Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wie die Flüchtlingskrise Europa entzweit | bpb.de

Wie die Flüchtlingskrise Europa entzweit Analyse von Hans-Jörg Schmidt, euro|topics-Korrespondent in Prag

Hans-Jörg Schmidt

/ 6 Minuten zu lesen

Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei wehren sich weiter gegen die Flüchtlingsquote. Auf dem EU-Gipfel in Bratislava schlagen sie das Modell der "flexiblen Solidarität" vor. Verstehen sich der Westen und der Osten Europas nicht mehr?

Ungarns Premier Viktor Orbán (© picture-alliance)

Ungarns Premier Orbán hat seine Bürger über die EU-Flüchtlingsquote abstimmen lassen. Vorher hatte er mit rhetorischen Mitteln gegen Flüchtlinge Stimmung gemacht, er sagte unter anderem, dass Migration ein Gift darstelle und dass von den Ankommenden Terrorgefahr ausgehe. Das Referendum ist zwar ungültig, weil die Beteiligung zu niedrig war, da aber 98 Prozent im Sinne der Regierung abstimmten, versuchte Orbán es in einen Erfolg umzudeuten.

Auch in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten wird gegen Flüchtlinge polemisiert. Auch Polen, Tschechien und die Slowakei schotten sich ab und werden dafür im Rest Europas harsch kritisiert. Doch das könnte sich jetzt ändern.

Auf dem EU-Gipfel Mitte September in Bratislava, dem ersten nach der Brexit-Entscheidung, wäre das heikle Thema Migration beinahe völlig vergessen worden. Wenn da nicht die V4-Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn mit einer eigenen Erklärung aufgetreten wären. Sie plädierten darin für eine "flexible Solidarität" in der Migrationsfrage. Demnach sollen die EU-Mitglieder selbst entscheiden, welchen Beitrag sie leisten. Jeder Mechanismus zur Verteilung von Flüchtlingen solle auf Freiwilligkeit beruhen.

So wenig die Regierungschefs der Visegrád-Staaten das Konzept in seinen Details erläutern, so hoffnungsvoll ist die in Bratislava erscheinende Tageszeitung Pravda, dass es funktionieren könnte: "Nun ist mehr Geld für die Bewältigung der Migrationskrise und für den Schutz der Grenzen da. ... Die Slowakei muss konkret auf 69 Millionen Euro verzichten. Aber es wäre ihr nicht eingefallen, den Vorschlag zu blockieren. Genau darum geht es bei der 'flexiblen Solidarität'."

Böse gesprochen könnte man meinen, dass die V4 sich von der Solidarität mit Geflüchteten freikaufen wollen – andererseits nehmen sie damit aber auch einen Vorschlag der EU-Kommission aus dem Frühjahr auf: Demnach sollten Flüchtlinge nach einem Schlüssel auf die EU-Mitglieder verteilt werden und diejenigen Länder, die sich nicht daran beteiligen wollen, einen "Solidarbeitrag" von 250.000 Euro pro Person an den Mitgliedstaat zahlen, der stattdessen einen Asylbewerber aufnimmt. Damals empörten sich die Visegrád-Staaten freilich über diese "Strafzahlungen".

Kritische Stimmen aus dem In- und Ausland

Mit ihrem jetzigen Vorschlag könnten die V4 raus aus der Schmuddelecke wollen, in die sie sich durch ihre flüchtlingsfeindliche Rhetorik selbst manövriert hatten, in die sie aber auch vom Rest Europas gestellt wurden. Im Februar 2016 etwa warnte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn davor, in der Flüchtlingskrise zu einem "Verein der Abtrünnigen" zu werden. Kurz vor dem Gipfel in Bratislava hatte Asselborn gegenüber der Tageszeitung Die Welt dann sogar den Ausschluss Ungarns aus der EU gefordert. Ungarns Sozialminister Zoltán Balog, konterte: Es sei gefährlich, dass "sich in Europa immer noch solche Politiker durchsetzen, die weder die Realität kennen noch ein funktionierendes Rezept zur Lösung der Probleme haben aber dafür aggressiv nach Sündenböcken suchen".

Kritik an der bisherigen Haltung der V4 kam aber vor dem Gipfel in Bratislava auch aus den eigenen Reihen. Hospodářské noviny aus Prag meinte etwa: "Zum Populismus in der Migrationsfrage neigt auch Tschechien. Im Parlament ist schon mehrfach ernsthaft darüber diskutiert worden, wie man Zäune und Barrikaden an der Grenze errichtet und wie man die Armee ausstatten muss, damit sie besser gegen Migranten eingreifen kann. Soweit muss es nicht kommen, zumal Migranten unser Land meiden. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch vom Orbánismus infiziert sind."

Auch nachdem der Vorschlag der "flexiblen Solidarität" in der Welt war änderte sich die Tonlage der westeuropäischen Medien zunächst nicht. Ohne auch nur inhaltlich über die Idee der Visegrád-Staaten zu berichten, winkte die Süddeutsche Zeitung sofort ab: "Worte sind das, die nicht klingen, als gäbe es wirklich etwas Neues in der EU." Auch De Telegraaf aus Amsterdam monierte sogleich: "Solidarität, wann immer es ihnen passt. Das sieht man an ihrer Weigerung, eine feste Quote für die Verteilung von Flüchtlingen mitzutragen." Und die belgische Tageszeitung Le Soir kritisierte: "Je mehr in den Reden die Grundwerte der Union angerufen werden, desto stärker fehlen sie in den politischen Maßnahmen. ... Solidarität ist nicht mehr der Zement Europas, es muss sich jedoch noch herausstellen, wodurch sie ersetzt wird."

