu einer Missachtung oder Unterdrückung abweichender Meinungen kommen.

So preisen populistische Bewegungen jeglicher Couleur die Schweiz als Vorbild direkter Demokratie, obwohl ein genauer Blick eine Vielzahl an Problemen wie etwa die geringe Beteiligung und den Schweizer Sonderfall einer Allparteienregierung als Referenz an ein konsensuales System enthüllt. Unter diesen Bedingungen mündet das zunächst naiv-progressiv, emanzipatorisch und demokratisch anmutende populistische Postulat in gefährliche Stimmungsmache - auch in der Schweiz selbst. So trug die Schweizerische Volkspartei (SVP) im November 2009 entscheidend dazu bei, den Bau von Minaretten per Verfassung verbieten zu lassen.

Bilanz

Das Entfachen des populistischen Feuers setzt dem politischen Gleichklang der etablierten Parteien ein Ende: "Populisten mögen (...) nicht selten über das Ziel hinausschießen, sie mögen auch (...) in vielen Punkten fragwürdige Positionen vertreten, dennoch kann ihnen eine kritische und aufklärende Funktion für das politische System zukommen, indem sie es zur inhaltlichen Reaktion und Auseinandersetzung, nicht selten auch zur Selbstkorrektur zwingen."

Das kann dazu führen, dass sich der politische Diskurs mitsamt den tradierten Gepflogenheiten verändern kann - sei es schleichend oder abrupt. So könnte der Populismus für die gesamte Parteiendemokratie mit ihren negativen Begleiterscheinungen wie dem Klientelismus einen gewissen "Reinigungseffekt" zur Folge haben.

Während also manche Stimmen wie der französische Soziologe Alain Touraine der Meinung sind, dass der Populismus die Demokratie gefährde, sind andere der Meinung, er balanciere lediglich auf dem Grat zwischen Erneuerung und Gefährdung derselben. Das bedeutet, dass die Probleme, für die sie Aufmerksamkeit fordern - ob man nun konkrete politische Forderungen rechtspopulistischer Gruppierungen oder ihre Kritik an der bestehenden Parteiendemokratie betrachtet -, ernst genommen werden müssen. Eine inhaltlich-politische Auseinandersetzung ist daher von zentraler Bedeutung.

Mehr und mehr wird der Rechtspopulismus in die Debatte um die Zukunft der europäischen Integration im weiteren und der Europäischen Union im engeren Sinne einbezogen. Offenkundig gibt es Konstruktionsfehler, wie die Schuldenkrise durch zahlreiche in Not geratene Länder in der Eurozone beweist. Nun müssen die europäischen wie nationalen Eliten den Bevölkerungen die komplizierte Misere vermitteln und Einsparungen zur Haushaltskonsolidierung durchsetzen. Die Abwahl zahlreicher Regierungen oder die vielerorts anzutreffende Intransparenz auf Regierungsebene haben, von Italien abgesehen, nichts mit den rechtspopulistischen Vertretern zu tun. In Belgien sorgt ein breiter Nationalitätenkonflikt dafür, dass nach den vorgezogenen Neuwahlen vom 13. Juni 2010 mehrfach Versuche einer Regierungsbildung gescheitert sind und erst im Dezember 2011 eine legitimierte Regierung gebildet werden konnte.

Daher sollte die Debatte um den Rechtspopulismus nicht davon ablenken, sich mit der Zukunft der repräsentativen Demokratie, dem Verhältnis zu den Finanzmärkten sowie neuen, für die junge Generation ansprechenden Partizipationsformen zu beschäftigen. Gerade aber diese Problemstellungen könnten das von Populisten forcierte exklusive Moment verstärken, etwa auch in den sozialen Medien. Das gilt insbesondere für Fragen der Migration, Immigration und Integration sowie kaum aufgearbeitete Vergangenheitsfragen oder ungelöste Nationalitäten- und Minderheitskonflikte in West-, Zentral- und Osteuropa.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Florian Hartleb, Konferenzberichte, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 42 (2011) 2, S. 466-469; Dominique Reynié, Populismes: la pente fatale, Paris 2011.

  2. Vgl. Cas Mudde/Cristobal Rivera Kaltwasser (eds.), Populism in Europe and the Americas, (i.E.); Frank Decker (Hrsg.), Populismus, Wiesbaden 2006; ders., Demokratischer Populismus und/oder populistische Demokratie?, in: Friso Wielenga/Florian Hartleb (Hrsg.), Populismus in der modernen Demokratie, Münster u.a. 2011, S. 39-54.

  3. Vgl. Florian Hartleb, After their establishment: Right-wing Populist Parties in Europe, Brüssel 2011.

  4. José Manuel Barroso, Erneuerung Europas, Rede zur Lage der Union 2011, 28.11.2011, online: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/607&format=HTML&aged=
    0&language=DE&guiLanguage=en (2.11.2011).

