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Globale Gesundheitssicherung, nur wie? | Weltgesundheit | bpb.de

Weltgesundheit Editorial "Das Virus wird bei uns bleiben". Ein Gespräch über die Suche nach einem Impfstoff und den Verlauf der Covid-19-Pandemie Zur Geschichte der Schutzimpfung Variationen der Pandemiebekämpfung. Staatliche Handlungsstrategien gegen Covid-19 Gesundheit als Menschenrecht Globale Gesundheitspolitik zwischen Anspruch und Widersprüchlichkeiten Globale Gesundheitssicherung, nur wie? Kontroversen eines Politikfelds Deutschland als Akteur in der globalen Gesundheitspolitik

Globale Gesundheitssicherung, nur wie? Kontroversen eines Politikfelds

Tine Hanrieder

/ 13 Minuten zu lesen

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten steht die "globale Gesundheitssicherheit" weit oben auf der internationalen Agenda. Das Aufkommen neuer Infektionskrankheiten wie Aids in den 1980er Jahren, das Wiederaufflammen längst eingedämmt geglaubter Infektionskrankheiten, etwa Cholera in Lateinamerika Anfang der 1990er Jahre, und generell die Sorge vor hochgefährlichen Viren, die sich in der globalen Gesellschaft rasch verbreiten, haben national wie international zu Anstrengungen geführt, Pandemien vorzubeugen. Zu den Meilensteinen der globalen Gesundheitssicherheit zählen die erste Aids-bezogene Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Jahr 2000, die Ausweitung der Kompetenzen der Weltgesundheitsorganisation in Bezug auf Krisenwarnung und -koordination 2005 und die Gründung der Stiftung Coalition for Epidemic Preparedness Innovations 2016, einem Forschungsverbund zur Entwicklung von Pharmazeutika gegen neuartige Infektionskrankheiten.

Die aktuelle Covid-19-Krise zeigt nun auf drastische Weise, dass Staaten und Gesellschaften trotz solcher Anstrengungen weit davon entfernt sind, vor Pandemien gefeit zu sein. Die Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, aber auch in Industrieländern wie etwa Spanien oder den USA wurden durch die Pandemie massiv überlastet. Zugleich herrscht sowohl zwischen als auch innerhalb von Staaten keineswegs Einigkeit darüber, welche Priorität dem Infektionsschutz eingeräumt werden soll. Massive Freiheitseinschränkungen und historische Wirtschaftseinbrüche im Zuge der Eindämmungsmaßnahmen sind höchst umstritten. Covid-19 zeigt also nicht nur, dass es keine absolute Sicherheit im Bereich des Infektionsschutzes gibt, sondern auch dass Maßnahmen zur Gesundheitssicherung nie einhellig getroffen werden und stets konfliktbehaftet sind.

Vor diesem Hintergrund beleuchte ich im Folgenden drei wesentliche Kontroversen, die das Politikfeld der globalen Gesundheitssicherung historisch durchziehen und aller Voraussicht nach auch künftig prägen werden: erstens das Spannungsfeld zwischen Handelsrecht und Gesundheitsschutz; zweitens Prioritätenkonflikte zwischen problemspezifischen ("vertikalen") und strukturellen ("horizontalen") Gesundheitsmaßnahmen; sowie drittens die herrschende Uneinigkeit über die Ausgestaltung einer sogenannten universellen Krankenversicherung. Der Fortgang dieser Kontroversen wird wesentlich mitbestimmen, wie Gesundheit und im weiteren Sinne menschliche Entwicklung in Zukunft gedacht und politisch gestaltet wird.

Gesundheitsschutz und Handelsrecht

In der aktuellen Pandemie haben sich die Regierungen weltweit dazu entschlossen, Reise- und Handelsbeschränkungen in Kraft zu setzen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Sie ergriffen diese Maßnahmen trotz vielstimmiger Warnrufe – allen voran denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dies ist auf den ersten Blick verwunderlich: Sollte nicht die WHO als zentrale Gesundheitsinstanz der Vereinten Nationen die erste Organisation sein, die für den Vorrang des Infektionsschutzes vor Handels- oder auch Tourismusinteressen eintritt?

Ein Blick in die Geschichte zeigt freilich, dass die WHO sich hier durchaus treu geblieben ist. Sie ist seit ihrer Gründung 1948 für das Vertragswerk der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) zuständig, die aus den internationalen Sanitärkonferenzen des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind und seither in mehreren Runden weiterentwickelt wurden, zuletzt 2005. Ein Prinzip durchzieht dieses Regelwerk von Anbeginn: Grenzschließungen im Angesicht von Pandemien auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. So sollen Handelswege offenbleiben und Reisende vor überzogenen Zwangsmaßnahmen, beispielsweise Einreiseverboten oder Quarantänen, geschützt werden.

