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Bild und Schrift | Themen | bpb.de

Bild und Schrift

Dr. Elmar Elling Elmar Elling

/ 12 Minuten zu lesen

Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Elmar Elling erklärt, wie aus Bildern Lautzeichen wurden und schließlich Schrift entstand.

Unter einer Schrift versteht man ein System visueller Zeichen, dessen Aufgabe es ist, gesprochene Sprache sichtbar zu machen. Das Erfinden derartiger Systeme dauerte ca. 30.000 Jahre, davor existierte Sprache ausschließlich in akustischer Form. Gesprochene Sprache wird den frühen Menschen natürlich erschienen sein, das Malen von Bildern ebenfalls. Geradezu absurd wäre es ihnen aber vermutlich vorgekommen, das Visuelle in den Dienst des Akustischen zu stellen, also Bilder zu malen, nur um mit ihnen Laute zu repräsentieren. Und dennoch steht am Anfang aller Schrift das Bild.

Beschwören und erzählen

Zu den ältesten Bildern der Menschheit gehören die Darstellungen in den eis- und steinzeitlichen Höhlen Spaniens und Frankreichs. Die meisten von ihnen dienten magischen Zwecken: Man malte etwa Mammuts in Gattern, weil man glaubte, auf diese Weise den Fang der wirklichen Mammuts beeinflussen zu können. Die Funktion der Bilder war also eine völlig andere als bei den Künstlern viel späterer Generationen, die ihrer individuellen Sichtweise und Empfindung Ausdruck verliehen und sich an ein Publikum wandten und mit ihm kommunizierten. Auch vor Jahrtausenden gab es Bilder, die eher eine Geschichte erzählten als etwas zu beschwören; allerdings waren sie selten. Zu ihnen zählt das Externer Link: Bild vom Bison in der Höhle von Lascaux: Das Tier ist schwer verletzt, sein Gedärm quillt aus dem Bauch, und vor Erregung oder Wut peitscht es mit dem Schweif. Der Jäger, dessen Speer das Tier vermutlich getroffen hat, liegt am Boden; sein Kopf ist dem des Totemvogels sehr ähnlich, der im Vordergrund steht.

Mit welcher Absicht auch immer es gemalt wurde, das Bild erzählt eine Geschichte. Und Geschichten bilden den Anfang der Schriftentwicklung, weil in ihnen die kommunikative Absicht die magische zumindest überwiegt, wenn nicht gar ersetzt. Es gibt mehr Beispiele für frühe Bildergeschichten, manchmal allerdings scheinen die Bilder eher eine bloße Gedächtnisstütze für den Erzähler zu sein (so z.B. indianische Externer Link: "Walam Olum").

Vorformen des Schreibens

La Pasiega

In der nordspanischen Höhle von La Pasiega wurden 1911 Zeichen entdeckt, die gemeinhin als die ältesten Zeugnisse schriftlicher Mitteilung in Europa angesehen werden. Niemand kann zuverlässig sagen, was sie bedeuten, aber es mangelt nicht an Interpretationen: In der schwarzen Scheibe wird oft der Vollmond gesehen oder die Angabe 'bei Vollmond'. Die Doppelgestalt darüber hält mancher für den Fußabdruck eines Menschen oder eines Bären oder für das Zeichen für 'gehen'. In der komplexen Gestalt links werden die Hütten von Geistern vermutet; für die Geister selbst stehen die drei senkrechten Striche, und das 'E' ist eine Art Abriegelung nach rechts, also ein Ausschluss oder Verbot (vgl. Földes-Papp: 32).

In der Höhle von Mas d´Azil wurden 1887 bemalte Kieselsteine gefunden. Einige sind besonders suggestiv, weil man gar nicht anders kann, als in ihnen Buchstaben zu sehen, also z.B. ein W oder ein FEI . Aber als diese Steine bearbeitet wurden, stand die Erfindung von Alphabeten noch in ferner Zukunft. Wahrscheinlich waren sie Teil animistischer Rituale.

Der Zwang zur Schriftlichkeit

Die Bewohner der Höhlen lebten in überschaubaren Gruppen, jagten und sammelten ihre Nahrung, gingen ihrem Ahnenkult nach und zogen irgendwann weiter. Bei einer solchen Lebensweise besteht keine Notwendigkeit, eine Schrift zu entwickeln, weil man nicht über größere räumliche oder zeitliche Distanzen kommunizieren muss.

