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Virtuelles Erinnern | bpb.de

Virtuelles Erinnern

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Liegt die Zukunft der Erinnerung in sozialen Netzwerken? Zur Frage des Gedenkens an den Holocaust beantwortet Stephanie Benzaquen Fragen zum Nutzen und Implikationen des Gedenkens via Twitter oder Instagram und zeigt auf, wo sie eine Zusammenarbeit zwischen etablierten Formen des Gedenkens und diesen neuen Formen sieht.

Zwei Besucherinnen in Berlin fotografieren sich mit einem sogenannten Selfie-Stick selbst vor dem Holocaust-Mahnmal. (© picture-alliance/dpa)

1. Liegt die Zukunft der Erinnerung in den Sozialen Medien?

Ich weiß nicht, ob die Zukunft der Erinnerung in den Sozialen Medien liegt, aber ich bin mir sicher, dass soziale/ digitale Medien - neben Gedenkstätten, Museen, Ausstellungen, Büchern und Filmen - eines der Hauptinstrumente sein werden, um die Erinnerung an den Holocaust in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu vermitteln, zu teilen und fortzuführen. Deswegen sehe ich auch keinen radikalen Bruch zwischen den Sozialen Medien und dervorangegangenen Vermittlung des Holocaust. Vorstellungen von Kontinuität, Annäherung und Hybridität beschreiben sicherlich treffender, wie die Sozialen Medien Teil dessen geworden sind, was als "visuelle Geschichte des Bezeugens des Holocaust" beschrieben werden kann. Beispielsweise gibt es Tumblr (Mikroblogs) über Auschwitz, welche Archivbilder, Ausschnitte aus Dokumentarfilmen, selbst geschossene Fotos der Blogger oder Fotos aus anderen Social Media wie Flickr, Timelines, Exzerpte wissenschaftlicher Arbeiten oder Memoiren sowie Kommentare enthalten. Das zeigt, wie wichtig es ist, die Interaktion zwischen sozialen Medien und früheren Vermittlungsmethoden und Formen der Repräsentation zu verstehen. Die Zukunft der Erinnerung liegt in dieser Interaktion und seinem Vermögen, gleichzeitig akkurate und kritische Informationen zu kommunizieren und Benutzer zu ermutigen, Empathie auszudrücken.

2. Tweets, Instagram-Selfies und Facebook-Posts vom Gedenkstättenbesuch – können die Social Media die Vorstellung von Auschwitz "lebendig" halten?

Soziale Medien halten die Wahrnehmung von Auschwitz auf mindestens zwei verschiedenen Wegen lebendig. Wenn eine Person einen Selfie von sich in Auschwitz macht, bewahrt sie für sich diesen Moment und den Effekt der überwältigenden Erfahrung des Besuchs des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Man wird vermutlich wieder und wieder auf dieses Foto zurückkommen und sich sagen: "So habe ich mich gefühlt". Ausserdem wird das Selfie - sobald es gepostet wurde und sich an andere richtet - zu einem Weg, zu sagen: "Ich war dort". Vor diesem Hintergrund haben soziale Medien eine zeugnishafte Dimension.

Stephanie Benzaquen-Gautier (© privat)

Sie erlauben dem Nutzer, selbst ein Glied in der langfristigen Traditionslinie der Weitergabe zu werden oder eines hinzuzufügen. Tatsächlich ist es das, wo die individuelle Dimension von Erinnerung in den Sozialen Medien mit der kollektiven Dimension des Gedenkens zusammenkommt. Tweets, Bilder auf Instagram, Fotos auf Flickr und YouTube-Videos formen zusammen ein "Archiv im Entstehungsprozess" von Auschwitz. Ist dort heute etwas passiert? Wie war das Wetter? Was machen Besucher, wenn sie in Auschwitz sind? Wie reagieren sie auf das was sie sehen? Verändern sich die Gebäude? Diese Fragen mögen für manche anekdotisch erscheinen. Aber die Möglichkeit zu haben, sie zu fragen und (teils) beantworten zu können - das zeigt, dass die Sozialen Medien von diesem Ort nicht nur ein tagtägliches Portrait beinahe in Echtzeit erzeugen; sie binden Auschwitz fest an unser alltägliches Leben."

3. Besteht dabei nicht die Gefahr, dass Geschichte so zu etwas Banalem wird und wir zu emotionslosen Rezipienten?

Klar, die sozialen Medien sollten auch nicht "glorifiziert" werden. Ohne Zweifel bringen sie auch verstörende Effekte mit sich. Auschwitz mit denselben Instagram-Farbfiltern, die auch für Fotos vom Essen genutzt werden, abgelichtet zu sehen, ist problematisch. Ein weiterer Punkt ist die massive Reproduktion von Bildern, das beliebte Fotografieren von Bildikonen des Holocaust (den "Kanon"), die Verwirrung zwischen historischen Bildern und Folgebildern. Die Tendenz geht dahin, einen "Repräsentationskreislauf" zu erzeugen, der unseren Blick, unsere Perzeption und wahrscheinlich sogar unser historisches Verständnis beeinflusst. Das führt zu Problemen der Funktionalitäten (die technologischen und kommerziellen Aspekte von sozialen Medien sollten nie übersehen werden) von Gebrauchsgütern und Kommodifizierung. Dies sind ernsthafte Herausforderungen. Wobei sie auch nicht neu sind. Vor 35 Jahren wurde die Mini-Serie "Holocaust" im Fernsehen gezeigt und löste hitzige Debatten aus.Ihre Dramatisierung, die Soap-ähnliche Form, wurde als unangemessen für ein Ereignis wie den Holocaust angesehen und stark kritisiert. Eine interessante Frage dazu könnte gewesen sein: "In welchem Ausmaß hat der Holocaust das Format der Soap Opera in Frage gestellt?" Diese Frage kann auch auf die sozialen Medien übertragen werden. In welchem Ausmaß fordert der Holocaust die Funktionen von sozialen/digitalen Medien, ihre Defizite und möglichen Effekte heraus? Ängst vor der Banalisierung des Holocaust, unsere Sorge davor, weniger und weniger emotional auf das Ereignis zu reagieren, sind tief verwurzelt - legitim im Diskurs über die Erinnerung an den Holocaust. Das sind Risiken, derer wir uns immer bewusst sein müssen. Nichtsdestotrotz ist die Frage interessant, wenn es um soziale Medien geht, wie stark diese Bedenken mit unserem Voranschreiten in eine ungewisse Zukunft zusammenhängen: Das bevorstehende Zeitalter der Nachfahren der Überlebenden und der Anbruch der "vierten Generation".