Staaten sind nach den IGV verpflichtet, Grenzschließungen zu vermeiden, die das von der WHO empfohlene Maß überschreiten, und sofern sie darüber hinaus gehen, müssen sie dies gegenüber der WHO rechtfertigen. Damit will die Organisation verhindern, dass Hilfslieferungen, Nahrungsmittel oder humanitäres Personal nicht an ihr Ziel gelangen – und so gegebenenfalls gesundheitsschädigender wirken als die vom Grenzverkehr ausgehende Infektionsgefahr.

Bereits in früheren Krisen haben sich Staaten jedoch in großer Zahl über entsprechende WHO-Empfehlungen hinweggesetzt, beispielsweise während der westafrikanischen Ebola-Krise 2014, als ein Viertel aller Staaten weltweit Handels- und Reisebeschränkungen verhängte. In noch größerem Umfang haben nun während der Covid-19-Krise Staaten zum Mittel der Grenzschließung gegriffen. Ob und in welchem Ausmaß dies tatsächlich hilft, Verbreitungswege zu unterbinden, und ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind, wird in Gesundheitsfachkreisen kontrovers diskutiert.

Klar ist, dass im gegenwärtigen Klima des Krisennationalismus die nationalstaatliche Grenze große politische Bedeutung erlangt. An der Staatsgrenze können Regierungen ihre Handlungsmacht inszenieren, gerade angesichts der vielen Ungewissheiten über den Fortgang der Pandemie. Dabei ist die Wirksamkeit dieser Maßnahmen weiterhin umstritten und harrt einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die zu erwartende Revision der IGV im Lichte der Pandemie sollte zu einer Stärkung der zwischenstaatlichen Abstimmung von Grenzpolitiken sowie zu starken Verfahren führen, mit denen Hilfs- und Lieferketten auch bei partiellen Grenzschließungen verlässlich aufrechterhalten werden können.

Ein weiteres Instrument der internationalen Handelspolitik wird derzeit ebenfalls sehr kontrovers diskutiert: Patentschutzregeln im Bereich der Arzneimittelproduktion. Seit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 gilt für alle Mitgliedsstaaten das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Agreement on Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS). Es verpflichtet Staaten, den Schutz intellektuellen Eigentums rechtlich abzusichern. Dies führt immer wieder dazu, dass patentgeschützte Arzneimittel oder auch patentgeschützte Schutzausrüstung für viele Staaten und Personengruppen unerschwinglich werden.

Zwar haben die Mitgliedsstaaten der WTO – auch auf Druck der WHO hin – 2001 und 2003 Zusatzerklärungen zum TRIPS-Abkommen abgegeben, die bekräftigen, dass Staaten in Gesundheitsnotlagen Patente aufheben und so die Produktion und den Import sogenannter Generika ermöglichen. Allerdings üben Staaten mit forschungsstarken Pharmaindustrien immer wieder Druck auf Staaten aus, mit denen sie Handelsabkommen abschließen, sodass diese nichtsdestotrotz dem Patentschutz Vorrang gewähren.

Auch die weltweite Suche nach einem sicheren und effektiven Impfstoff gegen Covid-19 ist von diesen Kontroversen überschattet. Beispielsweise hat das von der WHO initiierte Repositorium, das offene Lizenzen für Technologien gegen Covid-19 teilt, bislang nur wenig Unterstützung gefunden. Die Initiative, die ursprünglich von der Regierung Costa Ricas lanciert wurde, hat die WHO bereits am 1. Juni 2020 gestartet. Doch bis Oktober 2020 haben sich ihr nur 40 WHO-Mitgliedsstaaten angeschlossen. Länder mit starken Pharmaindustrien, wie etwa Deutschland, Großbritannien und die Schweiz, fehlen, ebenso Indien als wichtiger Produzent von Generika sowie die USA, deren Präsident im Juli 2020 formale Schritte zum Austritt aus der Organisation ankündigte.