Die zitierten Kommentare unterscheiden sich kaum von jenen, die seit dem vergangenen Jahr immer wieder über die Mittel- und Osteuropäer geschrieben wurden. Rzeczpospolita aus Warschau konstatierte denn auch frustriert: "Westeuropa verteidigt sich schon seit Langem gegen die 'Rückständigkeit' seiner östlichen Nachbarn. Indem es einen politischen Kulturkampf führt, blockiert es den realen Einfluss des Ostens auf die Entscheidungsprozesse. Die Konzentration der Macht innerhalb der EU ist die wesentliche Ursache für die gegenwärtige Krise."

Das Problem, das in Westeuropa stillschweigend übergangen wurde: Auch westeuropäische oder südeuropäische Länder bauen Zäune und Mauern. Sie stimmten zwar einer Verteilung von Migranten nach festen Quoten zu, scherten sich in der Realität aber nicht um diese von ihnen mitgetragenen Beschlüsse.

Abschottungspolitik oder Wille zur Lösung?

Im Kern teilen die V4 die Haltung, die der tschechische Premier Bohuslav Sobotka im September 2016, wenige Tage vor dem Gipfel in Bratislava, im Prager Unterhaus so formulierte: "Tschechien lehnt seit Langem verbindliche Quoten für die Verteilung von Migranten ab und verlangt stattdessen eine strenge Kontrolle der EU-Außengrenzen. Bei der Lösung der Migrationskrise darf man nicht die Sicherheitsaspekte und die Probleme bei der Integration von Menschen aus einem anderen kulturellen und religiösen Kreis unterschätzen. ... Wir haben in Tschechien keine starke muslimische Minderheit. Wir wollen aber auch nicht, dass sich eine solche starke Minderheit hier bildet."

Auch Ungarns Premier Viktor Orbán versteht es, seine Migrationspolitik als Schutz der eigenen Bevölkerung darzustellen. Bei den konservativen ungarischen Medien kam das Referendum gegen die Flüchtlingsverteilung gut an: "Alle kritisierten Orbán, er sei kein Europäer, kein Christ und natürlich auch kein Liberaler. ... Doch hat Merkel die Deutschen, Faymann die Österreicher oder Hollande die Franzosen befragt, ob sie muslimische Flüchtlinge aufnehmen wollen? Nein! … Somit ist ihre Flüchtlingspolitik nicht legitimiert", kommentierte etwa die Wochenzeitung Demokrata.

Bei der Kritik aus dem Westen Europas an der Haltung der V4 wird übersehen, dass es bei der Umsetzung der Quotenregelung ein praktisches Problem gibt: fast kein Migrant möchte um Asyl in diesen Ländern bitten. Die Sehnsuchtsorte heißen Deutschland, Österreich oder Schweden. Tschechien verweist in diesem Zusammenhang auf ein gescheitertes Vorzeigeprojekt: Da waren ausgewählte Christen aus dem Irak ins Land geholt worden, die anfangs auch Asyl beantragten, dann aber heimlich einen Bus charterten und sich auf den Weg nach Deutschland machten. Andere von ihnen zogen es vor, lieber wieder in die unsichere Heimat zurückzukehren. Außerdem haben die Visegrád-Staaten - anders als die Westeuropas - in den vergangenen Jahren zunehmend Flüchtlinge aus der vom Bürgerkrieg gebeutelten Ukraine aufgenommen. Ukrainer werden in diesen Ländern viel leichter akzeptiert.

Freilich schotteten sich die V4 nicht nur verbal, sondern auch tatsächlich massiv gegen Geflüchtete ab, die dann einen Bogen um diese Länder machten. Beispiel Tschechien: Wer dort aufgegriffen wurde, lief Gefahr, in ein Internierungslager zu kommen. Sechs Wochen musste ein Geflüchteter dort zubringen, ohne Handy, ohne Bargeld, mit schlechtem Essen, ohne Dolmetscher, mitunter selbst ohne anwaltlichen Beistand. Wer kein Asyl beantragte, wurde danach dahin zurückgeschickt, wo er hergekommen war. Denen, die nicht abgeschoben werden konnten, zeigte man, wo und wann der nächste Zug nach Deutschland ging. Als sich einige der Geflüchteten über den Umgang mit ihnen beklagten, rief ihnen Präsident Miloš Zeman in einem Interview zu: "Haut ab, wenn es euch hier nicht passt! Niemand hat Euch hergebeten."

Man darf gespannt sein, ob der Vorschlag der "flexiblen Solidarität" aufgegriffen wird. Angela Merkel jedenfalls vermochte in der Initiative der V4 einen "positiven Ansatz" zu erkennen, nämlich "den Willen, eine Lösung zu suchen". Da Mehrheitsbeschlüsse (etwa der über die Quoten) auf Widerstand gestoßen seien, müsse man sehen, "ob wir auf anderem Wege vorankommen". Der Deutschlandfunk kommentiert dazu: "Wer die Visegrád-Länder in der Flüchtlingspolitik wieder integrieren will, braucht ein Konzept, das zwei wichtige Elemente haben muss: Es darf nicht Quote heißen und es muss auf dem Prinzip freiwilliger Zusagen beruhen. Das würde am Ende dazu führen, dass die vier Länder wesentlich weniger Flüchtlinge aufnehmen, als von ihnen bisher verlangt wird. Aber besser weniger Flüchtlinge als gar keine."

Dipl.-Journalist, geb. 1953; Korrespondent in Prag; Tigridova 11, 140 00 Praha 4/ Tschechien. E-Mail Link: schmidt.prag@gmail.com