Nach gängiger Auffassung entstand die Schrift vor etwas mehr als 5.000 Jahren im Nahen Osten, wo Menschen etwa 3.000 Jahre zuvor sesshaft geworden waren. Ihre Gesellschaft und ihr Wirtschaften waren so komplex, dass sie in unterschiedlichen Zusammenhängen Zeichen benötigten, mit denen sie einander auch über größere Distanzen informieren konnten.

Piktografische Schriftzeichen

Piktogramme oder Bildzeichen ähneln dem Objekt, das sie bezeichnen. Gleichzeitig sind sie nicht an die Wörter einer bestimmten Sprache (Stier, torro, bull etc.) gebunden, so dass ein Leser den Text eines Piktogramm-Schreibers verstehen kann, ohne dessen (mündliche) Sprache zu beherrschen. Ähnlich wie man eine Karte verstehen kann, ohne die Sprache des betreffenden Kartographen beherrschen zu müssen [int. Link Schneider; s.dort: Abb. 4: "int. Link Elling]. Mit Schaffung von Piktogrammen war ein erster und wichtiger Schritt auf dem Weg zur eigentlichen, der phonografischen Schrift getan.

Sumerische Piktogramme mit Bedeutungsangabe

Verglichen mit Bildergeschichten sind die Bedeutungen von Piktogrammen begrenzter und präziser, weil Piktogramme nicht Geschichten erzählen, sondern Gegenstände bezeichnen. Außerdem sind die Bedeutungen von Piktogrammen im Großen und Ganzen festgelegt; Bilder wie das vom Bison und seinem Jäger lassen sich hingegen unterschiedlich interpretieren und erzählen. In den ursprünglichen Schriften finden sich allerdings manchmal ausgesprochen bildhafte Zeichen, so dass man nicht glauben mag, dass sie auf die Funktion des Schriftzeichens begrenzt sind.

Der Vorteil piktografischer Schriften ist ihre unmittelbare Verständlichkeit. Einer ihrer Nachteile besteht darin, dass die tatsächliche Bedeutung vom Kontext abhängt. Die Zahlzeichen und Rinderköpfe auf einer sumerischen Tontafel sind deshalb mit "Ich liefere dir Rinder" angemessen übersetzt, weil die betreffende Tontafel als eine Art Frachtbrief benutzt wurde. In einem anderen Kontext könnten dieselben Zeichen besagen: Schlachte deine Rinder!

Der weitaus größte Nachteil von Piktogrammen besteht darin, nur Sichtbares wiedergeben zu können. Schon das Bezeichnen von Tätigkeiten (Verben) macht Probleme. Denkt man beim Anblick der Abbildung eines Fußes wirklich an 'gehen' oder 'stehen' oder doch nur an 'Fuß'? Noch schwieriger wird es bei der Darstellung so genannter Abstrakta: Arbeit, Treue, Leben, Mäßigung usw. Um Sachverhalte dieser Art mit Hilfe von Bildern ausdrücken zu können, musste sich ihre Beziehung zum Dargestellten verändern.

Ideografische Zeichen

Ideogrammatische Zeichen der Ägypter und Azteken

Neben Piktogrammen gibt es so genannte Ideogramme, Bilder, die per Assoziation mit dem verbunden sind, was sie bedeuten: Ein sitzender Mann etwa bedeutet nicht 'sitzender Mann', ein tränendes Auge nicht 'weinen' oder 'Tränen', ein Skarabäus nicht 'Skarabäus' usw. Die Bedeutung der entsprechenden Hieroglyphen ist jedenfalls 'edel' für den sitzenden Mann, 'Witwe' für das weinende Auge und 'Leben' für den Scarabäus. Diese Zeichen spiegeln Erfahrungen wider: Witwen weinen und edle Männer dürfen selbst bei solchen Gelegenheiten sitzen, bei denen andere zu stehen haben. Dabei verweisen Zeichen und Erfahrungen nicht eindeutig aufeinander: Weder wird der Tod eines Mannes ausschließlich von seiner Frau beweint, noch weinen einzig die Frauen, wenn der Mann stirbt. Wie kulturspezifisch die Assoziationen sein können, macht das Beispiel des Skarabäus oder Mistkäfers deutlich: Zum einen lautet sein ägyptischer Name 'cheprer', was dem Wort für 'werden', 'cheper', herausfordernd ähnlich ist. Zum andern glaubten die Ägypter, Mistkäfer würden ohne Fortpflanzung geboren, direkt aus der Erde, und sahen darin ein starkes Symbol für das Leben und Werden. Und schließlich wies auch die Dungkugel, die diese Käfer vor sich herzuschieben pflegen, in den Augen der Ägypter in Richtung derselben Bedeutung: Sie galt ihnen als Symbol der Sonne und folglich auch des Sonnengottes Re, von dem alles Leben kam.