Patente sind nicht der einzige, aber ein wichtiger Stolperstein beim Zugang zu Medikamenten, und damit auch bei der Gesundheitssicherung. Ihre Verteidiger_innen behaupten, dass nur durch die Garantie von Patentschutz genug Innovationsanreize gesetzt würden, damit Unternehmen sich auf den langen und aufwendigen Weg der Medikamentenentwicklung machen. Freilich gibt es auch längst sehr ausdifferenzierte Reformvorschläge von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die eine Entkoppelung von Patentsystem und Medikamentenentwicklung vorschlagen – auch aus dem Grund, dass lebenswichtige Medikamente wie Antibiotika mangels ökonomischer Anreize gar nicht erst entwickelt werden. Es sieht momentan jedoch nicht danach aus, als ob die Covid-19-Krise zu einem Umdenken zugunsten solcher Modelle führte.

Krankheitsbekämpfung oder Primärversorgung?

Pandemien lenken die Aufmerksamkeit auf akute Bedrohungen und die Mittel zu deren Bekämpfung, etwa Arzneimittel oder humanitäre Einsätze. Dabei gerät schnell in den Hintergrund, dass die Verwundbarkeit von Menschen gegenüber Infektionskrankheiten in hohem Maße von ihrer generellen sozialen Lage und der Funktionsfähigkeit ihrer Sozial- und Gesundheitssysteme abhängt. Die Frage, auf welchen der beiden Aspekte – Krankheitsbekämpfung oder Gesundheitssystemstärkung – sich die internationale Gesundheitssicherung fokussieren sollte, ist seit vielen Jahrzehnten heftig umstritten.

Auf der einen Seite argumentieren Anhänger_-innen einer breit angelegten Gesundheitspolitik, dass ein Erfolg gegen eine bestimmte Krankheit nicht reicht, um Gesundheit umfassend zu sichern. Sie richten sich damit insbesondere gegen die Vielzahl problem- und krankheitsspezifischer, auch "vertikal" genannter, Interventionen und Organisationen in der Weltgesundheitspolitik, die in vielen Empfängerländern zu einer schwer koordinierbaren Gemengelage unterschiedlicher Hilfsprogramme führen.

Verfechter_innen einer breit angelegten Gesundheitspolitik vermissen bei der Vielzahl der Programme das Gesamtkonzept. Sie verweisen darauf, dass krankheitsspezifische Maßnahmen, unter anderem Impfkampagnen, es häufig versäumen, mit ihrem Personal und ihren Technologien auch in das weitere Gesundheitssystem hineinzuwirken. Doch diese Infrastruktur wird benötigt, damit Menschen, die beispielsweise vor einer Krankheit bewahrt werden, nicht schlicht von der nächsten betroffen sind. Vertikale Kampagnen bräuchten, so der Minimalanspruch, eine horizontale Einbettung in das Gesundheitssystem eines Landes, damit die Primärversorgung gewährleistet wird.

Die Vorstellung davon, was Primärversorgung alles umfasst, kann allerdings auch deutlich weiter gehen. Dies illustriert die Verwendung des Begriffs "Primary Health Care", wie er von der WHO und UNICEF in den 1970er Jahren eingeführt wurde. "Primary Health Care" bedeutet hier, dass Aspekte wie soziale Gleichheit, gute Ernährung, gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gute Umweltbedingungen oder auch ökonomische Subsistenz integral zur Primärversorgung gehören – und nicht nur die Krankheitsbekämpfung. Denn Gesundheit wird nur in einem begrenzten Maße durch medizinische Versorgung bestimmt, wesentlich jedoch auch von tieferen strukturellen Faktoren.

Diese breitere Vision von Gesundheitspolitik hat ihren Ursprung in der Sozialmedizin des 19. Jahrhunderts, zu deren Vertretern unter anderem der Berliner Rudolf Virchow zählte. Sie lebt in WHO-Berichten wie dem zu den sozialen Determinanten von Gesundheit oder zur Aktualisierung der Primary-Health-Care-Agenda fort, aber auch und vor allem in globalen Aktivist_innennetzwerken wie dem People’s Health Movement und mit ihm dem Autor_innenkollektiven des Global Health Watch. Sie findet weiterhin Ausdruck in den Berichten prominenter internationaler Expert_innenkommissionen, etwa der The Lancet–University of Oslo Commission on Global Governance for Health. Auch das wachsende Bewusstsein für den Einfluss von Rassismus auf schlechte Gesundheit, insbesondere im US-amerikanischen Kontext, weitet die Vision von Gesundheitspolitik weit über den medizinischen Sektor hinaus aus. So betreiben gesundheitspolitische Netzwerke wie das Social Medicine Consortium und deren Campaign Against Racism – beide verwurzelt in den USA, aber mit transnationaler Reichweite – Gesundheitspolitik als antirassistischen Aktivismus.