  5. Ingo Niebel, Neopopulismus oder Emanzipation?, in: APuZ, (2006) 51-52, S. 13.

  6. Vgl. Tim Bale/Stijn van Kessel/Paul Taggart, Thrown around with abandon?, in: Acta Politica, 46 (2011) 2, S. 111-131.

  7. Vgl. Pierre-André Taguieff, L'illusion populiste, Paris 2002, S. 46-67; Nikolaus Werz (Hrsg.), Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner, Frankfurt/M. 2010.

  8. Vgl. Ralf Dahrendorf, Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit. Europäische Revue, 25 (2003), S. 156.

  9. Vgl. John D. Hicks, The Populist Revolt, Westport 1931.

  10. Vgl. Matthew Goodwin, The Right Response, London 2011.

  11. Claus Leggewie, "Nationalpopulismus" - der neue Rechtsextremismus, in: Theo Schiller (Hrsg.), Parteien und Gesellschaft, Stuttgart u.a. 1992, S. 66.

  12. So meint etwa der Politikwissenschaftler Tim Spier: "Die politische Position des Anders Breivik ordnet sich ziemlich gut ein in die Positionen des europäischen Rechtspopulismus." Financial Times vom 26.7.2011.

  13. Tagesanzeiger vom 28.7.2011.

  14. Vgl. Webseite der Eurobarometer surveys: http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm (13.12. 2011).

  15. Vgl. Paul Taggart/Aleks Szczerbiak, Introduction: Opposing Europe?, in: dies. (eds.), Opposing Europe?, Oxford 2008, S. 1-15.

  16. Vgl. Florian Hartleb, A Thorn in the Side of European Elites, Brüssel 2011.

  17. Vgl. Cecile Leconte, Understanding Euroscepticism, Houndmills 2010.

  18. Vgl. Florian Hartleb, Populismus, in: Martin Hartmann/Claus Offe (Hrsg.), Politische Theorie und Philosophie, München 2011, S. 55.

  19. Vgl. Klaus von Beyme, Populismus und Rechtsextremismus in postmodernen Parteiensystemen, in: David Gehne/Tim Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, Wiesbaden 2010, S. 184f.

  20. Vgl. Paul Taggart, Populism, Buckingham, PA-Philadelphia 2000, S. 110-114.

  21. Vgl. Klaus von Beyme, Representative democracy and the populist temptation, in: Sonia Alonso et al. (eds.), The Future of Representative Democracy, Cambridge, UK 2011, S. 50-73.

  22. Vgl. Melani Barlai/Florian Hartleb, Ungarischer Populismus und Rechtsextremismus, in: Südosteuropa Mitteilungen, 48 (2008) 4, S. 34-51; dies., Rechtsextremismus als Posttransformationsphänomen - der Fall Ungarn, in: Totalitarismus und Demokratie, 7 (2010) 1, S. 83-104.

  23. Lars Rensmann, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, in: Claudia Cippitelli/Axel Schwanebeck (Hrsg.), Die neuen Verführer?, München 2004, S. 27f.

  24. Fritz Plasser, Die populistische Arena, in: Anton Pelinka (Hrsg.), Populismus in Österreich, Wien 1987, S. 101.

  25. Vgl. Zbigniew Wilkiewicz, Populismus in Polen, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus, Opladen 2003, S. 163.

  26. Ferdinand Müller-Rommel, Die Neuen von den Rändern her: Herausforderung der europäischen Parteiensysteme?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30 (1999), S. 432.

  27. Die populistische Logik Thilo Sarrazins funktioniert mit dem Mittel des gezielten Tabubruchs in der Integrationsdebatte, kombiniert mit einem exklusiv-diffamierenden Moment. Der sich elitär gebärdende Sarrazin macht sich aber gerade nicht, wie er es nach klassisch populistischer Diktion müsste, zum Sprecher des Durchschnittsbürgers, des "kleinen Mannes": Er argumentiert, dass Menschen, die vorwiegend körperliche Arbeit verrichten, gar nicht für geistige oder verwaltende Tätigkeiten geeignet seien. Vgl. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, München 2010, S. 55.

  28. Vgl. Koen Vossen, Vom konservativen Liberalen zum Nationalpopulisten: Die ideologische Entwicklung des Geert Wilders, in: F. Wielenga/F. Hartleb (Anm. 2), S. 77-104.

  29. Vgl. Florian Hartleb, Extremismus in Österreich, in: Eckhard Jesse/Tom Thieme (Hrsg.), Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 265-281.

  30. Vgl. Wolfgang Merkel, Volksabstimmungen: Illusion und Realität, in: APuZ, (2011) 44-45, S. 47-55.

  31. Vgl. Jörg Haider,Befreite Zukunft jenseits von links und rechts, Wien 1997, S. 100, S. 109.

  32. Hans-Jörg Hennecke, Das Salz in den Wunden der Konkordanz, in: N. Werz (Anm. 25), S. 161f.

  33. Vgl. Alain Touraine, Comment sortir du libéralisme?, Paris 1999, S. 60.

  34. Vgl. Jamie Bartlett et al., The rise of populism in Europe can be traced through online behaviour, London 2011.

Dr. phil., geb. 1979; Research Fellow beim Centre for European Studies, 20 rue du Commerce, 1000 Brüssel/Belgien. E-Mail Link: fh@thinkingeurope.eu