Es gibt auch Ideogramme, die nicht einmal eine assoziative Beziehung zur gemeinten Sache aufweisen, sondern dieser völlig willkürlich zugeordnet sind oder zu sein scheinen. Während sich Piktogramme ohne Kenntnis einer bestimmten Sprache verstehen lassen, setzen Ideogramme eben diese Kenntnisse voraus, da sie für Wörter stehen. Mit Blick auf das Verhältnis von Bild zu Schrift lässt sich feststellen: Ideogramme stehen der Sprache näher und sind damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zur phonografischen Schrift.

Moderne Piktogramme

So umständlich und archaisch wie sie nun erscheinen mögen, sind Bildzeichen nicht prinzipiell. Es wäre jedenfalls ein Irrtum, sie als Erscheinungen überlebter Kulturen anzusehen. Gerade unsere Gegenwart liefert eine Fülle von Beispielen sehr effizienter Verwendung von Bildzeichen, von denen hier einige wenige aufgegriffen werden. Allerdings sind sie ebenso wie die meisten anderen kein integrierter Bestandteil einer Schrift.

Einige Emoticons

So genannte Emoticons kamen beim Chatten auf, wurden von Simsern, ursprünglich wegen der Limitierung von Zeichen in SMS-Nachrichten, übernommen und haben sich von dort aus verbreitet; dank technischer Weiterentwicklung gibt es mittlerweile auch grafische Varianten. Wie die Bildzeichen früherer Schriften sind viele ihrem Objekt ähnlich. Eine 3 für die Hörner einer Kuh mag als eher unähnliche Wiedergabe angesehen werden, ist aber bei der gegebenen Auswahl optimal. Und dass der Kuhkopf als solcher nur erkannt werden kann, wenn man ihn um 90 Grad nach rechts dreht, liegt am Schreibprogramm und seinem Zwang zur Linearität. Aber schon früher nahmen Material und Schreibgerät Einfluss auf die Gestaltung einer Schrift.

Bildzeichen werden vor allem an Orten internationaler Begegnung benutzt, wo Informationen auf sprachlicher Basis zeitraubend und aufwändig wären. Jeder kennt die Zeichen für Abfall, Trinkwasser, Post und andere Servicestellen und Angebote von Flughäfen, Bahnhöfen und aus großen Sportarenen.

Das Problem des Eigennamens

Die Verwendung von Bildzeichen brachte die Möglichkeit des Schreibens früh an eine Grenze. Eines der Probleme, die sich bald auftaten, lag in der Bilderschrift selbst begründet.

Jede Sprache verfügt über eine Vielzahl von Zeichen, die eine Bedeutung haben: 'Haus', 'Wahrheit', 'Enkelkind' usw. Wird nun etwas z.B. 'Haus' genannt, so ist jedem, der Deutsch versteht, klar, dass es um ein Objekt mit bestimmten Merkmalen der Gestalt, Funktion, Größe usw. geht. Und in der Regel gilt diese Bezeichnung als korrekt verwendet, wenn das betreffende Objekt zumindest einige der wesentlichen Eigenschaften aufweist. Es gibt allerdings auch Zeichen, die im hier gemeinten Sinne keine Bedeutung haben, wie z.B. Flektionspartikel und Eigennamen. Die sprachliche Funktion von Eigennamen besteht einzig darin, jemanden (oder etwas) identifizieren zu können. Damit ist nicht bestritten, dass Namen eine Geschichte haben, die Beziehung zwischen einem Namen und seinem Träger beruht allerdings nicht auf bestimmten Merkmalen des Trägers. Kein neu geborener Junge muss, von seinem Geschlecht abgesehen, bestimmte Eigenschaften aufweisen, um z. B. Jan genannt werden zu können.

Auch in den alten Sprachen wurden Eigennamen zur Identifizierung gebraucht. Einer Bilderschrift bereitet ihre Verschriftlichung jedoch Probleme, weil Bildzeichen auf der Ähnlichkeit zu ihrem Objekt beruhen. Dieses Grundprinzip verlangt nun, Eigenschaften zu finden, die z.B. ausschließlich allen Jans, ausschließlich allen Lauras etc. anhaften, denn andernfalls lässt sich kein Namenszeichen entwickeln. Damit steht das Grundprinzip der Bilderschrift im Widerspruch zur Funktion von Eigennamen, ein Problem, das sich nur lösen ließ, indem man das Prinzip der bedeutungstragenden Bildzeichen aufgab. Dieser Schritt wurde mit Hilfe des Rebus vollzogen.