Demgegenüber vertreten aber auch viele Akteur_innen der globalen Gesundheit die Ansicht, dass gezielte und krankheitsspezifische Interventionen im Zweifelsfall effektiver seien als der Versuch, ganze Gesellschaften oder auch Wirtschaftsverhältnisse zu verändern. Solche Veränderungen seien unwägbar, zeitintensiv und hochpolitisch. Der pragmatische Ausweg lautet aus dieser Perspektive, dass Gesundheitsvorsorge auf erreichbare Ziele mit vertretbarem Kostenaufwand setzen solle. Dazu zählen beispielsweise Impfkampagnen gegen verbreitete Infektionskrankheiten, die Verbreitung von Technologien, die auch bei fortbestehender Armut und Unterentwicklung gewisse Gesundheitsgewinne ermöglichen können, oder gar der Versuch, Krankheiten wie Pocken, Malaria oder Kinderlähmung gänzlich auszurotten.

Solche vertikalen Ansätze erfreuen sich in der globalen Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten großer Beliebtheit. Bereits Ende der 1970er Jahre wurden sie gezielt gegen die sozialreformerische Vision der Primary Health Care in Stellung gebracht – mit einem Gegenmodell der sogenannten selektiven Primärversorgung (Selective Primary Health Care). Das Credo dieser Bewegung: Statt vager Ideale von ganzheitlicher Primärversorgung sollten und sollen mit dem selektiven Ansatz konkrete, messbare Ziele erreicht werden. Im Zuge einer zunehmenden Quantifizierung von Gesundheitspolitik seit den 1990er Jahren hat der Fokus auf Messbarkeit noch zugenommen. Gesundheitsprojekte werben mit Zahlen und Indikatoren um Finanzen und politische Unterstützung, und tonangebende Instanzen der Weltgesundheit, allen voran die Bill und Melinda Gates Stiftung, setzen vehement auf datengestützte Ansätze, die bestenfalls mit technologischen Neuerungen einhergehen.

Der Gegensatz zwischen beiden Ansätzen ist zwar, das sei hier betont, kein absoluter. Forderungen nach politischer Gleichheit als Gesundheitsvoraussetzung schließen nicht aus, auch einen gleichen Zugang zu Medikamenten zu fordern. Alles andere wäre fatalistisch. Dennoch kommt es in der Gesundheitspolitik permanent zu Prioritätenkonflikten, die immer auch von Wertvorstellungen geprägt sind und durch technologiezentrierte Ansätze nur scheinbar entpolitisiert werden. Ist es beispielsweise ethisch vertretbar, wenn Projektionen für die Kosteneffektivität einer einfachen Diagnosetechnologie davon ausgehen, dass im Einsatzgebiet auf lange Sicht kein Zugang zu Elektrizität bestehen wird? Sollte nicht eher dieses Infrastrukturproblem zuerst angegangen werden? Und wer sollte an solchen Entscheidungen wie beteiligt werden?

Derlei Debatten werden nicht zuletzt im Bereich der Pandemievorsorge weiter eine wichtige Rolle spielen. So ist die Unterstützung wohlhabender Staaten beim Aufbau von Kapazitäten zur Pandemievorsorge in ärmeren Ländern stark von dem Wunsch geprägt, vor allem diejenigen Krankheiten zu kontrollieren, die sich weltweit verbreiten und auch für die reichen Länder zur Bedrohung werden können. Doch die internationale Pandemieabwehr ist nicht das einzige und längst nicht das vorrangige Problem vieler Länder, in denen beispielsweise Malaria oder andere Krankheiten endemisch sind oder die von einer fortlaufenden Abwanderung ihrer Gesundheitsfachkräfte betroffen sind. Ob überhaupt und wenn, für welche Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge in Zukunft Mittel mobilisiert werden, wird nicht zuletzt von den vorherrschenden Vorstellungen von Krankheitsbekämpfung und Primärversorgung abhängen.