Das Prinzip Rebus

Der Rebus ist ein Spiel mit visuellen und akustischen Zeichen, ein Rätsel, das gesprochene Sprache sichtbar macht, indem es sie durch Bilder ersetzt. Ausgangspunkt ist meistens ein Wort, das man in solche Elemente aufteilt, die sich bebildern lassen.

Beim Lesen eines Rebus werden die Bilder in Wörter zurückübersetzt. Dabei ist aber die Bedeutung der Bilder nur wichtig, um das gemeinte Wort finden zu können. Aus der Kombination aller richtigen Teillösungen entsteht schließlich das tatsächlich gesuchte Wort. Nach diesem Verfahren kann man eine Hand und einen Schuh kombinieren, um den Leser auf das gemeinte Wort zu stoßen – ein einfacher Fall.

Im folgenden Beispiel ist die gemeinte Lösung schon schwieriger zu finden. Von den Bedeutungen der Bilder ausgehend, ergäbe sich vielleicht 'reicher Mann' [Abb. 7, Mangold], tatsächlich ist jedoch die Kombination aus Mann und Gold gemeint, also die Bezeichnung für die Gemüsesorte 'Mangold'. Der Rechtschreibfehler, der sich dabei einstellt, ist ohne Belang, weil es beim Rebus nur um Lautgestalten geht – und der Laut für 'Mann' und 'man' ist derselbe. Freilich könnte man auch zu der Lösung 'Porträtbarren' kommen, was aber nur ein denkbares und kein wirkliches Wort der deutschen Sprache ist.

Streng genommen sind Rebusse keine Piktogramme, eher Ideogramme, da sie sprachgebunden sind: Das französische Wort für 'Mangold' ist 'bette', wohin keine noch so kreative Interpretation der Bilder von Mann und Gold geführt hätte.

Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, dass etwas so Unbedeutendes wie der Rebus, der doch nur ein Spiel ist, und nicht einmal ein sonderlich beachtetes, vor Zeiten ein wichtiges Scharnier in der Kulturgeschichte der Menschheit darstellte, indem er die Entwicklung der Schrift von der piktografischen zur phonografischen Orientierung verschob.

Die Narmerpalette

Vorderseite der Narmerpalette, gefunden im Horustempel von Hierakonpolis (um 3000 v. Chr.)

Die Narmerpalette, benannt nach König Narmer, wurde 1897/98 vom britischen Archäologen Quibell entdeckt, und zwar im Horustempel in Hierakonpolis, der Hauptstadt des vordynastischen südlichen Ägyptens. Heute befindet sie sich im Ägyptischen Museum in Kairo. Sie ist aus Schiefer, 65 cm hoch, etwa 5.200 Jahre alt und, was hier weitaus interessanter ist: Sie stammt aus einer Zeit, als die Hieroglyphenschrift im Entstehen begriffen war. Auf Paletten dieser Art stellte man Schminken für rituelle Zwecke her. Darüber hinaus waren sie als Votivgaben sehr beliebt. Die Narmerpalette soll anlässlich der Vereinigung von Ober- und Unterägypten gestiftet worden sein.

Auf Vorder- und Rückseite der Palette befinden sich sowohl links als auch rechts menschengesichtige Rinderköpfe, Zeichen für Hathor, Göttin der Freude, Liebe und Fruchtbarkeit. Dazwischen ein so genanntes Serech, ein Königszeichen, dessen obligatorischer Teil schon bei dieser frühen Form in einer stilisierten Palastfassade bestand. Sie zeigt an, dass es auf der Palette um einen König geht, nicht jedoch, um welchen. Die namentliche Individualisierung erfolgt durch den quer liegenden Wels und den darunter stehenden Meißel. Zusammen repräsentieren sie nach Rebusart den Namen Narmer und sind eine der frühesten phonetischen Repräsentationen überhaupt. Narmer ist in seine beiden Silben aufgeteilt, von denen 'nar' sowohl Fisch als auch Wels bedeutet, und 'mr' oder 'mer' soviel wie Meißel oder, in einer anderen Bedeutung, schlimm.

Rückseite der Narmerpalette, gefunden im Horustempel von Hierakonpolis (um 3000 v. Chr.)

Auf der Rückseite der Palette hockt ein Falke auf einer Lotusblüte. Er symbolisiert Horus, den Gott Oberägyptens; jede der sechs Lotusblüten steht für die Zahl 1.000. Die Blüten wachsen aus einem Viereck hervor, dem Zeichen für Land. Hier ist das Land personifiziert durch den Kopf, den Horus an einem Strick hält. Das Wort für Strick ist gleichlautend mit dem für nehmen, so dass man das Gesamtbild folgendermaßen lesen kann: "Der König von Oberägypten nimmt 6.000 Gefangene des Landes Unterägypten".

Unterhalb des Bildes sind eine Harpune und ein Viereck mit Wellen zu erkennen. Dies kann als Bestätigung für die Bedeutung der soeben beschriebenen Bildergruppe gelesen werden: Harpune (wa) ist gleichlautend mit dem altägyptischen Wort für Unterägypten; das zweite Zeichen, lesbar als 'Land am See', würde dann nur sicherstellen, dass mit der Harpune wirklich Unterägypten gemeint ist und nicht das, was man sieht: eine Harpune. Die ganze Zuordnung ist aber keineswegs gewiss, vielleicht müsste man die Zeichen ganz anders lesen.

Auf der Frontseite der Palette sind weitere Schriftzeichen zu erkennen. Vor Narmer, der in der obersten Zeile, geschmückt mit der Krone Unterägyptens, in einer Prozession schreitet, finden sich erneut Wels und Meißel. Hinter ihm schreitet ein Mann mit Topf und Sandalen – 'Sandalenträger des Königs' war ein offizieller Titel. Vor ihm schreitet die Königin, möglicherweise auch der Wesir, davor einige Standartenträger. Weiter rechts sind zehn Gefangene zu erkennen, die Arme gefesselt, die Köpfe abgeschlagen und zwischen die Beine gelegt. Über ihnen erkennt man ein Tor mit einer Schwalbe, Das Wort für Schwalbe, 'wr', ist gleichlautend mit dem für 'groß', so dass diese Hieroglyphe 'großes Tor' bedeutet. Daneben sieht man eine Harpune und einen Falken über einem Schiff. Die Gesamtbedeutung ist: Großes Tor des Horus, des Harpunierers.

Hier konnten nur wenige der Schriftzeichen auf dieser Palette beschrieben werden. Die meisten haben mit dem König zu tun, nennen seinen Namen oder machen zusätzliche Angaben. Das wesentliche Ereignis, die Eroberung Unterägyptens, die Gefangennahme seiner Soldaten, deren Enthauptung u.a.m. wird in Bildern mitgeteilt.

Die Zähigkeit des Piktografischen

Chinesische und sumerische Piktogramme

Die Entdeckung des phonetischen Prinzips führte im Laufe der Zeit zum Wandel der betreffenden Schriften; am Ende der gesamten Entwicklung standen Silbenschriften und Alphabete. Es änderte sich nicht nur die Funktion der Schriftzeichen, indem sie für Laute und nicht länger für Inhalte standen, sondern auch ihre Gestalt. Zeichen nämlich, die Bedeutungen nicht piktografisch übermitteln, müssen, ja können auch keine Ähnlichkeit mit den Sachverhalten besitzen, für die sie stehen. Für diese Entwicklung zu einfacheren, willkürlichen Schriftzeichen gibt es etliche Beispiele

So bemerkenswert wie der Rückgang des Piktografischen ist auch das Festhalten daran. Manchmal geschah dies sogar gegen die Widerstände eines Schreibgeräts. Die Schreibkeile der Sumerer waren völlig ungeeignet, um runde Linien zu formen, dennoch hat es lange Zeit gedauert, bis sich die Schriftzeichen der Schreibtechnik anpassten und sich das Piktografische verlor. Eine Schrift aber blieb über die ca. dreitausend Jahre ihres Gebrauchs praktisch unverändert: Die Hieroglyphen der Ägypter. Zum Teil sind diese Hieroglyphen Piktogramme, zum Teil phonetische Zeichen, und manch eine Hieroglyphe kann beide Funktionen einnehmen. Um der darin angelegten Verwirrung zu entgehen, wurden spezielle Zeichen eingeführt – im einfachsten Fall handelte es sich um einen kurzen senkrechten Strich – die klarmachten, ob die Sache gemeint war oder der Laut. – Der erste Blick suggeriert stets, es seien Bilder, Zeichen für Inhalte. Und bei der Entschlüsselung der Hieroglyphen dauerte es recht lange, bis man sich von dieser Annahme gelöst hatte.

Fussnoten

Dr. Elmar Elling, Jg. 1952, Linguist und Medienwissenschaftler, ist freiberuflich tätig als Autor und Redakteur sowie als Sprachlehrer.