Allgemeine Krankenversicherung versus Fragmentierung

Eine dritte Kontroverse im Bereich globale Gesundheitsvorsorge entspinnt sich aktuell um die Frage nach dem Versicherungsschutz, den Menschen weltweit im Bereich Gesundheit genießen sollten. Das Prinzip der universellen, alle Menschen finanziell abdeckenden Krankenversicherung oder Universal Health Coverage (UHC) ist seit der Jahrtausendwende zu einem Kernziel internationaler Gesundheits- und Entwicklungspolitik geworden. Internationale Organisationen wie die Weltbank und die WHO sowie bilaterale Entwicklungsagenturen wie die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit unterstützen Staaten bei der Erstellung von Versorgungskonzepten, mit denen alle Menschen in einem Land Zugang zu einem gewissen Grundpaket an Gesundheitsleistungen haben. Dabei soll vor allem vermieden werden, dass sie lebenswichtige Leistungen aus eigener Tasche bezahlen müssen und so im Krankheitsfall sich und die ganze Familie in Schulden und Armut stürzen. In den Entwicklungszielen der Vereinten Nationen ist UHC definiert als eine Absicherung, die Schutz vor finanziellen Risiken durch Krankheit sowie Zugang zu guten Gesundheitsdienstleistungen und effektiven und sicheren essenziellen Medikamenten einschließt.

Das Grundanliegen der UHC-Agenda – Absicherung und gute Versorgung für alle – wird im Politikfeld Weltgesundheit weithin geteilt. Doch darüber hinaus ist geradezu jeder Aspekt dieser Agenda hoch umstritten. Bedeutet der Fokus auf finanzielle Deckung (Universal Health Coverage) einiger Dienstleistungen nicht auch, dass die umfassende und gute Versorgung (Universal Health Care) noch längst nicht gesichert ist? Welche Rolle sollten dabei öffentliche und private Versorger spielen? Wie umfangreich und hochwertig sollte das Versorgungspaket sein, auf das ein allgemeiner Anspruch besteht? Die WHO bekräftigt, dass Gesundheitsleistungen von Vorsorge und Krankheitsbehandlung bis hin zu Rehabilitation und Palliativbehandlung reichen müssen. Doch in vielen Ländern sind große Bevölkerungsgruppen von vielen wichtigen Leistungen weiter faktisch ausgeschlossen.

Kritiker_innen der UHC-Agenda bemängeln, dass deren umfassender und solidarischer Anspruch durch die Ausgestaltung internationaler Hilfsprogramme und der von ihnen unterstützten Politikreformen in ärmeren Ländern nicht eingelöst werde. Aktuelle Strategien zur Erreichung von UHC setzten oft stark auf die Einbindung privater Versorger oder Kombinationen aus öffentlicher und privater Versicherung. Dadurch werden zum einen profitable gegenüber notwendigen Leistungen bevorzugt. Überdies sind häufig die öffentlich garantierten Leistungen nicht ausreichend, sodass der formale Versorgungsanspruch nicht eingelöst wird – etwa wenn in Ländern wie Mexiko viele Nierenkranken keinen Zugang zu Dialyse haben. Auch sind die Versicherungspakete, die sich verschiedene Gruppen leisten können, bezüglich des Leistungsumfangs oft sehr unterschiedlich. Dass Staaten wie beispielsweise der Senegal dennoch auf fragmentierte Finanzierungsmodelle setzen, in denen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Rechte und Pflichten haben, wird gerne mit dem Credo der persönlichen "Freiheit" gerechtfertigt. In der Realität nehmen sie mit diesem Vorgehen jedoch große Ungleichheiten in Kauf.

Fazit

Gesundheitssysteme weltweit standen schon vor der Covid-19-Pandemie vor massiven Finanzierungsproblemen – allen Absichtserklärungen zum Trotz. Zwar schien die Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika wie ein Weckruf zu wirken, ärmere Länder stärker beim Aufbau ihrer Gesundheitssysteme zu unterstützen. Doch bereits damals folgten nur sporadische und eher unkoordinierte Aktivitäten. Die aktuelle Wirtschaftskrise wird die Mittelknappheit noch verschärfen, sodass Prioritätenkonflikte programmiert sind. Wie die skizzierten Kontroversen um die richtige Gesundheitsvorsorge illustrieren, geht es hier nicht schlicht um die Frage, ob eher in Gesundheit oder in andere soziale Bereiche investiert werden soll. Vielmehr geht es auch um Grundvorstellungen darüber, wie Gesellschaften und ihre Wirtschaftssysteme zu organisieren sind. Der Fortgang um Debatten zu Gesundheitsvorsorge ist untrennbar verknüpft mit Debatten über Grundprinzipien der Sozialpolitik wie Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Gleichheit.

ist Assistant Professor für Gesundheit und internationale Entwicklung an der London School of Economics und leitet die Forschungsgruppe Globale humanitäre Medizin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. E-Mail Link: tine.hanrieder@wzb.eu